Die Macht der Ohnmächtigen

Proteste halten an Die Hochschule von Ayotzinapa und die Folgen des Massakers an den Studenten. Die größten Proteste in Mexiko seit 1968

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Ein Konvoi mit Bussen ist in Chilpancingo, der Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaates Guerrero, gestartet um in allen Landesteilen Unterstützung für die Forderung der Eltern der verschwundenen und mutmaßlich ermordeten Studenten von Ayotzinapa zu suchen. Diese „nationale Brigade für die 43 Verschwundenen“ wird von Mitgliedern des Mexikanischen Verbandes sozialistischer Bauern und den Eltern organisiert. Am kommenden Donnerstag soll auf dem Zócalo, dem Hauptplatz in Mexiko-Stadt eine große Abschlusskundgebung stattfinden.

Währenddessen breiten sich massive Proteste gegen den Umgang der Regierung mit den Verschwundenen im ganzen Land aus. Autobahnen werden blockiert, Flughäfen, Rathäuser und Einkaufszentren besetzt. Letzten Freitag demonstrierten tausende Studierende in Chilpancingo. Sie forderten die Amtsenthebung von Mexikos Präsident Enrique Peña Nieto und Haftstrafen gegen den ehemaligen Gouverneur von Guerrero, den Ex-Bürgermeister von Iguala und seine Frau sowie den Polizeichef. Bislang gab es im Zusammenhang mit dem Angriff auf die Studenten am 26. September 74 Festnahmen, darunter Polizisten und andere mit dem organisierten Verbrechen verbundene Personen. Eine derart heftige Mobilisierung hat Mexiko seit den Studentenprotesten 1968 nicht mehr erlebt. Sie ist entstanden aus der Ohnmacht der Machtlosen.

Das Massaker an den Studenten markiert einen Wendepunkt in dem Land, das in den letzten Jahren von einer Welle der Gewalt mit 100.000 Toten und mehr als 26.000 verschwundenen Menschen erfasst wurde. Mit den Studenten hat diese Gewalt nun auch politische Aktivisten erfasst. Es ist kein Zufall, dass es gerade Studenten dieser Schule getroffen hat.

Die Hochschule in Ayotzinapa an der die 43 jungen Männer studierten, bildet ganz bewusst ausschließlich Lehrer aus armen Bevölkerungsschichten aus. Nach ihrem Studium sollen sie den sozialen Wandel in ihren Dörfern voranbringen. Mit diesem Auftrag wurde die Hochschule 1926 im postrevolutionären Mexiko gegründet. So lange es sie gibt, hatte die Hochschule Schwierigkeiten eine ausreichende Finanzierung zu bekommen. Ihre Studenten haben immer gegen soziale Missstände, gegen die fehlende Rechtsstaatlichkeit, gegen die Korruption in Polizei und Politik gekämpft. Zu ihren bekanntesten Absolventen gehörten Lucio Cabanas, Genaro Vazquez und Othon Salazar.

Lucio Cabanas, der Enkel eines Guerilleros der mit Emiliano Zapata kämpfte, arbeitete in seiner Kindheit als Kaffeepflücker. Nach seinem Studium in Ayotzinapa wurde er Lehrer in der Sierra de Atoyac. Auf einer friedlichen Demonstration im Mai 1967 in Tecapan zu der Cabanas aufgerufen hatte, richtete die Polizei ein Massaker an. Cabanas floh in die Berge Guerreros und gründete dort die „Partido de los Pobres“, die „Partei der Armen“. Diese Guerillatruppe kämpfte gegen die Willkür der Großgrundbesitzer. Sie entführte Politiker und überfiel Banken. Mit dem erbeuteten Geld wurden soziale Projekte in Guerrero unterstützt. Als Cabanas 1974 verhaftet werden sollte rief er „Ich werde euch nicht den Gefallen tun, dass ihr mich tötet“. Dann erschoss er sich selbst. Andere Mitglieder der „Partei der Armen“ wurden nach ihrer Gefangennahme vom Polizeichef Guerreros über dem Pazifik ins Wasser geworfen.

Genaro Vazquez war nach seinem Studium Leiter der Lehrergewerkschaft von Guerrero. Er kämpfte gegen die Enteignung von Kleinbauern und die fehlende Rechtsstaatlichkeit. 1960 führte er eine Demonstration nach Mexiko-Stadt. Kurz danach wurde er wegen Beleidigung des Gouverneurs und Verschwörung verhaftet. 1968 wurde Vazquez aus dem Gefängnis befreit. Er schloss sich den Guerrileros der Nationalen Revolutionären Bürgervereinigung an. Sein Tod ist bis heute nicht geklärt. Am 2. Februar 1972 kam er nach einem Autounfall in ein Krankenhaus in Morelia. Seine Verletzungen sollen nicht tödlich gewesen sein. Es gibt Gerüchte, dass die Soldaten, die ihn dorthin brachten, Vazquez umbrachten. Der Sänger Oscar Chavez, ein Unterstützer der Zapatisten, widmete Vazquez ein Lied.

Othon Salazar starb 2008 eines natürlichen Todes. Nachdem er als Gewerkschaftler mehr Lohn für die Lehrer in Guerrero verhandeln wollte, wurde er gefoltert und beschuldigt ein Spion Moskaus zu sein. Später kandidierte er vergeblich als Mitglied der Kommunistischen Partei für den Gouverneursposten in Guerrero.

