Der König der Tunnel

El Chapos Flucht Die Flucht von Joaquin Guzmán offenbart einmal mehr die tiefe Krise, in der Mexiko steckt

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Wieder auf der Flucht: El Chapo entkam durch einen 1,5 Kilometer langen Tunnel
Wieder auf der Flucht: El Chapo entkam durch einen 1,5 Kilometer langen Tunnel

Foto: YURI CORTEZ/AFP/Getty Images

Was sich in Mexiko in diesen Tagen abspielt, gleicht einer schlecht inszenierten Operette. Soviel Falschheit war selten. Politiker zeigen sich mit besorgten Gesichtern an dem Fluchttunnel durch den der Drogenboss Joaquin El Chapo Guzmán aus dem Hochsicherheitsgefängnis El Altiplano entkam. Die Bundespolizei wurde in Alarmbereitschaft versetzt. Das Gebiet um das Gefängnis wird Meter für Meter untersucht. An den Flughäfen wird jeder Passagier überprüft. An über hundert Kontrollpunkten im ganzen Land überprüft die Polizei Autofahrer und Passanten. An der Grenze zum Nachbarland Guatemala wird jedes Auto penibel gecheckt. Das alles begleitet von bestellten Kamerateams die zeigen sollen, wie ernst die mexikanische Regierung diese Flucht nimmt. Zudem wurde ein Kopfgeld von 3,4 Millionen Euro ausgeschrieben.

Letzten Samstag ist El Chapo nach einer akribischen Vorbereitung durch einen 1,5 Kilometer langen, einen Meter siebzig hohen und zwei Meter breiten Tunnel geflohen. In zehn Metern Tiefe sorgten Generatoren für Licht und ausreichend Luft, zudem stand ein Motorrad mit zwei Anhängern auf Schienen bereit. Experten schätzen, dass der Bau solch eines „High-Tech“-Tunnel mehr als ein Jahr benötigte.

Ein Forensiker untersucht den Fluchtunnel

Foto: YURI CORTEZ/AFP/Getty Images

Für den 58-jährigen Guzmán war es die zweite Flucht aus einem mexikanischen Hochsicherheitsgefängnis. Nach dem er 1993 in Guatemala verhaftet wurde, konnte acht Jahre später wieder ausbrechen. Nach 13 Jahren auf der Flucht fassten ihn mexikanische Fahnder im Februar 2014 in dem Badeort Matzatlán am Pazifik.

In Mexiko ist Joaquin Archivaldo Guzmán Loera längst eine Legende. Vermutlich wurde er am 4. April 1957 in La Tuna de Badirguato einem kleinen Dorf in den Bergen von Sinaloa geboren. Joaquins Vater war Bauer, wie fast alle in La Tuna. Seinen Sohn erzog er mit Schlägen und harter Arbeit auf den Opiumfeldern. Bereits im 19. Jahrhundert brachten chinesische Kaufleute Opium nach Sinaloa. Wo Getreide wächst, gedeiht auch Schlafmohn. Sinaloa hat ein gutes Klima, weder zu große Hitze noch zu viel Feuchtigkeit, kein Frost und kein Hagel. Bis heute ernährt das schwarze Gold, wie Opium auch genannt wird, ganze Generationen.

El Chapo arbeitete sich hoch. Ein Kilogramm Rohopium brachte seiner Familie 8.000 Pesos, etwa 460 Euro nach heutigem Kurs. Der Drogenboss in Culiacán, der Hauptstadt des Bundesstaates Sinaloa, war zu jener Zeit Miguel Angel Félix Gallardo. Er kontrollierte sämtliche Drogenlieferungen von und nach Mexiko. Zuerst organisierte der junge Guzmán den Transport des Rauschgifts an die amerikanische Grenze. Er war gut und wenn es ein Problem gab, dann räumte es El Chapo aus dem Weg. Er eliminierte Bauern, die an andere Banden verkaufen wollten ebenso wie LKW-Fahrer die ihre Ware nicht pünktlich ans Ziel brachten. Innerhalb weniger Jahre wird er zum Vertrauten von „Padrino“ Gallardo. Von ihm lernte er vor allem das Überleben im Drogenhandel. Guzmán blieb immer unauffällig. Zwar heiratete er viermal und hat neun Kinder, niemals aber protzte er mit seinem Reichtum. Der einzige Luxus den er sich leistet sind mit goldenen Intarsien verzierte Pistolen, in die seine Initialen eingraviert sind. Über sich sagte er einmal, er sei nur ein einfacher Bauer.

