Wenn Filme miteinander sprechen

IDFA 2018 Das Internationale Dokumentarfilmfestival Amsterdam bleibt das wichtigste Schaufenster des Dokumentarfilms. Eindrücke von der diesjährigen Ausgabe

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Robert McNamaras jüngster Geniestreich „American Dharma“ ist letztendlich nichts anderes als ein langes Interview mit Steve Bannon
Robert McNamaras jüngster Geniestreich „American Dharma“ ist letztendlich nichts anderes als ein langes Interview mit Steve Bannon

Foto: Still „American Dharma“ / IDFA

Orwa Nyrabia ist der neue Leiter des Internationalen Dokumentarfilmfestivals Amsterdam (IDFA). Der syrische Regisseur und Produzent führte sich gleich mit einem historischen Ereignis ein. Auf der IDFA erlebte der vermutlich erste Dokumentarfilm „Anniversary of Revolution“ seine Wieder-Premiere. Das Werk des russischen Filmemachers Dziga Vertov galt als verschollen. Bekannt waren lediglich 12 Minuten mit Szenen der Russischen Revolution. Man wusste, dass der Film am 7. November 1918 erstmals öffentlich gezeigt wurde. Im Laufe der Jahre verlor sich seine Spur. In einem russischen Filmarchiv hat ihn der Filmhistoriker Nikolaus Izolov entdeckt und restaurieren lassen. Begleitet von einem großartigen Musikensemble durfte man jetzt noch einmal mit unbekannten Bildern die Russische Revolution betrachten. Demonstrationen. Stumme Reden der wichtigsten Protagonisten. Leo Trotzki an der Front im Kampf gegen die Konterrevolutionäre. Lenin mit Genossen. Frauen beim Melken der Kühe und Landarbeiter beim Einholen des Heus. Bislang waren unsere Bilder jener Tage vor allem von Sergej Eisensteins Spielfilm „Oktober“ geprägt. Eisenstein hat seinen Film zum zehnten Jahrestag der Revolution 1928 gedreht und die ikonographischen Szenen inszeniert. Bei Vertov wirken die historischen Momente weniger spektakulär. Durch das Wissen um das dokumentarische Festhalten der Ereignisse ist man aber keinen Moment weniger fasziniert. In jeder Szene spürt man die Aura des Films und den unbedingten Willen von Dziga Vertov den - wenigen - Frauen und Männern dieses historischen Augenblicks ein Denkmal zu setzen. Und man sieht, eine Filmkamera auf der Straße war damals eine echte Sensation. Immer wieder steht sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ob bei Demonstrationen, beim Ausrichten der Maschinengewehre oder bei aufrüttelnden Ansprachen das wichtigste scheint die Kamera zu sein. Auch Lenin wirkt unbeholfen und schüchtern während er gedreht wird.

Zwölf Jahre später hatten sich die Menschen schon an die Kameras gewöhnt. „The Trial“ heißt der Archivfilm von Sergei Loznita. Er dokumentiert einen Schauprozess Stalins aus dem Jahr 1930. Eine Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern und Ingenieuren war angeklagt zusammen mit dem Französischen Premierminister Raymond Poincaré einen Staatsstreich vorbereitet zu haben. Diese Bilder wurden allesamt zur Abschreckung eventueller Konterrevolutionäre gedreht.

„Vertov“ heißt die Produktionsfirma des russischen Filmemachers Vitaly Mansky. In Amsterdam zeigt er seinen neuen Film „Putins Witnesses“. Um die Jahrtausendwende war Mansky Leiter der Dokumentarfilmabteilung des staatlichen russischen Fernsehens. So konnte er sowohl Boris Jelzin als auch Vladimir Putin hautnah mit der Kamera zu begleiten. Mansky drehte mit seiner Kamera bei Familie Jelzin daheim genauso wie im Wahlkampfteam von Putin. Er hatte fast uneingeschränkten Zugang zum Kreml. Der Film beginnt mit dem Rücktritt des schwer kranken Jelzin am Silvesterabend 1999. Dann begleitet er den von Jelzin ernannten Putin auf dessen Wahlkampf. Damals waren diese Aufnahmen auch PR Material, heute sieht man sie mit anderen Augen. Man weiß um den Umgang Putins mit Meinungsfreiheit, man weiß wie es vielen Oppositionellen ergangen ist. Putin selbst wirkt in diesen Aufnahmen gehemmt, schüchtern, zurückhaltend. Immer wieder ertappt man sich bei der Frage, was verbirgt dieser ehemalige Geheimdienstler, welche Visionen hat er? Von den vielen Menschen mit denen er nach seinem Wahlsieg trinkt, ist nur noch der getreue Dmitri Medwedew an seiner Seite. Alle anderen haben keine Funktionen mehr bei Hof, sind im Exil oder gestorben. AuchVitaly Mansky lebt heute Lettland. Diesen Preis musste er zahlen als einer der Zeugen Putins.

