Die Corridos der Narcos

Mexicano 100 % Die Narcocorridos sind eine sehr spezielle Volksmusik in Mexiko.

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Die meisten denken bei mexikanischer Musik an Mariachi. Diese bis zu 20 Mann starken Kapellen spielen bei allen möglichen Gelegenheiten auf. Gitarren, Trompeten, Geigen dazu eine Harfe und meist ein Sänger. Gekleidet sind die Musiker nach Art des Charro, ein reicher Haciendabesitzer. Cowboystiefel dürfen dabei ebenso wenig fehlen wie ein Sombrero und der schwarze Anzug, geschmückt mit Bordüren und Silberbeschlägen. Fälschlicherweise wird oft behauptet, das Wort Mariachi sei ein Überbleibsel aus der französischen Besatzungszeit im 19. Jahrhundert, als die Kapellen bei der Hochzeit, der mariage, aufspielten. Heute weiß man, das Wort Mariachi gab es schon in der Sprache der Ureinwohner.

Eine andere Richtung der mexikanischen Musik ist der Corrido. Balladen die sich auf wahre Begebenheiten beziehen. Der Corrido geht vermutlich zurück auf die spanischen Romanzen, volkstümliche Lieder mit denen Sagen und historische Ereignisse erzählt und verbreitet wurden. Das Lied „La Cucaracha“ (spanisch für Kakerlake), auch in Deutschland durch diverse Interpretationen bekannt, ist ein alter mexikanischer Corrido. Der Refrain spielt auf General Victor Huerta an. Während der mexikanischen Revolution war er zuerst an der Seite von Pancho Villa, dann wechselte er die Seiten. Der spätere Präsident Huerta war bekannt für seinen großen Alkohol- und Drogenkonsum. Angeblich konnte er ohne Marihuana nicht gehen. Im Originaltext von „La Cucaracha“ heißt es: „Die Küchenschabe, die Küchenschabe, kann nicht mehr aufrecht gehen, denn ihr fehlt - Marihuana zum Rauchen.“

Während der amerikanischen Prohibition in den 1920 und 1930er Jahren erlebte der Corrido eine neue Blüte. Da jede Menge Alkohol über die mexikanische Grenze in die USA geliefert wurde entstanden unzählige Schmuggelcorridos. In diesen wird mal gewarnt: „Ich sage meinen Freunden sie sollen ruhig schmuggeln, mal sehen, wo sie landen.“ Oder auch ermuntert: „Ich habe nachgedacht, meine Herren. Es gibt keine Arbeit mehr. Ich musste mein Glück versuchen wenn der Herr es mir gewährt. So lange es Cantinas gibt wird es so weitergehen. Denn der Arme ist im Gefängnis und der Reiche vergnügt sich.“

In den 1950er und 60er Jahren wurde es ruhig um den Corrido. Mexikanische Soziologen bringen das mit dem Wirtschaftswunder jener Jahre in Zusammenhang. Vermutlich war den Menschen nicht nach Balladen, sie wollten lieber ihren kleinen Wohlstand genießen. Das änderte sich erst als der Drogenhandel immer stärker ins Bewusstsein der Leute trat. Pioniere der „Corrido de Narcotráfico waren „Los Tigres del Norte“. Sie brachten auch musikalisch frischen Wind ins angestaubte Genre. Und erzählten in ihren Liedern kleine Filme: „Sie kamen aus Tijuana. Die Reifen des Wagens waren voller Marihuana. Es waren Emilio Varela und Camelia, la Tejana. Sie war eine leidenschaftliche Frau. Wenn eine Frau einen Mann liebt kann sie ihr Leben für ihn geben. Doch Vorsicht ist geboten wenn sich diese Frau verletzt fühlt. Verrat und Schmuggel vertragen sich nicht. Sie kamen in Los Angeles an und fuhren weiter nach Hollywood. In einer dunklen Gasse wechselten sie die Reifen. Dort übergaben sie das Gras und dort wurden sie gut bezahlt. Emilio sagt zu Camelia: Heute trennen sich unsere Wege. Mit deinem Anteil kannst du ein neues Leben beginnen. Ich gehe nach San Francisco mit meiner Herzensdame. Es ertönten sieben Schüsse. Camelia tötete Emilio. Die Polizei fand nur eine weggeworfene Pistole. Von dem Geld oder von Camelia hat man nie wieder etwas gehört.“

Die Corridista in jenen Jahren bezogen eindeutig Stellung gegen den Drogenhandel. Das änderte sich nach der Jahrtausendwende. Jetzt wird der Drogenhandel nicht mehr verurteilt, er wird als eine Art patriotischer Tat angesehen. So in dem Lied „Las Divisas“ (Die Devisen) der Gruppe „Huracanes del Norte“. Hier wird der positive Einfluss des Drogenhandels auf die mexikanische Wirtschaft gelobt.

