Künstler der Widersprüche

Le Corbusier Zum Weltkulturerbe gehören zwei Häuser der Stuttgarter Weißenhofsiedlung. Die Ideen von Le Corbusier sind im Angesicht der Wohnungsnot in den Großstädten weiter aktuell.

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Le Corbusiers Doppelhaus in Stuttgart
Le Corbusiers Doppelhaus in Stuttgart

Foto: Andreas Praefcke / Commons (CC)

Auf seiner Sitzung in Istanbul hat das Welterbekomitee der UNESCO das Werk des Schweizer Architekten Le Corbusier zum Weltkulturerbe ernannt. Siebzehn Gebäude aus sieben Staaten wurden in die Welterbeliste aufgenommen. Die UNESCO begründet seine Entscheidung wie folgt: "Seine Werke zeugen von der Erfindung einer neuen Architektursprache, die mit der Vergangenheit bricht.! Sie entstanden über einen Zeitraum von einem halben Jahrhundert – in einer Periode, die Le Corbusier als eine "unermüdliche Suche" bezeichnete. Die Regierungsgebäude von Chandigarh (Indien), das Nationalmuseum für westliche Kunst in Tokio (Japan), das Haus Curutchet in La Plata (Argentinien) oder die Unité d’Habitation in Marseille (Frankreich) spiegeln die Antworten wider, welche die Moderne Bewegung auf die Fragen nach der Erneuerung der Architektur im Laufe des 20. Jahrhunderts geben wollte, mit dem Ziel, den Bedürfnissen der Gesellschaft nachzukommen. Darüber hinaus belegen die Bauwerke die Internationalisierung der Architektur in globalem Umfang." Ausgezeichnet wurden dabei auch die beiden Wohnhäuser, die Le Corbusier 1927 in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung baute.

Diese Siedlung entstand unter der Leitung von Mies van der Rohe und war Teil der Werkbundausstellung „Die Wohnung“. 17 Architekten sollten 21 Häuser mit 63 Wohnungen entwerfen. Als die Siedlung 1927, nach nicht mal 5 Monaten Bauzeit, eröffnet wurde, war sie für viele ein Schock. Nichts erinnerte hier mehr an die gewohnte Vergangenheit. Was hier stand und zum großen Teil noch steht, waren Häuser ohne Fensterläden, ohne Giebeldächer oder Gauben, sie waren weiß, hatten Dachterrassen, Langfenster und dünne Stahlbetonbeine. Dabei ging es hier gar nicht um eine avantgardistische Ästhetik, es ging tatsächlich um günstigen Wohnraum für alle. Die Reduktion auf das Wesentliche war damals nicht so sehr eine stilistische Frage, sondern eine der sozialen Moral.

Le Corbusier wurde als Charles-Edouard Jeanneret-Gris 1887 in der französischsprachigen Schweiz geboren. Sein Vater arbeitete als Emaillierer von Uhrengehäusen, seine Mutter war Klavierlehrerin. In seiner Heimatstadt La Chaux-de- Fonds bekam er als 17-Jähriger seinen ersten architektonischen Auftrag. Er sollte für einen Lehrer von der Kunstgewerbeschule ein Privathaus bauen. Für dieses Haus im Jugendstil, die Villa Fallet, hat er sich später geschämt. Das Gebäude hat mit seinen späteren puristischen Idealen nichts zu tun. Es ist ein typisches Haus mit steilem Walmdach. An den Balkonen sind Geländer angebracht, die mit stilisierten Tannen verziert sind. Später fluchte Le Corbusier über „blödsinnige, rein mechanische Ornamentik“.

