Alles erledigt – oder ?

Paris Bar „Der Prinz der Theke“ hat seine Erinnerungen geordnet. Das Pandemie Journal des Künstlers und Gastronomen Michel Würthle ist im Steidl Verlag erschienen

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Hier versammelte sich, was in der Kunstwelt Rang und Namen hat – oder eben, wer diese gerne begafft
Hier versammelte sich, was in der Kunstwelt Rang und Namen hat – oder eben, wer diese gerne begafft

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Als die Berlinale ihr Zentrum noch rund um den Zoopalast in Westberlin hatte, stürzte die so genannte Filmbranche vor und nach den Filmen meist in einem Pentagon zwischen den Lokalen Diener, Terzo Mondo, Zwiebelfisch, Florian und Paris Bar ab. Solche Abstürze sind seltener geworden und das liegt nicht nur an der Umsiedlung der Filmfestspiele.

Die Paris Bar, an der Kantstraße in Berlin-Charlottenburg gelegen, galt einmal als das wichtigste Künstlerlokal Deutschlands. Allabendlich wird sie von Gästen jeglichen Alters, Geschlechts und Couleur frequentiert, besonders beliebt bei Künstler*innen aus jedem Genre, Kunstsammler*innen und Galerist*innen. Dazu gesellen sich allerlei sonstige Wichtigtuer samt weiblicher wie männlicher Gaffer, die auch mal das, was sie für die große Welt halten beschauen wollen. Legendär sind die in Petersburger Hängung bepflasterten Wände mit Werken unter anderen von John Baldessari, Georg Baselitz und Joseph Beuys.

Als ich, es muss 1983 oder 84 gewesen sein, das erste Mal in der Paris Bar landete, wusste ich nichts von dem Lokal. Den Wirt aber konnte ich sofort identifizieren. Ein eleganter Mann, die obersten drei Knöpfe seines weißen Maßhemds geöffnet, in der Hand eine Zigarette. Mit grantigem Wiener Dialekt dirigierte er seine Kellner*innen, platzierte Gäste und signalisierte mit jeder Geste seinen unbedingten Überblick. Er sah und spürte alles was in dem Lokal vor sich ging und führte mit unterschiedlichen Gästen mehrere Gespräche gleichzeitig.

In der Pandemie widmet sich der Gastronom dem Zeichnen

Die Pandemie traf naturgemäß auch die Paris Bar. Und ihr Wirt, der Künstler Michel Würthle hat die Zeit genutzt, um zu zeichnen, zu schreiben und seine Erinnerungen zu ordnen. Wie viele andere Lokale musste auch Würthle einen Abholservice einrichten um zu überleben. Er versah seine Speisekarten mit Zeichnungen und Notizen, kramte und ordnete alte Fotos und Bilder. Am 12. April 2020, dem Ostersonntag, konnte man beispielsweise eine „Terrine des Foie Gras“ bekommen oder auch „Geschmorte Lammkeule mit Gratin und grünen Bohnen“. Zur Karte malte Würthle einen Mann mit Cowboyhut, im Hintergrund eine Burg, davor Palmen. Drum herum der Text: „Wenn mich der Tod dereinst ereilt – auf schäumender See – in einem verdammten Frachter. So schmeisst mich in die nächste Bucht damit mich die schwarzen Fische fressen und das salzige Wasser mich spurlos verschlingt.“

Der Tod ist immer wieder ein Thema in den Bildern Würthles. Während der Pandemie wurde bei ihm Krebs diagnostiziert. Letzten Oktober starb sein früherer Partner Oswald Wiener. Sein bester Freund Martin Kippenberger schon 1997.

Auf einer Schwarz-Weiß Zeichnung ist ein Totenbett festgehalten, daneben und darüber Tafeln mit den Daten gestorbener Freunde, Familienmitglieder und seiner großen Liebe Katerina, die 2005 verstarb. Dazu der Text: „Herrgott ! Gütiger Gott ! Mögen die leeren Tafeln noch lange Zeit nicht die Namen jener geliebten Menschen tragen deren Tod mich in die große Verlassenheit stürzen wird. Diese Namen werde ich auf diesem käuflichen Papier nicht preisgeben. Erhöre mein Flehen o Herr.“

Auch der verstorbene Schauspieler Otto Sander ist auf einem Foto des Journals zu sehen, dazu der Text: „The past is unpredictable“ (Die Vergangenheit ist unvorhersehbar). Otto Sander gehörte zu den Schauspielern von Peter Steins Schaubühne, die das Theater revolutionierten wollten und rasch zu Stammgästen wurden. Viele Jahre später, präsentierte mir Otto Sander, nach getaner Arbeit, stolz das Messingschild mit seinem Namen am Tresen der Paris Bar. Für ihn schien es gleich bedeutend mit einem Fensterplatz im Paradies. Dann ging er zu Bier und Whisky über.