Das Genre der „Narcocorridos“ wurde schnell sehr populär. Auch weil viele Radiosender diese Musik in einer Art Selbstzensur aus dem Programm nahmen. Das machte die Lieder interessant. Mit Platten wir „Corridos prohibidos“ (Verbotene Corrridos) heizte das die Musikindustrie das Interesse weiter an. Hier wirkten ähnliche Marketingstrategien wie bei Hip Hop und Gangsta-Rap. Die meisten Fans haben die Narcocorridos im Norden von Mexiko. In den Hauptanbaugebieten für Hanf und Mohn, den Staaten SInaloa, Durango, Chihuahua und Sonora. Für dieses Publikum ist das Narcocorrido auch eine Form des Widerstandes gegen den verordneten Mainstream. Durch ihre aus der Volksmusik abgeleitete Struktur haben diese Lieder eine identitätsstiftende Funktion. Für in den USA lebende Mexikaner wecken Narcocorridos Erinnerungen an ihre Heimat, ihre Herkunft, ihre Wurzeln. So wurden die Corridos im Laufe der Jahre zur mexikanischsten aller musikalischer Traditionen in diesem Land, „Mexicano 100 %“.

„Plata o Plomo“, „Geld oder Kugel“, das ist die Geschäftsgrundlage der mexikanischen Drogenkartelle. Wer sich nicht bestechen lässt, der wird hingerichtet. Als dem legendären Joaquin „El Chapo“ Guzmán 2003 die Flucht aus einem Hochsicherheitsgefängnis gelang, war Bestechung im Spiel. Und bald danach war auch ein Lied über die Flucht auf dem Markt. „La Fuga del Chapo“ (Die Flucht des Chapo) von El Komander. „Wo ist nun der Chapo Guzmán? Den könnt ihr lange suchen! Adios Gefängnis Puente Grande, für mich war es nicht gerade ein Knast. Ich habe mich gefühlt wie zu Hause, besser hätte ich es nicht haben können. Adios mein Kumpel Güero Palma, ich warte draußen auf dich.“

Die Straßen in Guzmáns Geburtsort La Badriaguato sind, ungewöhnlich für diese Gebirgsgegend, asphaltiert und gut beleuchtet. Auf ihnen fahren jede Menge SUVs und andere Luxusfahrzeuge. Der Bürgermeister, ein Mann mit einem Jahreseinkommen von 46.000 US $, lebt in einer gut bewachten, zweigeschossigen Villa und fährt einen BMW. Mehr als 90 % der Bevölkerung dieser Gegend arbeitet auf die eine oder andere Art im Drogengeschäft. Angefangen von den Bauern, die Opium oder Marihuana anbauen, über die jungen Männer, die als Leibwächter, Fahrer oder Piloten arbeiten, bis hin zu den Polizisten ist nahezu jeder in den Drogenhandel verwickelt. Die Kooperation von Justiz und Drogenkartellen wird auch in Liedern wie „El Judicial y el Traficante“ (Die Justiz und die Händler) abgehandelt. „Schauen Sie, Herr Kommandant. Ich weiß nichts von Gesetzen. Ich bin Drogenhändler und Sie würden mich gerne verhaften. Ich schlage Ihnen etwas Wichtiges vor. Etwas, das uns beiden zugute kommt. Der Kommandant antwortete ihm. Warum so viel Gewalt? Sagen Sie mir besser gleich was die Belohnung sein wird die ich mir verdiene, indem ich mein Hirn einschalte.“

Das Schwellenland Mexiko ist die zwölftgrößte Volkswirtschaft der Welt. Davon profitieren aber in erster Linie große Industrieunternehmen, während seit Inkrafttreten des Freihandelsabkommens NAFTA mit den USA und Kanada Zehntausende mexikanische Kleinbauern ihre Existenzgrundlage verloren haben. Nach Angaben von Mitarbeitern der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM)aus dem Jahre 2007 ist es rund drei Millionen Landwirten in Mexiko nicht mehr möglich, von den finanziellen Erträgen ihrer Ernte zu leben, weshalb ein beträchtlicher Teil der Bauern den Anbau traditioneller Produkte wie Mais zugunsten des Hanf- und Mohnanbaus aufgegeben hat. Durch diesen Wechsel werden die Bauern nicht reich, aber er ist für sie die einzige Möglichkeit, weiterhin in der Landwirtschaft und ihrer Heimat tätig zu sein. Dieses Dilemma wird in dem Corrido „Las Dos Hectáreas“ (Die zwei Hektar) behandelt: „Die zwei Hektar Land die mir mein Vater vererbte, bearbeitete ich mit Hingabe um etwas zu erreichen. Doch die Realität sieht anders aus. Ich war am verhungern. Ein Freund seit Kindertagen schlug mir eines Nachmittags vor, lass uns der Armut entfliehen, lass es uns anders nutzen. Ich schwöre euch, dass sich meine Lage/ innerhalb kurzer Zeit verbesserte.“