Nach der Verhaftung von Gallardo, auch er sitzt in Altiplano, zieht Guzmán 1989 nach Guadalajara. Im Hintergrund übernimmt er allmählich das expandierende Imperium. Die Drogen schleust er mit allen möglichen Verkehrsmitteln in die USA. Flugzeuge, U-Boote, LKWs, Eisenbahnwagen, Tanklastzüge, PKWs. Seine Spezialität aber sind Tunne, durch die er das Rauschgift in die USA transportiert. 127 sind bislang gefunden worden, alle ähnlich ausgerüstet wie der, durch den El Chapo entkommen ist, keiner war freilich so lang. Zum Bau solcher Anlagen heuerte Guzmán Landarbeiterkolonnen an. Es waren kaum getarnte Entführungen. Die Tunnelbauer lebten unter der Erde oder in den Lagerhäusern bei den Zugängen. Wenn sie mit ihrer Arbeit fertig waren, ließ „El Chapo“ sie umbringen. So gab es keine Zeugen.

Mit Ehrgeiz und tödlicher Kompromisslosigkeit wollte Guzmán die totale Kontrolle über das mexikanische Drogengeschäft. So schuf er das größte Drogenimperium der Welt. Ein Milliardengeschäft. „Im Geschäftemachen ist er ein Genie“ so Mexikos ehemaliger Geheimdienstchef Guillermo Valdés in einem Interview mit der spanischen Zeitung El Pais. In seinem Buch „El Chapo – Die Jagd nach Mexikos größtem Drogenbaron“ schreibt Malcolm Beth „Er ist ein faszinierender Charakter. Ein armes Kind mit ein paar familiären Kontakten in den Drogenhandel und ohne richtige Erziehung wird zum großen Drogenchef.“

Bereits in jenen Jahren standen heftige Kämpfe der konkurrierenden Drogenkartelle auf der Tagesordnung. Am 24. Mai 1993 sollte El Chapo angeblich von Killern des Tijuana-Kartells auf dem Flughafen von Guadalajara getötet werden. El Chapo traf gleichzeitig Erzbischof Juan Jesús Posadas Ocampo am Flughafen ein. Beide Männer stiegen in einen weißen Mercury. Die Killer schossen angeblich auf das falsche Auto. Sieben Menschen starben, auch der Kardinal. Er soll Informationen über die Zusammenarbeit der Regierung mit dem Sinaloa-Kartell besessen haben. So könnte es auch sein, dass Posada von Guzmáns Männern umgebracht wurde. Guzmán soll von den Plänen aus Tijuana gewusst haben und das Durcheinander auf dem Flughafen ausgenutzt haben. Kurze Zeit später wurde er in Guatemala verhaftet und anschließend zu zwanzig Jahren Haft verurteilt. Die Morde, die ihm zur Last gelegt wurden, konnten vor Gericht nicht bewiesen werden. Es gibt Hinweise darauf, dass Guzmán nach seiner Verhaftung die Namen der von ihm bestochenen Personen nannte. Das Protokoll dieser Aussagen ist aber verschwunden und nie mehr aufgetaucht.

