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Eine Filmkritik Über den Dokumentarfilm „Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“

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Vor zehn Jahren, am 21. August 2010, starb der Künstler Christoph Schlingensief. Einen Tag vorher, am 20. August, startet der Dokumentarfilm „Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“ in den Kinos. Dieser Film von Bettina Böhler ist, das lässt sich schon jetzt im Sommer sagen, der beste Dokumentarfilm des Jahres. Man muss ihn einfach rühmen so komplett, so schlüssig, so anrührend und anregend ist er. Bettina Böhler hat diesen Film in unzähligen Stunden im Schneideraum komplett aus Archivmaterial montiert. Das Ergebnis ist das Portrait eines Künstlers, den man schmerzlich vermisst und an den man sich mit großer Wehmut erinnert.
In den ersten Minuten stellt der Film sein Prinzip dar, Christoph Schlingensief zeichnet seine Lebenslinie. Wenn diese Linie aus der Ordnung kommt, dann entsteht „eine Art Chaossituation, weil ich nicht weiß, wer ich bin.“ Sein Engagement in Bayreuth, dort inszenierte er 2004 den „Parzifal“, war solch eine Chaossituation, die, so Schlingensief, zu einer Entartung in seinen Zellen führte.

„Wo ich herkomme, wo ich hinsause“ das zeigen die folgenden zwei Stunden. Interviews die der Künstler mit Alexander Kluge, Harald Schmidt und anderen führte, Ausschnitte seiner Filme, Szenen aus seinen Aktionen und Theaterstücken sowie private 8-mm Aufnahmen. Schon als Baby wurde Christoph Schlingensief immer wieder gefilmt. Er ist das einzige Kind eines Apothekers und einer Kinderkrankenschwester. Seine Kindheit in diesem bürgerlich-katholischen Elternhaus scheint durchaus glücklich. Die 8-mm Aufnahmen seiner Eltern zeigen ein aufgewecktes und gar nicht schüchternes Kind, das sich schon bald für das Schmalfilmhobby seines Vaters interessiert. Besonders faszinieren ihn die versehentlich gedrehten Doppelbelichtungen eines Nordseeurlaubs. Was passiert, wenn sich Dinge übereinanderlegen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben? Das wird später auch ein Prinzip seiner Filme, die, im wahrsten Sinne des Wortes, Spiel-Filme sind. Schon als Kind strahlte Christoph Schlingensief eine Gewissheit aus, dass ihm nichts passieren kann, so etwas wie Gottvertrauen.

Mit der Kamera seines Vaters dreht er als Achtjähriger seinen ersten Film, er zeigt einen Fahne schwenkenden Nachbarn und ein Rennen mit einem Go-Kart. Letzteres muss wegen des notwendigen Aufziehens der Kamera immer wieder unterbrochen werden. Der junge Schlingensief dreht weiter Filme, die Vorlage sind Groschenromane. Der Aufwand ist beachtlich. Als Jugendlicher gründet er die AmateurFilmCompany 2000. Das Jahr 2000 faszinierte ihn nachhaltig, vermutlich weil es damals noch weit entfernt und utopisch fern schien. „Terror 2000“ ein Filmtitel aus dem Jahr 1992. Fünf Jahre später dann die Talkshow „Talk 2000“. 1998 die Partei „Chance 2000“ mit der er am Wolfgangsee, dem Urlaubsort des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, eine Kunstaktion veranstaltete, zu der er alle sechs Millionen deutschen Arbeitslosen zum Baden einlud, damit der See überlaufe.