Wer ein Filmfestival besucht und jeden Tag drei, vier Filme sehen darf, hat das sicher schon festgestellt: Die Filme sprechen miteinander. Das liegt zum einen an einer klugen Festivalprogrammierung. Die Kuratoren suchen schon bei ihrer Filmauswahl nach einem roten Faden, nach Gemeinsamkeiten und Zusammenhängen. Diese ergeben sich freilich nicht immer absichtlich. Am schönsten ist es wenn sie sich unmerklich und scheinbar zufällig in ein Festivalprogramm schleichen. Dann beginnen die Filme wirklich miteinander zu sprechen und wir Zuschauer mit ihnen.

In Amsterdam wurde auch Werner Herzogs Annäherung an Michail Gorbatschow gezeigt. „Meeting Gorbatschow“ hat seine wahrhaftigste Szene in einem Ausschnitt den sich Herzog von Vitaly Mansky geborgt hat. Der hat in einem früheren Film Gorbatschow in seinen Heimatort begleitet. Gorbatschow erinnert sich an vergangene glückliche Tage. Er inspiziert das Haus in dem er mit seiner Frau Raissa gewohnt hat. Und er trifft seine alte, blinde Tante wieder. In diesen nur kurzen Ausschnitten wird der Mensch Gorbatschow sicht- und fühlbar. In fast allen anderen Szenen bleibt Herzogs Film blass. Gorbatschow ist wohl zu krank und zu schwach um seine historische Rolle rational zu reflektieren.

Der amerikanische Filmemacher Errol Morris ist daran Schuld, dass Werner Herzog einst seine Schuhe verspeiste. Herzog wettete, dass es Morris niemals schaffen würde, seinen ersten Dokumentarfilm „Pforten des Himmels“ fertigzustellen. Fünf Stunden kochte Herzog 1980 seine Schuhe zusammen mit Knoblauch, Gewürzen, Zwiebeln und Entenfett in einem französischen Restaurant in Berkeley. Vor der Premiere von Morris Film verspeiste er sie, mit Ausnahme der Sohlen. Festgehalten wurde dies von Les Blank in dem Film „Werner Herzog Eat his Shoe“. Auch der wäre es wert, wieder einmal zur Aufführung zu kommen.

Die Spezialität von Errol Morris sind Interviewfilme. „Fog of War“ mit dem früheren amerikanischen Verteidigungsminister Robert McNamara bekam 1984 einen „Oscar“. Auch sein jüngster Geniestreich „American Dharma“ ist letztendlich nichts anderes als ein langes Interview mit Steve Bannon. In einem gebauten Filmset beantwortet der ehemalige Wahlkampfmanager von Donald Trump einem sinisteren Propheten gleich die Fragen von Errol Morris. Der konfrontiert den Publizisten mit Ausschnitten seiner Lieblingsfilme. Von Gregory Peck will Bannon durch den Film „Twelve O`Clock High“ („Der Kommandeur“) gelernt haben was Disziplin und Pflichterfüllung bedeuten. Weitere Vorbilder des aus einer durch und durch demokratischen Familie stammenden Bannon sind John Wayne in „The Searchers“ oder Alec Guiness in „Die Brücke am Kwai“. Das Militär mit seinen zweifelhaften Tugenden steht für Steve Bannon über allem. Es wäre einmal interessant den Einfluss klassischer Hollywoodfilme auf die Psyche amerikanischer Politiker zu untersuchen.

Zum rechtsradikalen Populisten wurde Steve Bannon als er entdeckte das amerikanische Kleidung in Vietnam produziert wird. Darüber ereifert er sich bis heute. Die Vietnamesen sind für ihn noch immer ein Todfeind. Morris inszeniert diesen rechtsradikalen Prediger als einen brillianten Analytiker der im Wahlkampf jeden Fehler von Hillary Clinton gnadenlos nutzt, der Fallen stellte und falsche Spuren legte. Daneben steuerte er geschickt das Auftreten und die Äußerungen von Donald Trump. Wäre dieser allein am Geldverdienen gepolte Narziss ohne Steve Bannon jemals Präsident geworden? Nach der Premiere des Films bei den Filmfestspielen in Venedig wurde Errol Morris vorgeworfen, er sei zu milde mit Steve Bannon umgegangen. Der habe Morris eingewickelt und mit seinem teuflischen Intellekt umgarnt. Dieses Urteil ist falsch. Morris kritische Haltung ist immer präsent, sowohl in den Fragen als auch in der Dramaturgie des Films. Sich selbst sieht Bannon übrigens als Falstaff, einen getreuer Ritter der sein Werk erfüllt sieht, nachdem sein König in den Krieg zieht. Dann wird Falstaff verbannt und darf sich seinem Herrn nicht mehr nähern, andernfalls droht die Todesstrafe. Auch Steve Bannon wurde aus dem Weißen Haus gefegt. Dies inszeniert Morris mit Szenen aus Orson Welles „Chimes at Midnight“.