Seine Geschäfte führte er aus dem Gefängnis weiter. Er hatte unzählige Privilegien und konnte ungestört mit seinen Geschäftspartnern kommunizieren. Ihm wurde auch erlaubt an Weihnachten seine Familie zu empfangen und fürstlich zu bewirten. Obwohl Puente Grande ein reines Männergefängnis war, wurden einige Frauen dorthin verlegt. Mit einer von ihnen hatte El Chapo eine Affäre. Zulema Hernandez, so ihr Name, berichtete darüber ausführlich in einem Interview mit einer Zeitschrift. Die Frau war traumatisiert, nachdem Guzmán sie fallen ließ und seinen Mithäftlingen erlaubte, sie zu vergewaltigen. Nach ihrer Freilassung wurde sie gefoltert und ermordet, vermutlich von dem Konkurrenzkartell, den Zetas. Nachdem der Oberste Gerichtshof Mexikos ein Gesetz verabschiedete, das die Auslieferung von Mexikanern an die USA erlaubt, war Guzmán in seinem Goldenen Käfig nicht mehr sicher. Am Abend des 19. Januar 2001, kurz nach dem Besuch hochrangiger mexikanischer Beamter, entkam El Chapo, angeblich versteckt in einem Wäschewagen. Der amerikanische Autor Don Winslow (Tage der Toten, Das Kartell) und die mexikanische Journalistin Anabel Hernandez behaupten, es gäbe Zeugen, dass El Chapo einfach aus dem Gefängnis spaziert sei. 2,5 Millionen Dollar sollen die Schmiergelder an die Gefängnisbeamten gekostet haben. Plata o Plomo, Geld oder Kugel, das ist eine von Guzmáns Geschäftsgrundlagen. Wer sich nicht bestechen lässt, wird hingerichtet. Der Fall wurde in Mexiko zu einem Politikum, angeblich soll Guzmán von namhaften Regierungsvertretern unterstützt worden sein. Mit dem Ausbruch aus dem Hochsicherheitsgefängnis Puente Grande wurde El Chapo zum Mythos.

Mal sah man Guzmán in Los Angeles, wo seine damalige Frau ein Kind gebar, mal in Argentinien, dann wieder in Guatemala. Verbürgt ist, dass Guzmán mit seiner Leibgarde ab und an in der Provinzhauptstadt Culiacán ein Restaurant besuchte. Den anderen Gästen wurden die Handys abgenommen und „wegen der Unannehmlichkeiten“ ihre Rechnung bezahlt. Die Telefone gab es zurück, wenn der Don das Lokal wieder verließ. Einem Zeugen zufolge schüttelte El Chapo allen Anwesenden die Hand und benutzte dabei die traditionelle mexikanische Grußformel: A sus ordenes (zu Ihren Diensten).

Seinen größten Coup landete er, als am Dreikönigstag 2007 seine spätere vierte Frau Emma in der Kleinstadt Canelas zur Schönheitskönigin gewählt wurde. Eine Armada von 200 bewaffneten Männern auf Motorrädern blockierte zu Zufahrten zur Stadt, auf dem kleinen Flughafen landete zuerst die Band Los Canelos de Durango später weitere sechs Kleinflugzeuge. In einem von ihnen El Chapo, in den anderen bewaffnete Söldner in Kampfflugzeugen und jede Menge Whiskey. Der Chef wollte feiern. Während der Party kreisten zwei Helikopter über Canelos um den Luftraum zu überwachen. Die Party verlief ohne weitere Zwischenfälle bis in die späte Nacht. Am nächsten Morgen war alles wieder wie zuvor. Ein halbes Jahr später heiratete Guzmán seine Emma. Sie feierte am gleichen Tag ihren 18. Geburtstag. Unter den Gästen waren auch mehrere hohe Regierungsmitglieder aus Sinaloa. Nur wenige Tage zuvor errichteten einhundertfünfzig Soldaten in der Region Straßensperren und erweckten den Eindruck, sie würden El Chapo suchen. Am Vorabend der Hochzeit zogen sie wieder ab.

In den Bergen rund um seinen Geburtsort führte Guzmán sein Geschäft in aller Ruhe weiter. Sein Einfluss wurde viel größer als der des 1993 erschossenen Kolumbianers Pablo Escobar. Mit einem geschätzten Vermögen von mehr als einer Milliarde Dollar wurde Joaquin Guzmán zu einem der reichsten Männer der Welt. Für ihn sind Drogen lediglich ein Mittel zum Zweck um gute Geschäfte zu machen. So stieg er auch ins äußerst lukrative Geschäft mit Methamphetamin ein. Ein investierter Dollar bringt im Straßenverkauf das Zehnfache. Für die Herstellung braucht man ein paar chemische Substanzen und Geheimlabore. Dank seiner guten Kontakte zur Pazifikküste lässt er sich die Vorprodukte aus China, Thailand und Vietnam liefern. Bald besitzt seine Firma die größten Labore Mexikos.