Als Udo Walz, Stammgast der Paris Bar, starb, widmete ihm Michel Würthle ein Bild: „Der regierende Friseur ist gestern Nacht gestorben. Adieu mon cher Ami.“ Vom regierenden Friseur hat sich Würthle nie die Haare schneiden lassen. Er hat einen türkischen Friseur, der ihn einst beraten wollte und den er deswegen auch verewigte. „O Michel Effendi, probier mal meine neueste Bio-Toupet-Creation Modell. Kick it like Beckham. Glatzen Problem gelöst für kleines Geld. Nix da mein Freund, ich bestehe auf meinen guten alten Armani-Atatürk-Cut, den mir dein verehrter Herr Vater bereits ab 1979 verpasst hat.“

Er kam für drei Tage – und blieb

Michel Würthle kam am 3. Mai 1970 nach Berlin. Auch das ist auf einer Zeichnung fest gehalten. Eigentlich wollte er nur drei Tage bleiben und seinen Freund, den Schriftsteller Oswald Wiener und dessen Frau Ingrid besuchen. Außerdem eine Ausstellung von Christian Ludwig Attersee. Es gefiel ihm und er blieb. Zwei Jahre später eröffnete das Trio am Paul Lincke Ufer das Restaurant Exil. Es wurde schnell zu einer Anlaufstelle für Intellektuelle und Künstler*innen. Für viele Berlin Chronisten wurde die Mauerstadt durch das Exil zu einer internationalen Stadt.

Berlin machte in jenen Jahren einen etwas verwahrlosten Eindruck. An den Hauswänden waren noch jede Menge Einschusslöcher zu sehen. Ruinen und Brachen prägten das Stadtbild, die Luft war dick und schwer von der Kohlebefeuerung. Aber Berlin hatte keine Sperrstunde und das Geld spielte noch nicht die heutige Rolle. In einem Interview, nachzusehen auf Youtube, sagte Blixa Bargeld: „Es war viel billiger als irgendwo sonst in Deutschland. In Westberlin konntest du überleben mit nix.“

Joseph Beuys war es, der das Exil möglich machte. Ende der 1960er Jahre hatte er seine Studenten nach Wien geschickt, damit sie dort bei Oswald Wiener und dessen Freunden lernen konnten, wie politische Kunst entsteht und welche Kraft Happenings entfalten konnten. Wiener und Beuys waren so etwas wie Seelenverwandte. Als Beuys erfuhr, dass Geld fehlte, um das neue Lokal in Kreuzberg zu eröffnen, verkaufte er eine Skulptur und stellte den Gewinn als Startkapital zur Verfügung. Andere Künstler halfen das Lokal herzurichten. Aktionskünstler Günter Brus schuf ein Deckengemälde. Dieter Roth eine Tapete. Als Honorar gab es freies Trinken auf Lebenszeit. Markus Lüpertz wurde zum ersten Stammgast. Später folgten David Bowie und Rainer Werner Fassbinder, Max Frisch und Jack Nicholson. Der sagte an jedem Abend, an dem er kam: „This is the best place in the world.“ Denn betrank er sich hemmungslos. Während Dreharbeiten in Berlin war auch Peter O´Toole zwei Wochen lang jeden Abend im Exil. An seinem letzten Berliner Abend tanzte er mit Ingrid Wiener im von Efeu begrenzten Garten des Lokals den Donauwalzer. Das Exil war eine Erfolgsgeschichte mit Wiener Küche und österreichischem Wein.

1979 zieht es Michel Würthle vom Exil in die Paris Bar. Ein gut vernetzter Gast, Otto Schily, gab den Hinweis, dass man das Lokal pachten könne. Die Stammgäste zogen mit. Allen voran Martin Kippenberger. Der fragte Würthle einst, ob es was zu essen gebe. „Es gibt Reis mit Scheiß“, sagte Würthle und Kippenberger antwortete „Zum halben Preis“. Das war der Beginn einer großen Freundschaft, natürlich auch in einer Zeichnung verewigt, der Datierung nach war dies am 29. April 1976.

