Der erste Kosmopolit des Fußballs

Béla Guttmann Aus Anlass der kommenden Fußballweltmeisterschaft sei an den Fußballtrainer Béla Gutmann erinnert

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„In den nächsten 100 Jahren wird Benfica nie wieder einen Europacup gewinnen“. Mit diesen Worten verabschiedete sich Trainer Béla Guttmann 1962 von seinem Verein Benfica Lissabon. Ihm war eine Gehaltserhöhung verweigert worden, obwohl er gerade zum zweiten Mal den Europapokal der Landesmeister gewonnen hatte. Das Endspiel gegen Real Madrid gilt bis heute als eines der besten europäischen Fußballspiele. Durch Tore von Ferenc Puskas hatte Real 2:0 und 3:2 geführt. Benfica aber drehte das Spiel. Der zwanzigjährige Eusebio schoss das 4:3 und das 5:3. Es war das Ende von Reals grandiosem Team der 1950er-Jahre und die Geburtsstunde des Mythos Eusebio, der innerhalb weniger Monate vom schwarzen Straßenfußballer aus Mosambique zum Weltstar aufstieg. Bereits ein Jahr vorher gewann Lissabon mit Béla Guttmann als Trainer den Europapokal nach einem Rückstand gegen den FC Barcelona mit 3:2.

In den darauf folgenden 52 Jahren stand Benfica Lissabon achtmal in einem europäischen Endspiel. Achtmal wurde das Spiel verloren, zuletzt am 14. Mai 2014 gegen den FC Sevilla nach Elfmeterschießen. Aber auch für Béla Guttmann war das Endspiel in Amsterdam am 2. Mai der letzte große Erfolg.

Béla Guttmann wurde am 27. Januar 1899 in Budapest geboren. Seine Eltern waren Tanzlehrer, auch Béla Guttmann machte mit 16 Jahren sein Diplom als Lehrer für klassische Tänze. 1916 schloss er sich dem Fußballverein Törekvés an, 1919 wechselte Guttmann zum MTK Budapest mit dem er 1920 und 1921 ungarischer Meister wurde. Vor dem Hintergrund eines Schwarzgeldskandals in der ungarischen Liga wechselte er 1922 nach Wien zum jüdischen Verein Hakoah. Dieser war damals der weltweit prominenteste jüdische Sportverein. Hakoah war auch die erste kontinentale Mannschaft die in England ein Spiel gewonnen hat. 1923 wurde Westham United in London mit 5:0 geschlagen. Der begnadete Techniker Guttmann führte die Fußballabteilung der Hakoah, in deren Kader nicht weniger als sieben ungarische Nationalspieler standen, auch zum Gewinn der ersten österreichischen Profimeisterschaft 1925.

Hakoah war weit mehr als ein Sportverein. Hakoah war ein zionistisches Projekt, das vor dem ersten Weltkrieg von Studenten gegründet wurde. Wien war eine Einwandererstadt vor allem für Juden. Nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie kam es in den neuen Nationalstaaten zu antijüdischen Pogromen und Vertreibungen. Das selbstbewusste politische Judentum organisierte sich.

Österreich hatte als erstes Land auf dem Kontinent den Profifußball eingeführt. Der aufstrebende jüdische Verein Hakoah leistete sich eine Fußballabteilung, um in der Wiener Gesellschaft auf die eigenständige jüdische Nationalkultur aufmerksam zu machen, was viele antisemitische Anfeindungen mit sich brachte.

Béla Guttmann war der unumstrittene Star der Mannschaft, als Mittelläufer spielte er auf der zentralen Position zwischen Abwehr und Angriff. Neben einer hervorragenden Technik zeichnete er sich durch überragende Kondition und geniale Spielübersicht aus. Guttmann kannte seinen Wert und bezog eine Gage, die nicht weniger als ein Viertel des gesamten Saisonetats der Hakoah ausmachte. In dieser Zeit wurde er zum überzeugten Wiener. Seine Leidenschaft für die Kaffeehauskultur und seine Selbstironie waren offenkundig. Häufig, so werden seine Biografen schreiben, wenn er in Sao Paulo, New York oder Lissabon an der Arbeit war, träumte er davon, in einem Wiener Kaffeehaus mit seinen Freunden im angeregten Diskurs die Philosophie eines modernen Weltfußballs zu entwickeln. Guttmanns Wiener Erfahrungen haben ihn ein Leben lang geprägt.