Man geht davon aus, dass das Sinaloa-Kartell über ein Gebiet von 60.000 Quadratkilometern herrscht. Das eigentliche Operationsgebiet aber ist der gesamte Erdball. Das Kartell kontrolliert große Teile des Kokain-Exports nach Europa. Es hat Grundbesitz in verschiedenen Staaten, die Basis für die Geldwäsche. Seine Krakenarme reichen über ganz Lateinamerika und Westafrika bis in den Nahen Osten und nach Asien und Australien. Das Sinaloa-Kartell ist das größte und älteste Kartell Mexikos. Es ist eine komplexe Organisation, der Zehntausende zum Teil in Gangs organisierte Mitglieder angehören. Der wahre Feind des Kartells ist nicht der mexikanische Staat sondern konkurrierende Kartelle, wie jenes, das die Grenzstadt Ciudad Juarez kontrolliert oder die Zetas, die sich aus ehemaligen Armeeangehörigen rekrutierten. Mexiko wird zum Schauplatz eines gnadenlosen Krieges. Dabei wurde 2007 auch einer von Guzmáns Söhnen bei einem Einkaufsbummel auf offener Straße erschossen. Auch El Chapos Bruder Arturo, genannt El Pollo, wurde ermordet. Joaquin Guzman hatte aber immer gute Kontakte zu Polizei und Militär. So soll er entscheidende Informationen verraten haben, um die Festnahme von Konkurrenten und abtrünniger Freunde zu erreichen.

Wie lukrativ das Geschäft mit den Drogen ist, zeigt das Buch von Roberto Saviano (Gomorrah). In Zero, Zero, Zero – Wie Kokain die Welt beherrscht enthüllte der italienische Schriftsteller wie alltäglich diese Droge mittlerweile geworden ist. Für etwa 13 Millionen Europäer gehört Kokain zum täglichen Laben. 2013 wurden allein 120 Millionen Tonnen sichergestellt. Die Wertsteigerung ist enorm. In Kolumbien kostet ein Kilogramm noch 1.500 US $, in Mexiko dann schon 12.000, in den USA 27.000. In Amsterdam wird es mit 47.000 Dollar gehandelt und in Deutschland müssen die Drogenhändler dann schon 40.000 Dollar bezahlen. Der Endverbraucher bekommt ein Gramm des weißen Pulvers dann für 80 bis 100 Euro, das entspricht einem Kilopreis von bis zu 100.000 Euro. Es lohnt sich also in dieses Geschäft zu investieren. Kein Wunder, dass die Drogenkartelle in Lateinamerika die Zerrüttung ganzer Staaten hinnehmen.

In Mexiko hat der Drogenhandel ein Volumen von 25 bis 50 Milliarden Dollar. Bei den Territorialkämpfen der Kartelle werden ganze Dörfer liquidiert. Seit 2006 forderte der Drogenkrieg in Mexiko mehr als 100.000 Tote. 40.000 Menschen gelten als vermisst. Profiteure dieses tödlichen Geschäfts sind nicht nur die Drogenbarone. Es sind auch Europas Großbanken. Einige von ihnen hätten die Finanzkrise nicht überstanden, wenn sie nicht auf das flüssige Kapital aus den Drogengeschäften hätten zurückgreifen können. „Die große Geldwäsche findet nicht auf den Bahamas oder irgendwelchen Offshore-Inseln statt, sondern im Herzen Europas. In Deutschland oder England und das alles wird von den Regierungen einfach ignoriert“ so Saviano. Er sieht nur eine Lösung für dieses weltweite Problem, „die weltweite Legalisierung aller Drogen. Das ist moralisch ein schwieriges Thema aber die Legalisierung wäre meiner Meinung nach der einzige Weg den Drogenhändlern ihren Markt zu entziehen“.

Nach Guzmáns Verhaftung 2014 beschlagnahmte die Polizei 47 gepanzerte Autos, 17 Häuser, drei Farmen und jede Menge Waffen. Unter einem seiner Häuser wurde ein aufwendiges Tunnelsystem entdeckt. Die mexikanische Regierung feierte sich erst einmal selber. „Meine Anerkennung für die Sicherheitskräfte des mexikanischen Staates", schrieb Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto auf Twitter. Es gibt in Lateinamerika aber auch Politiker und Geschäftsleute denen die Verhaftung von Guzmán gar nicht recht ist. Niemand weiß ob und über wen El Chapo reden wird. Zu seinen Geschäftspartnern in Kolumbien gehörten enge Verwandte des ehemaligen Präsidenten Alvaro Uribe. Auch zu den mexikanischen Expräsidenten Vicente Fox und Felipe Calderon soll er enge Verbindungen haben.