Kein Wunder, dass Martin Kippenberger in den Pandemie Journalen immer wieder auftaucht. Auf Fotos von sich und seinen Werken (etwa die „Sympathische Kommunistin) oder auch in einer Zeichnung über das Begräbnis von Kippenberger am 21.3.1997 im burgenländischen Jennersdorf als die „Fahrbereitschaft Berlin“ als „verlorener Haufen“ zurückkehrt.

Alles Seifenblasen

Über seine Paris Bar schreibt Würthle in einer Zeichnung: „Es ist schwer, jemandem etwas über die Paris Bar zu sagen, der nichts von ihr weiß. Außer vielleicht, dass sie berühmt ist für ihre Berühmtheit. Die Paris Bar ist ein großer Dichter, ein großes Lokal. Napoleon ist nicht so groß wie die Paris Bar. Und Bismarck ist im Vergleich zur Paris Bar einfach Seifenblasen. Überhaupt sind alle Menschen Seifenblasen im Vergleich zu David Bowie, nur im Vergleich zur Paris Bar sind auch Iggy Pop und David Bowie eine Seifenblase. Deshalb schreibe ich statt über die beiden besser etwas über die Seifenblasen-Nächte in der Paris Bar. Obwohl die Paris Bar so groß ist, daß man über sie nichts schreiben sollte … außer in diesem Fall.“

Der Kunsthistoriker Fabrice Hergott hat die Paris Bar so beschrieben: „Man geht dorthin um dieses Café zu bewundern, das das Prinzip der Colombe d`Or in Saint-Paul de Vence oder der Kronenhalle in Zürich mit dem Spott und der Selbstironie der den Planeten überflutenden Punkbbewegung verbindet. Das Punkflair wird sich nie ganz aus der Paris Bar verflüchtigen – eine Persistenz, die Rätsel aufgibt, aber wohl in der Persönlichkeit von Michel Würthle zu finden ist.“

Private Erinnerungen wechseln sich in den sechs Bänden ab mit Fotos von Stammgästen und sentimentalen Bemerkungen. Da findet sich ein Foto von einem Garage-Sale bei Ingrid und Oskar Wiener, kurz bevor die beiden nach Alaska an den Yukon zogen.

Eine Zeichnung ist dem mit zwei Sträußen bewaffneten Blumenverkäufer auf der Kantstraße gewidmet. Darauf die Worte: „Sehr geehrter Herr Aimaq, Sie sind seit langer Zeit der Blumenverkäufer meines Vertrauens. Darf ich sie als den Afghanischen Rosenkavalier der westlichen Kantstraße bezeichnen ?Und für meine Frau KK 50 rote Rosen bitte. Auf ein Wiedersehen hoffentlich im Mai, spätestens im Juni …. 2021.“ Frau KK, Würthles zweite Frau, ist selbstredend auch öfter zu sehen.

Michel Würthle ist ein eitler Mann geblieben. Einer der sich gerne einen Mantel aus gutem Tweet schneidern ließ und immer Wert auf sein Äußeres legt.So hat er auch den Ausschnitt einer Kritik über seine Zeichnungen und Bilder beigefügt. 2018 hat er sie bei seinem Freund Bruno Brunnet in der Galerie „Contemporary Fine Arts“ ausgestellt. Als Brunnet in den 1970er Jahren nach Berlin kam, fand er übrigens seinen ersten Job als Kellner im Exil. Über Würthles Zeichnungen ist zu lesen: „Michel Würthle gehört zu der kleinen Gruppe des démon de midi. In den Untiefen der Lebensmitte angekommen, bietet ihm das Zeichnen, wie er selber sagt, in Form „eines einsamen und schmerzvollen Werks der Sublimation“ einen eleganten Ausweg aus den Risiken des sexuellen Scheiterns. Die züchtige Fabel vom Rückzug der Weisheit baut auf Ironie und schwarzem Humor, den zwei unausweichlichen Ausprägungen seiner Gefühlswelt … Michel Würthle könnte auch den Horden- und Bandenkünstler zugezählt werden: er gehört zu jener von Martin Kippenberger, d.h. zur Berliner Sektion dieser gefährlichen Gang. Als solcher setzt er die Reihe der „Schlechtmacher“ der modernen Kunst fort, der rohen und zugleich zärtlichen Chronisten der angefaulten Fassaden der Metropolen. In der Nachfolge von Max Beckmann, Otto Dix oder George Grosz zeichnet Michel Würthle mit seinem Skalpell am Tagebuch unserer schlaflosen Nächte weiter.“