Nach seinem Abitur wollte Christoph Schlingensief an die Münchner Filmhochschule und holte sich dafür die Fürsprache von Wim Wenders, dessen Vater, ein Arzt, die Schlingensiefsche Apotheke kannte. Dazu fuhr er extra nach Venedig wo Wenders seinen Film „Der Stand der Dinge“ vorstellte. Am meisten Eindruck machte auf Schlingensief die Begleitung von Wim Wenders, Isabella Rossellini. Mit der Filmhochschule wurde es ebenso nichts wie mit einem Pharmaziestudium, das wäre der Wunsch seines Vaters gewesen. Der meinte immer „Erinnern heißt vergessen“. Dem konnte Christoph Schlingensief nichts abgewinnen. Er arbeitete sich an Deutschland und dessen Beschädigungen ab. Beschädigungen deren Ursache für Schlingensief auch Informationen sein könnten, die in den Zellen mitgeschleppt werden und sich dort lange vor unserer Zeit eingenistet haben.

Sein Film „Menu total“ lief 1986 während der Berlinale im „Forum des Jungen Films“. „Wim Wenders ging nach zehn Minuten und mit ihm 400 andere Menschen“. Immerhin blieben 400 Menschen im Kino, auch sein Vater, der nach dem Film weinte. Regisseur Werner Nekes, bei ihm hatte Schlingensief einige Zeit assistiert, hielt den verstörenden Film für faschistoid, Schlingensiefs Tante fand ihn großartig und Udo Kier musste lachen. Fortan arbeitete er mit Christoph Schlingensief. Auch wenn er sich bei den Dreharbeiten für den Film „Egomania – Insel ohne Hoffnung“ über zu wenig Beachtung beschwerte. Schlingensief und seine Hauptdarstellerin Tilda Swinton hatten eine heftige Affäre.

Christoph Schlingensief war über einige Ecken mit Joseph Goebbels verwandt. „Vielleicht gibt es da Moleküle in mir, eine Angst, hoffentlich kommen die nicht zur Wirkung“, meinte er in einem Interview. Und so wie sein Vater, der Apotheker, mit kleinen Dosen Gift Krankheiten heilte, machte er mit künstlerischer Dosierung die deutschen Vergiftungen sichtbar. Der Film „Mutters Maske“ folgt der Theorie, dass Fassbinder nicht von Douglas Sirk beeinflusst war, sondern vom Naziregisseur Veit Harlan und dessen Film „Opfergang“. Das dritte Reich interessierte Schlingensief weil er dessen Größenwahn nicht begreifen kann. Immer wieder fragte er sich „Wo kommt er her, all dieser Hass, das ist einfach schon da, dieser Ausländerhass“. Christoph Schlingensief arbeitete sich gründlich an Deutschland ab. Die Angst war dabei eine entscheidende Triebfeder. „Wenn ich merke, dass ich nicht gebraucht werde, dann werde ich wertlos, dann muss ich mir einen Wert schaffen, dieser Wert könnte Angst sein.“ Bei allem was er machte, war die Angst als Boden da und diese Angst wollte er sich auch nicht nehmen lassen. Zu traumatisch war der Satz eines WDR-Redakteurs, der, nachdem er einige frühe Filme von ihm gesehen hatte, meinte: „Eines ist klar, du wirst niemals einen Menschen lieben können.“ Davor und vor dem viel gestaltigen deutschen Erbgut, das wir alle mit uns tragen, hatte er Zeit seines Lebens Angst. Christoph Schlingensief liebte die Menschen und wollte von ihnen geliebt werden. Letzteres aber nicht zu sehr. Nach einer legendären Aktion in Wien, die Menschen konnten Asylbewerber auswählen, die abgeschoben werden sollten, war ihm der Beifall, es den Ösis gezeigt zu haben, zu viel, zu laut und zu falsch.Wunderbar die Szene, in der er beschreibt, wie er den Platz vor der Wiener Oper als Fläche für die Wohn-Container mit den zur Auswahl stehenden Asylbewerbern, zugewiesen bekam. Wenige Jahre vor seinem Tod inszenierte er für die Ruhrtriennale 2008 „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“. In diesem Requiem setzte er sich mit seinem Lungenkrebs auseinander und stellte sich einmal mehr seiner Angst.