Zur Finanzierung ihres Profibetriebs und zur Propagierung der sie leitenden Idee unternahm die Hakoah ausgedehnte Tourneen nach England, Osteuropa, Ägypten und Palästina. 1926 wurde die USA besucht. Guttmann war begeistert und sprang mit einem Großteil der Mannschaft ab, um in New York zu bleiben. Er heuerte bei den New York Giants an, organisierte Varietéauftritte seiner Hakoah-Kollegen und betrieb am Broadway eine gut gehende Bar. Als unter dem Druck der Wirtschaftskrise der Versuch, den europäischen Fußball in den USA heimisch zu machen, scheiterte, arbeitete Guttmann für kurze Zeit als Eintänzer in seiner Bar, um 1933 erneut die Hakoah Wien, diesmal als Trainer, zu übernehmen. Nach einem Zwischenspiel beim SC Enschede kam er ein weiteres Mal nach Wien zurück. Nach dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland 1938 trainierte er in Budapest den Verein Ùjpestí FC, mit dem er Meister wurde und 1939 den Mitropacup gewann.

Es ist unbekannt, wo und wie Béla Guttmann den Holocaust überlebte. Vielleicht in Brasilien ? Sein Bruder wurde 1945 in Auschwitz ermordet. Angeblich, aber auch das ist ungesichert, heiratete Guttmann seine Frau Marianne 1942. Enge Bekannte berichteten, daß Guttmann, als er 1945 als Trainer bei Vasas Budapest arbeitete, der portugiesischen Sprache mächtig war. 1949 verließ Guttmann Ungarn und ging nach Italien. Erstes Engagement bei Padova Calcio, das er von einer kaum erstligareifen Mannschaft an die Spitze der Tabelle führt. Die nächste Trainerstation war der AC Mailand bei dem er kurz vor der Meisterschaft auf Grund einer Intrige entlassen wurde.

Im Spätherbst 1956 schloss sich Guttmann der Exil-Mannschaft von Honvéd Budapest als Trainer an. Das Team um Ferenc Puskás, das bis dahin den Kern der legendären ungarischen Nationalmannschaft gebildet hatte, war nach dem Ungarn-Aufstand im Oktober 1956 nicht mehr von einer Auslandsreise zurückgekehrt. Es ging auf eine Südamerikatournee. Puskás und Guttmann waren alte Bekannte aus ihrer gemeinsamen Zeit in Budapest. Die Tournee führte auch nach Brasilien.

Während das Team im Februar nach Europa zurückreiste und sich dort auflöste, blieb Guttmann und wurde Coach des FC Sao Paulo. Dort löste er eine kleine Revolution aus. Er diagnostizierte: „Wie Artisten, ja echte Künstler des Fußballs sind die Brasilianer, aber sie verstehen ihre hohe Kunst nicht auszuwerten. Wenn sie auch noch schießen könnten, wären sie unbesiegbar“. Also brachte er seinen Spielern das Schießen bei. Zudem professionalisierte er die Trainingsbedingungen und führte strenge Disziplinar-Regeln ein. „Für Leistungsspieler, die 60 bis 70 Spiele in der Saison zu absolvieren haben, ist das Nachtleben wie Gift“, predigte der damals 58-Jährige, der den Trainer-Job mit dem eines Löwen-Dompteurs verglich.