Heute gilt Le Corbusier als Protagonist des Nicht-Poetischen, als der große Zerstörer der Städte. Er und seine weniger begabten Gefolgsleute wollten eine zersiedelte Stadt mit getrennten Funktionen. Hier Wohnen, dort Arbeiten, woanders Erholung und das ganze autogerecht. Diese Vision von der Stadt der Moderne, die in der berühmten, von Le Corbusier maßgeblich formulierten „Charta von Athen“ 1933 festgehalten und nach dem Zweiten Weltkrieg in banaler Form vielerorts umgesetzt wurde, gilt heute als überholt. Jetzt möchte man die alte europäische Stadt zurück, „durchmischt“, wie es im Fachjargon heißt, „verdichtet“. Le Corbusier träumte von einer „Synthese der Künste". Seine Häuser nannte er „Maschinen zum Wohnen". Von sich selbst war schon der junge Architekt überzeugt. 1913, mit 25 Jahren, schrieb er in einem Brief: „Mein Ehrgeiz, meine Eitelkeit und mein Stolz treiben mich zu großen Dingen.“

Über sein Privatleben hat Le Corbusier nie viel preisgegeben. Er unterschied zwischen der selbst geschaffenen Kunstfigur und dem Menschen Charles-Edouard Jeanneret-Gris, als der er geboren wurde: „Le Corbusier ist ein vom Gewicht des Fleisches befreites Wesen“, hat er in einem seiner Briefe geschrieben, „Jeanneret ist der Mensch aus Fleisch und Blut, der all die strahlenden und erschütternden Abenteuer eines recht ereignisreichen Lebens hat.“ Jede Woche hat der erwachsene Mann seiner Mutter geschrieben, bis sie 1960 beinahe hundertjährig starb – da war er selbst bereits 72. In seinen Briefen an seine „allerliebste Mama“ hat er oft geprahlt und sich selbst übergroß gezeichnet, vielleicht weil er sein Leben lang versuchte, sich gegen seinen älteren Bruder zu profilieren. Der junge Architekt reiste viel, besuchte Bordelle und hielt in Aquarellen seine Eindrücke fest, malte nackte, einander zärtlich zugewandte Damen. Er bevorzugte bei Frauen die üppigen Formen, wollte von seiner sonst so freudig propagierten Askese nichts wissen. Das Fotomodell, das er heiratete, hieß Yvonne und wurde von ihm „meine kleine Vovon“ genannt. In einem Brief an seine Mutter lobte er sie dafür, dass sie „großzügig die Aufgabe übernimmt, die Gefährtin eines Mannes mit Ticks zu werden“. Dann gab es noch Geliebte. Ob die Tänzerin Josephine Baker, die er 1929 auf einer Schiffsfahrt von Buenos Aires nach Rio kennenlernte und von der er schwärmte, sie sei so „außerordentlich bescheiden und natürlich“, auch zu den Gespielinnen gehörte, ist nicht belegt. In seinem Nachlass gibt es Zeichnungen von ihr, einmal hat er sich mit ihr als Paar dargestellt. Die Malerei war für den Zuchtmeister der Moderne, des streng konstruktiven Rationalismus und des „béton brut“, ein Labor in dem er Formen für seine Architektur suchte. Dennoch war das Zeichnen ein Teil seines Privatlebens, seine Bilder, er schuf 400 Gemälde, 8000 Zeichnungen, 27 Kartons für Wandteppiche und 44 Skulpturen, signierte er mit seinem Geburtsnamen.

Fünf von ihm so genannten „Wohnmaschinen“ hat Le Corbusier zwischen 1947 und 1967 geplant. Die Unités d`Habitation in Marseille, Rezé, Briey, Firminy und Berlin (von dieser distanzierte er sich nach Fertigstellung, da der Bau anders ausgeführt wurde, als geplant) sind mehr als nur Wohnhäuser. Mit ihren durchgestreckten Maisonette-Wohnungen mit zwei geschossigen Lufträumen und vor allem ihrem Modul-Maß von 2,26 Meter Raumhöhe, basierend auf einem von Le Corbusier definierten Normmenschen mit ausgestrecktem Arm, haben den Wohnbau in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgebend geprägt. Seine Siedlungen mit mehr als 300 Wohnungen, Kindergarten, Hotel und diversen Geschäften waren zu ihrer Entstehung ein vollkommen neues Wohnmodell, das trotz Serienproduktion und hoher Vorfertigung bis heute einen maximalen Wohnkomfort für die breite Masse bietet. Bei dem Mangel an bezahlbaren Wohnraum in unseren Großstädten bleiben Le Corbusiers Ideen bis heute aktuell.