Experten gehen jetzt davon aus, dass Joaquin Guzmán das Sinaloa-Kartell binnen kurzer Zeit wieder übernimmt. Die Strukturen der verschiedenen Kartelle sind in den letzten Jahren undurchsichtig geworden. Alte Verbündete bekriegen sich, neue Bündnisse sind entstanden. Viele führende Köpfe die in den letzten Jahren verhaftet wurden, haben ein Machtvakuum in der Drogenindustrie hinterlassen. Das wird Joaquin Guzmán versuchen zu besetzen. Er wird versuchen die alten Machtverhältnisse wieder herzustellen und das Sinaloa-Kartell zur unangefochtenen Nummer eins im Narco-Geschäft machen. Wenn sich die Aufregung um seine Flucht gelegt hat, wird er sich vermutlich wieder in seiner Heimat verstecken und irgendwo im unwegbaren Dreieck der Bundesstaaten Sinaloa, Sonora und Chihuahua niederlassen. Hier wird er von den Menschen als Wohltäter geliebt und verehrt. In seinem Heimatstaat Sinaloa baute er Schulen und Krankenhäuser, ließ Straßen asphaltieren und vergab Stipendien. Nach Naturkatastrophen waren seine Männer schneller vor Ort als die offiziellen Hilfskräfte. Außerdem arbeiteten sie effizienter und schneller als der Staat. In Mexiko wird man so schnell zu einer Art Robin Hood.

In den sozialen Netzwerken wird El Chapo gefeiert. Viele User machen sich einen Spaß daraus ihre Sympathie mit dem Drogenboss auszudrücken. Mal sind es veränderte Filmplakate von Auf der Flucht, mal bitterböse Kommentare zum US-Milliardär Donald Trump, der mit seiner Schelte gegenüber mexikanischen Migranten das Land kollektiv gegen sich aufbrachte. Der US-Milliardär avancierte in den letzten Tagen zum Gegenspieler von El Chapo. Der hässliche, arrogante Gringo aus dem Norden, der selbstgerecht über die Mexikaner richtet. Mexiko schicke seine schlimmsten Elemente, sagte der Unternehmer, der Präsidentschaftskandidat der Republikaner werden will, jüngst in einer Wahlkampfrede: „Die größten Lieferanten von Heroin, Kokain und anderen Drogen sind mexikanische Kartelle, die Einwanderer nutzen, um ihre Drogen über die Grenze zu schmuggeln. Der Grenzschutz weiß das."

Das ist nicht nur bei den mexikanischen Migranten in den USA nicht gut angekommen, sondern auch in Mexiko selbst, das vor allem umgekehrt unter den Waffenlieferungen aus den USA leidet, die den Drogenkrieg befeuern. Die Flucht wird jetzt auch zu einem Duell Trump gegen Guzmán, Mexiko gegen USA, der reiche Norden gegen den armen Süden, Selfmade-Sheriff gegen Selfmade-Gangsterboss. Auch deshalb ist Guzmán eine Ikone für eine Subkultur, einer Mischung aus unermesslichem Reichtum, antiamerikanischer Anarchie und eigenem Lifestyle. Die atemberaubende Flucht durch einen 1,5 Kilometer langen Tunnel passt zu diesem kriminellen Glamour, über den sämtliche mexikanische Medien berichten. Der im wahrsten Sinn des Wortes unfassbare Gangster bestimmt seit dem letzten Wochenende die Titelseiten der Tageszeitungen und die Talkshows der TV-Sender. Auf allen Kanälen, in allen Programmen. El Chapo diktiert. Er, der erfolglose Schulabbrecher, lässt studierte Psychologen und Analysten diskutieren und analysieren. Es dreht sich alles um ihn. Das fasziniert.

