Der Bürger als Citoyen

Leipzig und das neue Selbstbewusstsein Die heimliche Hauptstadt des sizilianisierten Ostens?

Die Innenstadt summt. Im Sommer ist sie wie ein riesengroßer Freisitz, man trinkt sein Bier, seinen Schoppen, man isst seine Pasta, seine Bockwurst mit Senf - irgendwo ein Open-Air-Konzert, auf dem Markt wahrscheinlich. Der Ring, der die City umschließt wie früher die Stadtmauer, scheint ihr Intimität sichern zu wollen. Man hat sie in kaum einer Stunde zu Fuß umkreist, wie es Anno ´89 die Demonstranten taten. In einer der zahllosen Kneipen sagt meine Besucherin aus München: "Leipzig ist im Osten die heimliche Hauptstadt."

Heimliche Hauptstadt? So hieß Leipzig, das kann die Freundin nicht wissen, auch schon in der zweiten Hälfte der Fünfziger, als ich hier studierte. Erinnerung die Fülle. An zahllose Kneipen und die "verruchte" Nachtbar Femina, in die man als Student hineinkam, indem man während der Messen Zeitungen verkaufte. Oder an das Kino Capitol, das man jetzt still legen will, mit dem unvergesslichen Erich Neumann an der Kinoorgel, jahrzehntelang. An den legendären Hörsaal 40, in dem Hans Mayer als Marxist die aller erste zusammenhängende Brechtvorlesung deutscher Sprache hielt, wobei er gerade mal bis ins Jahr 1927 gelangte - es war jener zusammen mit der Universitätskirche weggesprengte Saal, in dem Uwe Johnson und Fritz Rudolf Fries, Christa Wolf und auch noch Volker Braun dem Philosophen Ernst Bloch und dem großartigen Revolutionstheoretiker Walter Markov zugehört haben. Leipzig war eine Stadt ohne geistigen Mief. Der Marxismus konnte noch als kritische Theorie erfahren werden, überstrahlt zugleich vom Licht der Blochschen Utopie und fixiert in den Markovschen Revolutionsbildern, die doch etwas mit dem eigenen gesellschaftlichen Aufbruch zu tun hatten - bis zur Vertreibung Mayers und Blochs, dem Parteiausschluss Markovs und der Kirchensprengung - jedenfalls mochte es uns jungen, aus der Provinz zum Studium gekommenen Leuten so erscheinen.

Bach für Olympia

Und nun sollen wir wieder eine heimliche Hauptstadt sein, diesmal die des sizilianisierten deutschen Ostens? Warum nicht? Man registriert ja als Lokalpatriot - beispielsweise! - nicht ungern, wie selbst die Süddeutsche Zeitung am 15. Juli den OB Wolfgang Tiefensee als nationale Gestalt entdeckt hat. Mit eindrucksvollem Farbfoto und natürlich am Cello - Bach für Olympia.

Es ist ja kein Zufall und nicht allein der zweifellos auratischen Wirkung Tiefensees zuzuschreiben, dass die Stadt den Zuschlag für die Olympiabewerbung 2012 bekam. Man weiß, hier haben Quelle, Porsche, Siemens und vor allem BMW investiert oder sind dabei, es zu tun, man gewinnt leicht den - allerdings recht fragwürdigen - Eindruck, gerade hier beginne sich die Deindustrialisierung des Ostens ins Gegenteil zu verkehren. Besucher bewundern rekonstruierte Straßen, Bürgerhöfe, die vielen Passagen der Innenstadt. Ein Wissenschaftler aus Köln sagte mir schon 1993 auf die Frage, warum er ausgerechnet einen Ruf nach Leipzig angenommen und sich sogleich hier angesiedelt habe: "Weil die Stadt so schön ist." Da war ich fassungslos - das sagte ein Kölner. Inzwischen kann ich mich einfühlen. Ich glaube, in den neuen alten Bauten, beim Gang durch Höfe und Passagen spürt man sinnlicher als anderenorts, was Bürgersinn ist und immer schon war, man scheint ihn einzuatmen mit der Luft ...