Als der Architekt begann, galt es dem tuberkuloseverseuchten Elend der Altstadtslums und Gründerzeitbauten zu entkommen. Licht, Luft und Sonne, Metropolen der Hygiene und Vernunft waren gefragt. Aus diesem Grund verachtete Le Corbusier das alte Paris. In einem Text zu seinem Plan „Voisin“, der 1925 das alte Paris mit einem Raster aus Wolkenkratzer ersetzen sollte, ereiferte er sich über die Straßen der damaligen Städte. Unterschiedlich aussehende Häuser, wie unästhetisch. Die Enge, der Lärm, all die anderen Menschen, unerträglich. New Yorker Straßenschluchten ? „Schreckliche Albträume!“ Nur ein visionäres Genie könne hier einen Ausweg finden. Gerasterte Glasfassaden, dazwischen grün wogende Landschaften und die Stadtautobahnen für die kommende Ära des Automobils. Alles schön sauber und ordentlich. Eine Stadt voller Widersprüche und Konfrontation, eine Stadt in der sich das bauliche und kulturelle Schaffen verdichtet, blieb Le Corbusier immer fremd. Vom „Plan Voisin“ ist Paris glücklicherweise verschont geblieben. Ganz nahe gekommen ist dieser Idee Jacques Tati in seinem Film „Playtime“, in dem sich Paris und London nur noch durch einsame Wahrzeichen wie Triumphbogen und Big Ben in einem Meer aus immer gleichen Spiegelfassaden unterscheiden. Aber auch in der Realität ist viel ist von dem geblieben, was sich Le Corbusier vorstellte. Er errichtete 79 Bauwerke in zwölf Ländern. Bis heute ist Architektur, die modern aussehen will, immer mit seinen Entwürfen verwandt. Geometrische Formen, ein flaches Dach, breite, große Fenster für viel Licht.

In der Stuttgarter Weißenhofsiedlung wurde eine seiner Wohnungen originalgetreu wieder aufgebaut. Ein funktionaler Raum zum Schlafen und Wohnen. Das Bett kann tagsüber versteckt werden, die Wände sind zum auf- und zuschieben. In den Städten war Wohnraum auch vor 80 Jahren schon teuer. Die „Individualräume“ wie Le Corbusier sie nannte, sollten auf das absolut Notwendige reduziert werden. Und so gestaltete er diese Wohnung nach dem Vorbild der Schlaf- und Salonwagen der Eisenbahnen.

Bekannt ist Le Corbusiers Nähe zum Nationalsozialismus. Hitlers Krieg hat er ohne moralische Bedenken begrüßt. Das passt zu einem Mann, der von einem Paris voller Wolkenkratzer träumte und dafür bereit ist, die historisch gewachsene Innenstadt nieder zu walzen. Le Corbusier war ein Opportunist. Er wanzte sich an Mussolinis Faschisten genauso heran wie ans französische Vichy-Regime, immer in der Hoffnung, dass sich das nach dem Krieg positiv auf seine Auftragslage auswirken werde. Nach dem Ende des Krieges tat er so, als wäre er im Widerstand gewesen, politisch entlastet hat ihn das nicht.

Le Corbusiers Möbel sind Evergreens. Seine Liege etwa, die aussieht wie eine Welle oder seine Sessel, die in Fernsehserien immer dann herumstehen, wenn es nach Geld und puristischem Geschmack aussehen soll: eingeschnittene Würfel aus schwarzem Leder.

1955, zehn Jahre vor seinem Tod, stellte Le Corbusier ein Bauwerk fertig, in dem sich seine beiden Seiten – die öffentliche, strenge und die private, sinnliche – ausdrücken: die Wallfahrtskapelle von Ronchamp, geschwungen wie eine Skulptur, so expressiv, wie es keiner bei ihm erwartet hätte. Damit hat er sich seinen Rang im Pantheon genauso verdient wie mit der Villa Savoye oder dem Kloster Sainte-Marie-de-la Tourette. Vielleicht ist es kein Zufall, dass diese Bauten im Grünen entstanden und sich selbst seine Wohnmaschinen in Marseille und Berlin nur an die Stadtränder vorwagten. Das sich, Le Corbusier zum Trotz, nicht unterzukriegende Chaos der Städte blieb ihm immer fremd.

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Geschrieben von

Goggo Gensch

Autor, Dokumentarfilmer, Kurator. Lebt in Stuttgart.

Goggo Gensch

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