Die Verehrung von Guzmán hat noch andere Gründe. Sie liegen in der medialen Überhöhung eines milliardenschweren Gangsterbosses und seines Lebensstils. Die unzähligen Telenovelas aus Brasilien, Kolumbien und Mexiko zeigen eine Welt, von der viele, sozial benachteiligte Mexikaner, nur träumen können. Sie prägen und generieren Wünsche und Begehrlichkeiten. Models, Sportwagen, Luxusapartments, dazu eine klassische Machoattitüde, die keine Schwäche kennt. Guzmán hat alles das erreicht. Er zeigt mit seiner erfolgreichen Flucht dem verhassten Establishment aus korrupter Politik und Polizei symbolisch den Mittelfinger. El Chapo ist bekannt für seine Schwäche für schöne Frauen, seine Legende beruht auf unzähligen Affären mit Models und Schauspielerinnen. Viele Männer, ähnlich klein gewachsen und unattraktiv, bewundern ihn dafür. Längst haben Modeketten den aufwendigen Lifestyle der Drogenbosse in ihre Kollektionen aufgenommen. Guzmán ist auf seine Art stilbildend. Genauso wie in vielen Menschen ein kleiner, selbstgerechter Donald Trump steckt, steckt auch ein El Chapo in jenen, welche die Gesetze missachten und sehr schnell sehr reich werden wollen. Mit dem Unterschied, dass es Guzmán geschafft hat.

Schon am Tag nach seiner Flucht sind die ersten Lieder über den Coup veröffentlicht worden La Fuga de El Chap ist bereits ein Hit auf Youtube. In einem Macho-Land in dem anarchistische und kriminelle Freiheitskämpfer schon immer verehrt wurden, seien es literarische Figuren wie El Zorro oder reale wie Pancho Villa wird man durch spektakuläre Fluchten, wie sie El Chapo nun schon zweimal gelungen sind, leicht zum Helden. Angeblich soll er bei seiner ersten Flucht den ehemaligen Präsidenten Vicente Fox mit 20 Millionen US-Dollar geschmiert haben, damit dessen Sicherheitskräfte wegschauten, als er aus der Haftanstalt floh. Diesmal sollen es zwei Dutzend Helfer in dem Hochsicherheitsgefängnis gewesen sein, die sich kaufen ließen. Niemand, so ist man sich Mexiko inzwischen sicher, kann diesen Mann aufhalten. Und viele träumen davon, einmal so zu leben wie Joaquin El Chapo Guzmán.

In Mexiko gibt es nur wenige, die glauben, Guzmáns Flucht sei ohne das Wissen und die Hilfe der Politik durchgeführt worden. Zu groß ist bei der die Angst, El Chapo könne auspacken über die enge Zusammenarbeit der Drogenkartelle mit dem Staat. Er könnte Namen nennen, Namen von Politikern, Bankern und Industriellen. Das Militär ist ebenso vom Sinaloa-Kartell unterwandert wie große Teile der Polizei. Dazu passt auch die Meldung, die amerikanische Drogenbehörde DEA habe Mexikos Regierung schon bald nach Guzmáns Verhaftung 2014 über Fluchtpläne gewarnt. Die mexikanischen Behörden behaupten, solche Hinweise nie erhalten zu haben. Auf der anderen Seite gibt es Stimmen, die behaupten, El Chapo stehe unter dem Schutz dieser DEA. Das würde zu den Recherchern von Don Winslow passen, der eben dies in seinem kürzlich erschienenen Roman Das Kartell schrieb. Nach der Verhaftung von El Chapo 2014, sagte Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto in einem Interview, es sei unverzeihlich wenn Guzmán ein zweites Mal die Flucht gelinge. Peña Nieto war gerade auf Staatsbesuch in Frankreich – die mexikanische Armee durfte sich auf der Parade des 14. Juli präsentieren – als ihn die Nachricht erreichte. Sein Innenminister Osorio Chong trat sofort die Rückreise an. Von einem Rücktritt des Präsidenten, seines Innenministers oder gar der Generalstaatsanwältin ist jetzt in Mexiko nicht die Rede. So unverzeihlich die Flucht auch sein mag. Gefeuert wurde bislang allein der Gefängnisdirektor. Einige hochrangige Polizisten wurden versetzt.

Das wundert niemand. Die Flucht des El Chapo ist nicht vom Schriftsteller Don Winslow erfunden worden, sie ist die traurige Realität in einem Land, in dem nichts ohne das Einverständnis der großen Drogenkartelle geschieht, die gewählten Politiker sind dabei willfährige Marionetten. Mexiko ist in Wahrheit nur scheinbar die souveräne Demokratie, die er vorgibt zu sein.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Goggo Gensch

Autor, Dokumentarfilmer, Kurator. Lebt in Stuttgart.

Goggo Gensch

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