Der Kampf dieser drei Absolventen der Hochschule von Ayotzinapa war Teil des sogenannten Schmutzigen Krieges der Mexiko in den 1960er und -70er Jahren beherrschte. Der von der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) autoritär regierte Staat bekämpfte Studenten und linke Oppositionelle. Tausende Menschen wurden ermordet oder verschwanden mit zum Teil bis heute nicht geklärtem Schicksal. Seinen Höhepunkt fand dieser Krieg 1968 als in Mexiko City hunderttausende Studenten gegen die Geldverschwendung für die Olympischen Spiele demonstrierten. Am 2. Oktober erschoss das Militär auf dem Platz der drei Kulturen während einer friedlichen Kundgebung mehrere hundert Studenten. Diese Morde wurden lange nicht aufgeklärt und sind bis heute ein unbewältigtes Trauma in Mexiko. Die PRI regiert Mexiko seit 1929 mit Ausnahme von zwölf Jahren ununterbrochen. Sie hat sich zu einer neoliberalen Wirtschaftspartei entwickelt und mit ihrer Patronage sämtliche Institutionen Mexikos durchdrungen. Auch der amtierende Präsident Enrique Pena Nieto gehört der PRI an.

Das Wort „Ayotzinapo“ wurde von den Herrschenden in den letzten Jahren mit „Krawallmacher“ gleich gesetzt. Ein öffentlicher Widerstand gegen die wirtschaftsfreundlichen Reformen von Enrique Pena Nieto ist nicht erwünscht. Aber diese Reformen brachten den einfachen Menschen Mexikos - 50 % der Bevölkerung gelten als arm - nicht mehr Geld. Genauso wenig wie das Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada. Zudem übt die Drogenmafia weiter ihren brutalen Terror aus. Sie hat mittlerweile ganze Wirtschaftszweige übernommen und Teile des Landes in eine rechtsfreie Zone verwandelt. Vor diesem Hintergrund war es möglich, dass kritische Studenten von Staatsorganen an die kriminellen „Guerrero Unidos“ zur Ermordung weiter gegeben wurden. Diese Spirale der Gewalt hat viele Ursachen. Die meisten Menschen in Mexiko haben keine Chance, ein Leben in Würde zu führen. Mexiko hat sich für transnationale Unternehmen geöffnet, kontrolliert diese aber nicht. So kommt es zur Ausbeutung seiner Bewohner, seiner Natur, seiner natürlichen Ressourcen. Durch die Armut konnte das organisierte Verbrechen alles infiltrieren, die Bevölkerung genauso wie die Polizei, die Behörden und die Justiz. Viele Kinder und Jugendliche möchten heute nicht mehr Lehrer oder Arzt werden, sondern Drogenhändler. Sie sehen, dass man damit Geld verdient und endlich aus der Armut herauskommt. Es gibt keine wirtschaftliche Entwicklung in Mexiko, die der Bevölkerung ein Leben in Würde ermöglicht. Dabei hat Mexiko äußerst fortschrittliche Gesetze. In ihnen sind die Rechte der Menschen und auch deren Durchsetzung klar definiert. Das Problem ist, dass diese Gesetze nicht durchgesetzt werden.

Den Eltern der verschwundenen Studenten, Menschenrechtsorganisationen, Rechtsanwälten und Intellektuellen wie Elena Poniatowska ist es zu verdanken, dass dieser Fall nicht wie unzählige andere in der Vergangenheit unbearbeitet zu den Akten gelegt wurde. Im Gegenteil, er hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Die mexikanische Gesellschaft will und kann die ständige Gewalt nicht mehr ertragen.

Nur, wie soll es weiter gehen? Was könnte eine Lösung des derzeitigen Dilemmas in Mexiko sein? Das Vertrauen der Mexikaner in sämtliche politische Parteien ist dahin. Keine der politischen Parteien war in den letzten Jahren offen und ehrlich gegenüber ihren Wählern. Im Gegenteil, alle waren sie Teil des schmutzigen Systems. Bevor es zu einer Lösung kommt, müssten sich die Parteien selbst schonungslos analysieren und dann die Richtung bestimmen, in die sie gehen wollen. Nur mit einer ehrlichen Bereitschaft zur Aufarbeitung können sie vielleicht irgendwann das Vertrauen wieder herstellen. Es fehlt auch der Druck aus dem Ausland. Solange in den USA ohne große Formalitäten Waffen gekauft werden können, mangelt des den Drogenkartellen nicht an Nachschub. Solange die internationalen Banken das Drogengeld problemlos in den Geldkreislauf speisen, können diese Vereinigungen weiter arbeiten. Solange ihre Finanztransaktionen nicht überwacht werden, wird nichts geschehen. Solange Mexikos geschmeidiger Präsident für seine neoliberalen Reformen gelobt wird, ändert sich nichts. Auch die europäischen Regierungen haben kein Problem damit, ein Land zu unterstützen wollen, das in Rechtlosigkeit versinkt, dass seine Menschen allein lässt in der Zwickmühle zwischen der Gewalt krimineller Organisationen und der Rechtlosigkeit staatlicher Institutionen. Mexiko hat einen langen, steinigen Weg vor sich.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Goggo Gensch

Autor, Dokumentarfilmer, Kurator. Lebt in Stuttgart.

Goggo Gensch

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