Schon als Kind war er immer umgeben von Kunst

Die Kunst hat Michael Würthle, wie er eigentlich heißt, sein Leben lang begleitet. 1943 im Salzkammergut geboren, hatte sein Großvater einst eine Galerie in Wien. Sein Vater war Diplomat im Diensten der österreichischen Regierung. Als der als Kulturattaché nach Bonn musste, besuchte Michel die Werkkunstschule in Köln. Anfang der 1960er Jahre wechselte er an die Wiener Kunstakademie. Für Michel Würthle eine bleierne Zeit. Aber er kam in Kontakt mit den Künstlern des Wiener Aktionismus. Sein Lehrmeister wurde der Schriftsteller Konrad Bayer, für Würthle ein Schamane, immer auf der Suche nach Liebesabenteuern. In eine seiner Schriften definierte Bayer ein Motto, das auch für Würthle lange gilt: „Erstens will ich fröhlich sein, zweitens mich vergnügen.“

Würthle wurde als so etwas wie ein beobachtender Teil der Bande um Bayer und Oswald Wiener, dem Spiritus Rector der Wiener Aktionisten, aufgenommen. Konrad Bayer nahm sich 1964 das Leben und Oswald Wiener wurde 1968 nach der legendären Aktion „Kunst und Revolution“ an der Wiener Universität zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, außerdem drohte ihm ein Verfahren wegen Gotteslästerung. Er floh nach Berlin. Michel Würthle zog es erst einmal nach Rom, vor allem des Dolce Vita wegen. Danach ging er nach Paris. Dort schaute er sich in der Brasserie Lipp ab, wie man ein gutes Lokal führt. In einem Interview mit dem „Spiegel“ erinnerte sich Würthle an den Röntgenblick von Monsieur Caze, der am Eingang der Brasserie stand: „Er wusste genau, was ausgegeben, was lockergemacht wird oder was nicht. Zuerst kam man ins Straflager, hinauf in den ersten Stock. Manchmal durfte man unten auf die Terrasse. Aber nur, wenn es kalt war: Dose Sardinen für 75 Franc. Mich hat er raufgeschickt. Zweimal, in Begleitung von Frauen! Aber dann, irgendwann mal war ich in Paris und kam mit dem Julian Schnabel. Oh, Monsieur Schnabel! Monsieur Michel! Sogar lächelnd. Da habe ich gedacht: So läuft das.“Paris wurde ihm aber bald langweilig und er wollte nach New York. Auf dem Weg dahin machte er Zwischenstation in Berlin. Der Rest ist Geschichte.

Nur selten sah man Michel Würthle ohne Zigarette in der Hand. Das Rauchen hat er 2018 aufgegeben. Und natürlich ist auch dieser Entzug ein wiederkehrendes Thema in seinen Bildern: „How does it feel ? Seit Dezember 2018 im Bürgerkrieg mit mir selbst wegen Nikotin Entzug seit 62 Tagen. Hier meine unausstehliche Suchtfresse. Verbitte mit Mitleid. Euer Michel.“