Vor allem aber wurde Guttmann als der Mann bekannt, der das 4-2-4 nach Brasilien brachte. Der Weltenbummler kannte die Formation von der ungarischen Nationalmannschaft. Er führte sie beim FC Sao Paulo ein und gewann damit die Staatsmeisterschaft von Sao Paulo. Brasilianische Zeitungen schrieben anschließend: „Das System Guttmanns ist das Ei des Kolumbus“. Guttmann propagierte immer ein mutiges Offensivspiel, einen Aufstand gegen die Herrschaft des Defensivfußballs. Sein Sportdirektor Vincente di Feola wurde zum Nationaltrainer Brasiliens bestellt. Er übernahm das System für die „Selecao“ und führte Pele und Co. 1958 in Schweden zum ersten Weltmeistertitel, vier Jahre später in Chile zur erfolgreichen Titelverteidigung.

Béla Guttmann war da schon wieder in Europa. Österreich wollte ihn zuerst als Nationaltrainer, um ihm dann doch abzusagen. So wechselte er 1959 zum FC Porto und führte diesen auf Anhieb zur portugiesischen Meisterschaft. In der darauffolgenden Saison wurde Béla Guttmann Trainer von Benfica Lissabon. Der Rest ist bekannt.

Nach einer Saison in Uruguay und einem Intermezzo als österreichischer Teamchef kehrte Béla Guttmann 1965 noch einmal zu Benfica Lissabon zurück, dieses Mal ohne Erfolg. Seine Trainerlaufbahn neigte sich dem Ende zu. Eine seiner letzten Stationen war 1973 Austria Wien. Der damals 17-jährige Herbert Prohaska erinnerte sich: „Er war offiziell nicht Trainer, sondern technischer Direktor. Trotzdem hat er sich sofort die Laufschuhe angezogen, um mit Mantel und Anzug das erste Training zu leiten.“ Noch heute erzählen sich die Austria-Legenden gerne das ein oder andere Schmankerl über den exzentrischen Coach. Seinen Zenit hatte Guttmann damals jedoch schon längst überschritten, auch aus gesundheitlichen Gründen. „Er war sicher einmal einer der ganz Großen seiner Zunft, aber nicht mehr bei uns“, so Prohaska.

Béla Guttmann war ein Kosmopolit in einer Zeit, als der Fußball noch nicht globalisiert war. In zwölf Ländern coachte Guttmann, der auch viermal für Ungarns Nationalmannschaft spielte, 21 verschiedene Mannschaften. Nur bei Benfica Lissabon blieb Guttmann drei Jahre, sonst war spätestens nach zwei Jahren Schluss. „Ein Fußballtrainer“, so meinte er einmal, „darf bei Mahlzeiten nicht bis zur Übersättigung fressen und saufen. Den letzten Bissen sollte man auf dem Teller liegen lassen, um den Ekel zu vermeiden, damit man für die nächste Mahlzeit den Appetit behält. Die ersten Anzeichens eines Nachlassens der Agilität und eine kaum merkliche Abstumpfung meines persönlichen Einflusses sind für mich Grund genug, mich zum Weitergehen zu entschließen. Diese Zeichen bedeuten für mich das, was Shakespeare in seinem ewig schönen ´Sommernachtstraum` sagt: Das ist der Anfang vom Ende.“

1981 ist Béla Guttmann in seinem geliebten Wien gestorben. Er wurde auf dem jüdischen Teil des Zentralfriedhofs beigesetzt. Seine Erfolgsstrategie hat er einmal so beschrieben: „In meiner langen Laufbahn habe ich viele Länder bereist und in einigen auch gearbeitet. Wenn ich irgendwo im Fußball etwas Gutes sah, habe ich es sofort gestohlen und für mich behalten. Nach einer Weile mixte ich mir einen Cocktail von diesen gestohlenen Delikatessen."

Buchtipp: Detlev Claussen „Bela Guttmann: Die Weltgeschichte des Fußballs in einer Person“. Berenberg Verlag, Berlin, 2006.

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Geschrieben von

Goggo Gensch

Autor, Dokumentarfilmer, Kurator. Lebt in Stuttgart.

Goggo Gensch

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