Gewalttat Im nordrhein-westfälischen Freudenberg töten zwei Mädchen ein anderes Mädchen. Doch statt über die Ursachen kindlicher Gewalt zu sprechen, geht es vor allem um die Absenkung des Strafmündigkeitsalters
Zwei Mädchen im Alter von zwölf und 13 Jahren aus dem nordrhein-westfälischen Freudenberg haben gestanden, am 11. März ihre zwölfjährige Freundin Luise mit zahlreichen Messerstichen getötet zu haben. Es soll sich um einen Racheakt für irgendwelche vom späteren Opfer ausgesprochenen Beleidigungen gehandelt haben. Bei dieser „Begründung“ kann es sich aber auch um einen nachträglich formulierten Text handeln, der einen Akt nackter und sinnloser Gewalt in irgendeine Logik einbetten soll. Oft sind Rechtsanwälte und Erwachsene an diesem Akt der Nachproduktion von Motiven beteiligt. Die jungen Täterinnen oder Täter sagen etwas auf, das man mit ihnen einstudiert hat.
Bei Gewalttaten, von Kindern an Kindern begangen
egangen – in diesem Fall auch noch von Mädchen an Mädchen –, ist die Aufregung groß. Statt über die Ursachen kindlicher Gewalt zu sprechen, wird lautstark eine Absenkung des Strafmündigkeitsalters gefordert. So als hätten die Freudenberger Mädchen den mit dem Messer zum Stich erhobenen Arm wieder sinken lassen, wenn ihnen klar gewesen wäre, dass man sie für ihre Tat zur Verantwortung ziehen könnte. Abschreckung funktioniert umso weniger, je mehr Emotionen und Affekte bei einer Tat im Spiel sind.Zahlen sind die Spur, die gelebtes Leben in den Aufzeichnungen der Wissenschaft und in Presseberichten hinterlässt. Von 100.000 deutschen Mädchen bis 14 Jahre wurden im Jahr 2019 knapp 60 einer Gewalttat verdächtigt. Bei den Jungen waren es in derselben Altersgruppe mit gut 230 fast vier Mal so viele. Körperliche Gewalt ist nach wie vor überwiegend männlich, wenn auch die Mädchen in jüngster Zeit aufholen. 19 Kinder sind im Jahr 2021 einer „Straftat gegen das Leben“ verdächtigt worden, darunter waren fünf Mädchen. Halten wir fest: Tötungsdelikte, begangen von Kindern, sind glücklicherweise nach wie vor selten. Das ist allerdings kein Grund zur Beruhigung.Die Hölle der GleichaltrigenDie Täterinnen sind, wie immer man es dreht und wendet, Kinder dieser Gesellschaft. Ihre Gewalt stammt nicht von einem fremden Stern, sondern ist das Resultat einer Kindheit, die angefüllt ist mit Bildern der Gewalt und die in einer Gesellschaft stattfindet, die selber auf Gewalt basiert und tagtäglich Gewalt produziert. Wie viele Morde hat ein 13-jähriges Kind am Bildschirm bereits gesehen? In und an deutschen Schulen wird viel Gewalt praktiziert und auch hervorgerufen. Es wird in einem Ausmaß gemobbt und verletzt, das wir uns nur schwer vorstellen können. Kinder haben häufig eine feine Witterung für kleinste Zeichen von Differenz. Gegen Abweichungen von der Norm wird oft gnadenlos vorgegangen. Jedes dritte Kind ist von Mobbing-Attacken betroffen – als Opfer. Mitunter wissen die Opfer nicht mehr weiter und bringen sich um.Zwei Fälle aus jüngerer Zeit sind in Erinnerung geblieben: So wurde im Januar 2019 vom Tod eines elfjährigen Mädchens in Berlin-Reinickendorf berichtet, das in der Schule massiv gemobbt worden war. Es verletzte sich nach der Schule in seinem Zimmer so schwer, dass es im Krankenhaus an den Folgen der Verletzungen starb. Aus ähnlichen Gründen hat sich im Jahr 2015 in Darmstadt-Kranichstein ein elfjähriges Mädchen vor einen Zug geworfen.Eine provokante These des Sozialpsychologen Peter Brückner aufgreifend, könnte man sagen: Mobbing ist der „Breitensport“, dem sich die seltene „Spitzenleistung Mord“ mitverdankt. Diese „Spitzenleistungen“ sind nur möglich, wenn entsprechende, für sich genommen nicht sensationsreife Fähigkeiten und Fertigkeiten vermasst sind. Förderlich für die Entwicklung von Spitzenleistungen ist ferner ein öffentliches Klima, das sich unter dem Neoliberalismus entwickelt und ausgebreitet hat.Das Wirken des darwinistischen Prinzips illustriert folgende Geschichte, auf die ich beim Philosophen Horst Kurnitzky stieß: Zwei Jungen begegnen irgendwo in den amerikanischen Wäldern einem aggressiven Grizzlybären. Während der eine in Panik gerät, setzt sich der andere seelenruhig hin und zieht sich seine Turnschuhe an. Da sagt der in Panik Geratene: „Bist du verrückt? Niemals werden wir schneller laufen können als der Grizzlybär.“ Sein Freund entgegnet ihm: „Du hast recht. Aber ich muss nur schneller laufen können als du.“Vieles war und ist also absehbar und wurde seit Jahren vielfach warnend beschworen. Aber wenn dann geschieht, was zu erwarten war, ist die Aufregung groß und man macht trotz aller Erkenntnisse die Kinder – allein – für ihr Fehlverhalten verantwortlich. Darin, dass das in dem Freudenberger Fall wegen der Minderjährigkeit der Täterinnen juristisch nicht funktionieren wird, liegt auch eine Chance, sich mit den wirklichen Ursachen der Gewalt auseinanderzusetzen. Man wird in diesem Fall also Schuld nicht individuell zurechnen und abwickeln können.Die Gesellschaft, in der eine solche Tat möglich war, hätte als ganze auf der Anklagebank Platz zu nehmen. Wir hätten zu fragen: Wollen wir die Art und Weise, wie Kinder und Jugendliche heranwachsen, weiter den ökonomischen Funktionsimperativen unterordnen und zulassen, dass auf Kindheit und Jugend der Kälteschatten von Elend, Bindungslosigkeit und Indifferenz fällt? Was nach außen manchmal noch aussieht wie eine Familie, ist in Wahrheit oft nur eine Ansammlung von Einsamkeiten und Warencharakteren.Wenn wir nichts dagegen unternehmen, dürfen wir uns nicht wundern, wenn dem unwirtlichen Schoß dieser Gesellschaft mehr und mehr verwilderte Wesen entspringen, deren Verhalten von kalter Schonungslosigkeit, moralischer Indifferenz und frei flottierender Aggressivität geprägt sein wird.Die Normalität des MordesMeiner Beobachtung nach kann man von einer zeitgemäßen Form der Kindesaussetzung sprechen. Kaum der Wiege entstiegen, werden Kinder vor Bildmaschinen gesetzt und mit der Flut der Bilder alleingelassen. Da viele Familien keinen Schon- und Schutzraum mehr bieten, der schädliche Umwelteinflüsse von den Heranwachsenden fernhält, werden wir nicht umhin können, nach neuen geschützten und schützenden Räumen zu suchen, in denen Kinder ihre Reifungsprozesse absolvieren und zu menschlichen Wesen heranwachsen können. Gegenwärtig drohen sie, wie Peter Sloterdijk einmal gesagt hat, aus dem Mutterleib direkt in die Gesellschaft des entfesselten Marktes zu stürzen und moralisch zu verwildern. Dem Geld ist alles egal. Und das Geld ist, wie es bei Heinrich Heine heißt, „der Gott unserer Zeit“.Trotz aller nun vorgetragenen Erklärungsversuche wird eine Tötung wie die von Freudenberg immer etwas Rätselhaftes bewahren. All unsere Erklärungen reichen an das Geschehen letztlich nicht heran, sondern dienen in erster Linie dem Zweck, ein eigentlich unfassbares Ereignis irgendwie begreifbar werden zu lassen. Wir wollen am Ende sagen können: „Aha, das ist es also!“, um zur Tagesordnung und unserer Normalität zurückzukehren. Es ist allerdings eine Normalität, aus der der Mord hervorgegangen ist und jederzeit erneut hervorbrechen kann.Placeholder authorbio-1
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