Steuerhinterziehung und fehlende Sozialabgaben

Natürlich hat auch das berühmte und kürzlich wieder in die Schlagzeilen geratene, Gemälde „Paris Bar“ mehrfach einen Platz in dem Journal gefunden. Erstmals entstanden ist das Bild 1991, nach einer Idee von Martin Kippenberger. Ein Foto der realen Bar war die Vorlage für den Plakatmaler Götz Valien, der damals bei einer Werbefirma arbeitete. Für 1000 DM malte er ein Bild, dass das leere Lokal, mit eingedeckten Tischen vor Bildern von Werner Büttner, Albert Oehlen und anderen zeigt. Jahrelang hing das Gemälde an der Stirnseite des Lokals. Bis 2005 die Steuerfahndung zuschlug. Es war ein Annus Horribilis für Michel Würthle. Seine Frau starb an Krebs. Und dann wollte das Finanzamt noch drei Millionen Euro. Die Schulden hatten sich angehäuft. Über viele Jahre wurden keine Sozialabgaben für die Mitarbeiter bezahlt und Würthle zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Laut Berliner Morgenpost konstatierte der Richter dem Angeklagten, er sei kein typischer Steuerhinterzieher sondern ein älterer Herr der sich nicht habe bereichern wollen. Zudem habe er sich in gewissem Maße auch um die Berliner Kultur verdient gemacht. Michel Würthle aber musste Geld auftreiben. Er verkaufte nicht nur die Schwarz-Weiß-Bilder mit denen Kippenberger jahrelang seine Zechen bezahlt hatte, sondern auch das Gemälde „Paris Bar“. Später wurde es noch einmal verkauft und dann 2009 bei Christies für 2,5 Millionen Euro versteigert. Eine zweite Version des Gemäldes, ebenfalls von Valien, entstand für eine Kippenberger Ausstellung in Paris und gehört heute zur Sammlung des Milliardärs Pinault. Götz Valien, er wurde bei all diesen Geschäften nie erwähnt, hat später eine dritte Version gemalt. Diese ist derzeit mit Duldung der Kippenberger Erben aber ohne Anerkennung einer Urheberschaft in der Galerie am Lützowplatz in Berlin zu sehen.

Die reale Paris Bar musste Insolvenz anmelden. Der Konkursverwalter stellte Michel Würthle umgehend wieder ein und das Spiel ging weiter, ganz nach Würthles Credo: „Ein gutes Lokal muss die Stimmung alle zwei Stunden wechseln. Erst ist es ein Krampf, später muss die Choreografie perfekt stimmen, dann ist wieder Platz und irgendwann vielleicht Zeit für Exzess. Exzess ist schön.“

Die „Kulturados" sind mit der Berlinale nach Mitte gezogen

Schön, aber wohl auch Vergangenheit. Die „Kulturados“ (auch so ein Würthle-Begriff“) treffen sich heute vor und nach den Filmen der Berlinale im Bezirk Mitte im schicken Borchardt oder im Grill Royal. Der Wirt des Terzo Mondo ist gestorben, der Zwiebelfisch abgebrannt, die Wirtinnen des Florian haben sich zurückgezogen. Verblieben auf der Achse Diener Paris Bar sind noch ein paar sentimentale Nostalgiker. Auch dafür hat sich der "Prinz der Theke" einen Plan erträumt. Auf einer Zeichnung für seine Tochter schrieb er: „Die Dichter und die Maler und auch die Kriminaler sowie alle Zillertaler, die kennen ihr Berlin! Ganz meinerseits. Ich harre der 20er Jahre des 21. Jahrhunderts und plane voll Verve am Umbau der Kantstraße in einen Lustkanal vom Savignyplatz bis zum Theater des Westens und retour mit einer Vaporetto-Haltestelle vor der Paris Bar unserem gemeinsamen Playground of Maturity.

Michel Würthle schaut nur noch selten in seinem Lokal vorbei. Er wohnt immer noch in seiner alten Wohnung über dem ehemaligen Exil. Für das Frühjahr bereitet er eine Ausstellung seiner Zeichnungen im Auktionshaus Grisebach vor. Im burgenländischen Jennersdorf hat er eine Wohnung gemietet und eine Grabstelle gekauft. Mit Blick auf die letzte Ruhestätte seines Freundes Martin Kippenberger und neben seinem Mentor, dem Bildhauer Walter Pichler, der habe ihn ästhetisch erzogen.

Was bleibt sind die vorliegenden sechs Bände der Pandemie Journale. In denen kann man sich wunderbar wegträumen in eine - gar nicht so lang zurück liegende - vergangene Welt, ähnlich wie beim Betrachten einer alten Fotografie die zu lange in der Sonne der Erinnerung gelegen hat.

Nachtrag: Als ergänzende Literatur der Pandemie Journale empfehle ich die Bücher von Carolin Würfel „Ingrid Wiener und die Kunst der Befreiung“, erschienen bei Hanser und die Biografie „Kippenberger – Der Künstler und seine Familien“ von Susanne Kippenberger aus dem Berlin Verlag.

„Paris Bar Press. Confidential by Michel Würthle“. Steidl Verlag. 75 Euro.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Goggo Gensch

Autor, Dokumentarfilmer, Kurator. Lebt in Stuttgart.

Goggo Gensch

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