Mit über 35 Schallplatten seit 1968 gehören „Los Tigres del Norte“ zu den erfolgreichsten Bands in Mexiko. Sie hatten das Glück niemals bei den Drogenbossen in Ungnade gefallen zu sein. Das kann tödlich sein, genauso wie in den Liedern einem der Kartellbosse vielleicht doch ein bisschen zu sehr auf die Füße zu treten oder den falschen Ton anzuschlagen. 13 Musiker wurden in den letzten Jahren umgebracht. Drogenbosse sollen Karrieren finanzieren, heißt es. Da sind despektierliche Textzeilen schlecht für die Sänger. Trotzdem machen sie weiter – und tragen beim Auftritt schusssichere Westen. Nicht wegen der Optik. Es kommt schon mal vor, dass Corridistas nach Konzerten beschossen werden.

Als einer der wichtigsten Vertreter des modernen Narcocorridos galt Rosalino „Chalino“ Sánchez. Aus armen Verhältnissen stammend, lebte er das brutale Leben, das er besang. Er beschwor das Leben eines Drogenschmugglers. Im realen Leben erschoss Sánchez den Vergewaltiger seiner Schwester, war in diverse andere Schießereien verwickelt und saß eine Zeit lang im Gefängnis. Außerdem verkaufte und schmuggelte er in seinen frühen Jahren Drogen. Sein erster Songtitel handelt von der Ermordung seines Bruders. Sánchez lebte und starb wie ein Narco. 1992 wurde er mit zwei Kugeln im Kopf in einem Kanal aufgefunden. In der Narcocorrido-Szene wurde er zur Legende und ging als Godfather der Narco-Ballade in die Geschichte ein.

Viele Narcocorrido-Sänger sehen sich lediglich als Chronisten die besingen, was Schlagzeilen macht. Tatsächlich ist der Inhalt einiger Lieder mitunter exklusiver als es die Berichterstattung der Medien je sein könnte. Oft ist die musikalische Verbreitung von Nachrichten von den Organisationen diktiert. Sehr häufig enthalten die Lieder Mitteilungen an verfeindete Kartelle.

Mit dem Drogenkrieg wurden auch die Songs blutiger. Mehrere Balladen erzählen die Geschichte eines Killers, bekannt als „stew maker“, der die Körper von 300 Opfern des Tijuana Kartells in Säure auflöste. Um der Brutalität der Songs Rechnung zu tragen, wurde das Subgenre der corridos enfermos (Kranke Balladen) etabliert. Einer dieser Songs beschreibt bildlich wie Killer in ein Haus gehen und eine ganze Familie verstümmeln. Neben der Verbreitung erschreckender Ereignisse, liefert die Hofberichterstattung der Interpreten auch Menschliches, beinahe Mitreißendes. So wurden für das Sinaloa Kartell Lieder über den tragischen Tod von Edgar Guzmán, Sohn von „El Chapo“, komponiert. Er wurde 2007 während eines Einkaufsbummels auf offener Straße erschossen.

Narcocorridos sind Teil der Drogenkultur indem sie deren Verankerung in der Bevölkerung forcieren. Darüber hinaus sind sie ein Mittel der Glorifizierung der Narcos. Das Komponieren von Songs ist zudem eine lukrative Einkommensquelle. Während weniger bekannte Musiker rund 1000 US $ für ein Lied bekommen, können Szenegrößen für eine Hymne über ein hochrangiges Kartellmitglied Beträge im fünfstelligen Bereich verlangen. Eine weitere Einnahmequelle sind Auftritte bei privaten Feiern der Narcos. Stars der Szene stellen für einen Auftritt um die 100.000 US $ Dollar in Rechnung. Gonzalo Peña hat schon für alle Kartelle komponiert. Für ein Corrido kassiert er bis zu 40.000 US Dollar. Er war der erste der ein Lied über die im Januar 2014 erfolgte Festnahme von „El Chapo“ Guzmán schrieb. „Er ist eine bekannte Persönlichkeit und im Moment wird über nichts anderes gesprochen“ sagte Peña in einem Interview der Zeitung „La Jornada“. In „La captura de El Chapo“ (Die Festnahme von El Chapo) singt Peña „Der Regierung ist ein dicker Fisch ins Netz gegangen. Auf fünf Kontinenten war er der Übervater“.

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Geschrieben von

Goggo Gensch

Autor, Dokumentarfilmer, Kurator. Lebt in Stuttgart.

Goggo Gensch

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