Nach der so genannten Wiedervereinigung dreht er seinen vielleicht berühmtesten Film „Das deutsche Kettensägenmassaker“. Inspiriert wurde er dazu von einer Spiegel TV – Reportage. Westdeutsche jagen Ostdeutsche um Wurst aus ihnen zu machen. Nach diesem Film holte ihn die Berliner Volksbühne. Christoph Schlingensief hatte bis dahin mit Theater nichts am Hut, bekam aber eine Carte Blanche, er durfte machen, was er wollte. So schrieb und inszenierte er das Stück „100 Jahre CDU“. Mit einer Inszenierung entlarvte er die Politik, die sich selbst inszenierte. Das Theater blieb fortan bis zu seinem Tod sein wichtigstes Medium. In Zürich brachte er „Hamlet“ auf die Bühne zusammen mit Aussteigern aus der Nazi-Szene, denen er eine neue Perspektive eröffnen wollte. Und in Bayreuth durfte er den „Parzifal“ inszenieren. Am gleichen Tag als er diese Zusage erhielt, sprang der FDP Politiker Jürgen Möllemann freiwillig mit einem Fallschirm in den Tod. Ihn und Guido Westerwelle hatte er kurz zuvor in einer Aktion mit stinkenden Fischen wegen antisemitischer Äußerungen heftig attackiert. Bei den Wagner-Festspielen musste Christoph Schlingensief lernen, wie wenig der Bayreuther Gralshüterfamilie Wagner ein Regisseur wert ist, da scheinen Zahnwurzelentzündungen und das Fotografier-Verbot während der Proben wichtiger zu sein als die inhaltliche Arbeit. „Der Regisseur ist unerwünscht, er stört, weil er nicht weiß wie er mit der Musik umgehen soll.“ Das Klima im Festspielhaus beschrieb er als eine Mischung aus „Fascho und Stasi“. Ihm wurde auch klar, warum die Nationalsozialisten so von Bayreuth begeistert waren. „Bayreuth ist ein Ort wo man sterben will. Die Nazis waren begeistert, weil sie in Bayreuth sich als auch den Tod feiern konnten.“

Christoph Schlingensief musste die AFD nicht mehr erleben, die wurde erst drei Jahre nach seinem Tod gegründet. Dennoch, in Zeiten in denen wieder Faschisten in deutschen Parlamenten sitzen, muss man sich schon fragen, wie er er auf solch eine Partei reagiert hätte? Wie wäre er, der sich nie um politische Korrektheit geschert hat, mit Typen wie Höcke, Gauland oder Kalbitz umgegangen? Was für Aktionen wären ihm angesichts des Flüchtlingselends im Mittelmeer eingefallen? Was für Stücke, was für Filme hätte er in der heutigen Zeit inszeniert? Im ganzen Land ist weit und breit kein Künstler, der diese Lücke auch nur annähernd schließen kann. Auch wenn er scheiterte, hat Christoph Schlingensief immer der Wahrheit ins Gesicht geschaut. „Es geht darum, diesen Schmerz, der vorher auf der Erde schon stattgefunden hat, mit einzubeziehen. Das heißt auch den Schmerz von Leuten, die gestorben sind, weil andere meinten, sie wären besser und wichtiger und haben die anderen in den Ofen geschoben. Also all diese Ebenen spielen jetzt bei mir eine viel, viel zentralere Rolle. Ich kann nicht mehr einfach nur in den Tag hineinleben und sagen, naja so ist es halt, sondern ich habe das Gefühl, ich habe eine Riesenverantwortung, dass ich überhaupt hier sein darf.“

Er durfte nicht lange genug hierbleiben. Diesen großen Verlust macht der Film sichtbar. Er weckt aber auch die Neugier auf die nachgelassenen Arbeiten von Christoph Schlingensief. Irene von Alberti und Frieder Schlaich, die Produzenten dieses Dokumentarfilms, haben in ihrer Filmgalerie 451 viele, wichtige Theaterstücke und Filme für die Nachwelt parat. Zum Wiedersehen und zur Inspiration für eine allzu müde und satt gewordene Kunstszene.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Goggo Gensch

Autor, Dokumentarfilmer, Kurator. Lebt in Stuttgart.

Goggo Gensch

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