Einen seiner letzten Texte hat Lothar Baier unter dem Datum des 14.1.2003 in Form eines Briefes an den Mitte Mai 2009 in Zürich gestorbenen Psychoanalytiker Paul Parin geschrieben, der für Lothar so etwas wie ein väterlicher Freund und gelegentlicher Ratgeber gewesen ist. Er hat diesen Brief auch an einige wenige noch verbliebenen Freunde geschickt. „lieber herr parin“, lesen wir dort, „ ‚und er hat alles kleingeschrieben – stefan george tut dies auch’, heißt es in einem chanson von tucholsky. dass ich alles klein schreibe, hat mit george nichts zu tun, sondern nur mit dem kruden faktum, dass ich mit der linken tippen muss, da der rechte arm vergipst in der schlinge hängt.“
Der Brief enthält in seinem Fortgang Lothars Version des dramatischen Scheiterns einer Liebesbeziehung, deretwegen er nach Kanada gegangen war. In dem an mich gerichteten Begleitschreiben spricht Lothar davon, dass er auch nach dem Ende dieser Beziehung in Kanada bleiben wolle. Montreal sei ein „wirksames Antidepressivum“ für ihn, und er denke nicht daran, ins „gentrifizierte Finanzdorf Frankfurt“ zurückzukehren.
Von Weggefährten enttäuscht
In den neunziger Jahren hatte Lothar Baier begonnen, Lehraufträge an kanadischen Universitäten anzunehmen und zwischen Frankfurt und Montreal hin und her zu pendeln, bis er Anfang des neuen Jahrhunderts seine Zelte in Frankfurt und Deutschland abbrach und vollends nach Kanada ging. In der Folgezeit brach er viele Brücken hinter sich ab und ließ, um sich den Abschied zu erleichtern, an Deutschland und seinen Bewohnern kein gutes Haar. Enttäuscht war er vor allem von vielen ehemaligen Weggefährten und Genossen, die er nun mit einem gewissen Sarkasmus als „former radicals, now upstairs moving“ bezeichnete.
Eineinhalb Jahre und ein paar herbe Enttäuschungen später hat das Antidepressivum Montreal bei Lothar Baier nicht mehr gewirkt. Die Probleme hatten wie blinde Passagiere die Auswanderung mitgemacht, die Depression kehrte zurück und das Leben schien ihm nicht mehr der Mühe wert. Lothars Depression scheint mir einen gesellschaftlich-historischen Index aufzuweisen, oder umgekehrt formuliert: Glück hat seinen geschichtlichen Atem, braucht den Wind einer historischen Tendenz im Rücken. Es kommt leider häufig vor, dass der Gang einer Lebensgeschichte vom gegenläufigen Trend gesellschaftlich-historischer Tendenzen unglücklich geschnitten wird, und dieser Schnitt kann zum Auslöser psychischer Erkrankungen werden.
Der Ausbruch von Lothars Depression, das heißt ihr Hervortreten aus der Latenz, fällt mit dem Niedergang der europäischen Linken zusammen, zu deren führenden intellektuellen Köpfen Lothar Baier in den späten siebziger und achtziger Jahren zählte. Die Feuilletons der großen Zeitungen standen ihm in jenen Jahren offen, bei Wagenbach erschienen seine großen Essays Firma Frankreich, Gleichheitszeichen und Die große Ketzerei, und er publizierte in der Zeitschrift Merkur, in Enzensbergers Zeitschrift TransAtlantik wie in Wagenbachs Freibeuter. Mit den neunziger Jahren wurde die Luft dünn für einen wie Lothar, der den nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zur Mode gewordenen Trend zum Abschwören und zur Konversion nicht mitmachte, sich und seinen früheren Intentionen die Treue hielt. Während zahlreiche ehemalige Linke sich von ihrer Vergangenheit distanzierten und sich in runderneuerte „Wachhunde“ der globalisierten kapitalistischen Ordnung und des Marktes verwandelten, wie der von Lothar verehrte Paul Nizan es ausgedrückt hätte, blieb er ein „engagierter Intellektueller“ im Sinne Sartres.
„Heute hinauszuschreien“, schrieb er in dem 1993 erschienenen Band Die verleugnete Utopie, „dass die Utopie gescheitert ist, ist etwa so klug, wie im Spätherbst, wenn die Blätter fallen, zu dem Schluss zu kommen, dass die Idee des Frühlings gescheitert ist. Nieder mit dem Frühling!“ Er wurde Redakteur der in der Schweiz erscheinenden Wochenzeitung (WOZ) und verfasste regelmäßig Beiträge für den Freitag. Er, der in seinen guten Jahren vom Schreiben hatte leben können, hatte nun Mühe, finanziell über die Runden zu kommen.
Diskussion dringend fortsetzen
Wenn er depressiv sei, hat er mir einmal gesagt, empfinde er den Alltag so anstrengend, als müsse er ständig gegen die Fahrtrichtung einer Rolltreppe anlaufen. An manchen Tagen fiel es ihm schwer, das Haus zu verlassen und sich gegen die Schwere der Welt anzustemmen. Einige Verabredungen sagte er deswegen ab. Zum letzten Mal sah ich ihn im Herbst 2002. Wir hatten nachmittags Pilze gesucht und gefunden und uns währenddessen intensiv unterhalten. Abends bereiteten wir die Pilze zu, aßen gemeinsam und redeten weiter. Gegen Mitternacht brachte ich ihn zum letzten Zug nach Frankfurt. Er rauchte auf dem Bahnsteig noch eine seiner schwarzen französischen Zigaretten und sagte dann in der Zugtür stehend: „Bis bald, wir müssen unsere Diskussion dringend fortsetzen.“
Ich vermisse ihn und unsere Gespräche sehr. Lothar Baier erhängte sich am 11. Juli 2004 in seiner Wohnung in Montreal. In einem Essay über Jean Amérys Buch Hand an sich legen hatte er Jahre zuvor einen Kommentar zu einer Tagebucheintragung Cesare Paveses zitiert, der möglicherweise auch auf ihn selbst zutrifft: „Es scheint ihm, dass es bereits zu spät ist und dass er endgültig in einem Suizidantenleben dahindämmert; doch im Sommer des gleichen Jahres ... findet er das Wollen intakt und führt es aus. Durch diese Tat rettet er sein Leben.“
Götz Eisenberg ist ein Sozialwissenschaftler und Publizist. Seit vielen Jahren forscht und schreibt er zum Thema "Amok" - auch im Freitag.
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