Die selbe Szene ist auch in dem exzellenten Dokumentarfilm „The Eyes of Orson Welles“ des Briten Mark Cousins zu sehen. Er konzentriert sich in diesem sehr persönlichen Portrait auf die Zeichnungen und Bilder die Orson Welles Zeit seines Leben produzierte. Neben vielen privaten Motiven sind immer wieder Parallelen zu den Kulissen und Kameraeinstellungen seiner Filme zu sehen. Cousins hat einen, in jeder Szene überzeugenden, filmischen Liebesbrief an das unvollendete Filmgenie verfasst.

Keine Frage, Steve Bannon ist ein überzeugter US-Patriot, ein Nationalist mit all seinen Fasern. So genannte Vaterlandsverteidiger, Nationalisten oder auch Patrioten – egal wie man sie nennen mag, sie verspritzen alle das gleiche verblendete bräunliche Gift das die wirklichen Probleme der Welt vernebelt. So wurde in Amsterdam auch an die Kriege im ehemaligen Jugoslawien erinnert.

Beispielsweise an die Verbrechen von Ratko Mladic der vor einem Jahr vom „Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien“ zu lebenslanger Haft wegen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und zahlreicher weiterer Kriegsverbrechen verurteilt wurde. Die Filmemacher Henri Singer und Rob Miller begleiteten ihrer Langzeitproduktion „The Trial of Ratko Mladic“ – übrigens eine Koproduktion mit dem WDR – sowohl die Anklage als auch die Verteidigung. Sie zeigen die Killing Fields in Bosnien, sprechen mit Opfern und mit Unterstützern von R. Mladic. Beide Seiten kommen zu Wort, trotzdem bewahren die Filmemacher ihre Haltung, sie lassen den Zuschauer spüren auf welcher Seite sie stehen. Mit teilweise schwer zu ertragenden Bildern von Massengräbern und Exhumierungen werden die Verbrechen sichtbar. Es wird aber auch der historische Hintergrund sichtbar. Im Dritten Reich unterstützten Bosnier und Kroaten die Nazis bei deren Morden an den Serben.

Ein anderes Schicksal zeigt der animierte Dokumentarfilm „Chris the Swiss“. In phantasievollen, dunkel-poetischen Bildern sucht die Regisseurin Anja Kofmel nach den Spuren ihres verstorbenen Cousins. Als Kind war Christian Würtenberg das große Idol der Filmemacherin. Der Journalist wurde 1992 in Bosnien ermordet. Er trug die Uniform einer Truppe von internationalen Freiwilligen die auf Seiten der Kroaten kämpften. Abenteurer, Faschisten, Waffennarren – eine krude Mischung von Söldnern kämpfte dort in den 1990er Jahren. Viele von ihnen fuhren von Zuhause in ein paar Stunden mit der Bahn mitten hinein in einen fürchterlichen Krieg. Bis heute ist es rätselhaft was Würtenberg wirklich in den Kriegswirren zwischen Zagreb und Sarajevo suchte. War es allein die Berichterstattung aus dem Krieg? Arbeitete er wirklich an einem Buch mit dem er die Unterstützung des katholischen Opus Dei beim Kampf gegen die Muslime nachweisen wollte? War er Undercover unterwegs? Als Todesursache wurde Strangulation fest gestellt. Wurde der Journalist als Verräter liquidiert? Wer gab den Mord in Auftrag? War es Eduardo Flores, der Anführer des bizarren Trupps? Der Bolivianer kann die Frage nicht mehr beantworten. Er wurde selbst Jahre später in seinem Heimatland ermordet, angeblich hatte er geplant den dortigen Präsidenten Evo Morales zu stürzen. Für den legendären Terroristen Carlos war Würtenberg ein Schweizer Spion der schlichtweg das Pech hatte zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. Eine Behauptung, die durch nichts belegt wird. Der Film visualisiert die Albträume ebenso wie das trostlose Leben der Kriegsjournalisten zwischen Hotelbar und Front. Eine gültige Antwort findet Anja Kofmel nicht, nur Wahrscheinlichkeiten. Ihr Film ist dennoch ein ungewöhnliches Road-Movie das eine tragische Familiengeschichte mit subjektiv erlebter Weltgeschichte verbindet.

Ein gutes Filmfestivalprogramm zeigt immer Haltung und will bei seinen Zuschauern etwas bewirken, es will sie nicht nur unterhalten. Reiner Eskapismus ist bei Filmfestspielen fehl am Platz. Es ist wichtig, wenn die an Filterblasen gewohnten Zuschauer ihre eigene Sicht auf die Dinge mittels der gezeigten Filme überprüfen können. Das Internationale Dokumentarfilmfestival Amsterdam (IDFA) hat das in diesem Jahr einmal mehr geschafft. Es bleibt auch in Zukunft nicht nur das größte sondern vor allem das wichtigste Schaufenster des Dokumentarfilms weltweit.

Anmerkung: W. Herzig hat seine Schuhe natürlich vor der Premiere des ersten Films von Errol Morris verspeist. In einer vorigen Version dieses Artikels stand Singer, das ist natürlich falsch und wurde jetzt korrigiert.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Goggo Gensch

Autor, Dokumentarfilmer, Kurator. Lebt in Stuttgart.

Goggo Gensch

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