Im Mittelmaß

Immer schon konnte, was man die bürgerliche Lebensart nennt, den Citoyen hervorbringen - oder den Spießbürger, gerade in Deutschland. Das neue Selbstbewusstsein der Leipziger gerät manchmal in die Gefahr, zum kleingeistigem Provinzialismus zu degenerieren. Hinrich Lehman-Grube, Tiefensees Vorgänger, hat nach der Olympiaentscheidung eine Tendenz zur behäbigen Selbstzufriedenheit konstatiert. Tiefensee selbst zeigte sich verärgert über seine Person betreffende, unmäßige politische Spekulationen - auch das eine Form großtuerischerer Kleingeisterei - ausgerechnet eines grünen Stadtrates, der ihn am liebsten schon als Kanzler sähe.

In Wahrheit bleibt hier mehr als genug zu tun, die Probleme der Stadt sind gewaltig - große, traditionelle Industrien wie der Druckmaschinenbau völlig verschwunden. Die Arbeitslosigkeit ist größer als an manch anderem Ort Sachsens. Die Einwohnerzahl erreicht trotz Eingemeindungen immer noch nicht die Halbmillionengrenze, der Wohnungsleerstand ist immens. So manches, das sich mit großen Hoffnungen verband, ist im vergangenen Jahrzehnt nicht gelungen. Die Stadt scheint zwar - durch die Buchmesse oder auch das Literaturinstitut - eine Literatur- und Lesestadt geblieben, aber keine Medien- und Verlagsstadt geworden zu sein, wie man gehofft hatte. Auch ist das traditionsreiche, auf Tanztheater und experimentelle Gruppen fokussierte Festival Euro-Szene akut gefährdet. Das Schauspielhaus wird wohl nach der kommenden Saison eine seiner Spielstätten schließen müssen. Dabei ist es schon jetzt fast ein Euphemismus, von einer "Theaterstadt Leipzig" zu sprechen. Das Schauspiel, mit einem austauschbaren, allenfalls leicht anglisierten Spielplan an den Problemen der hiesigen Menschen vorbei inszenierend, wird - wiederum im Unterschied zu früher - von überregionalen Medien kaum noch wahrgenommen. Die letzte wirklich bedeutende Inszenierung des Hausherrn Wolfgang Engel, beide Teile des Faust an einem Abend, datiert aus dem Jahre 1999. Und die Oper, unter dem damaligen Intendanten Udo Zimmermann in den Neunzigern noch eine innovative Stätte und zum Opernhaus des Jahres gewählt, hat sich, wohl auf Mehreinnahmen hoffend, einem tristen Repertoirebetrieb ergeben. So stabilisiert sich die theatrale Hochkultur auf konservativer Grundlage, sie tut es im Mittelmaß des deutschen Stadttheaterwesens bildungsbürgerlicher Provenienz. Dergleichen sagt man nicht mit Häme, man sagt es mit Betrübnis.

Ich komme auf den Bürgersinn zurück. Der meint nicht nur das Merkantile. Der meint den Stadtbürger als Citoyen: Ich weiß nicht, ob die Demonstrationen gegen den Irak-Krieg irgendwo in unserem Lande kraftvoller waren als in Leipzig. Und jeder weitere Versuch des Neonazis Worch, seine Trupps zum Demonstrieren nach Leipzig zu holen, stößt immer von Neuem auf diese Zivilcourage. Schandbarerweise dürfen die Extremisten mit dem Segen eines sächsischen Gerichts demnächst unter der 89er-Losung "Wir sind das Volk" marschieren ...

Der Osten braucht wohl keine eigene Hauptstadt, auch keine heimliche - urbane Zentren braucht er schon. Würde der Leuchtturm Leipzig seine Strahlkraft durch die Olympiabewerbung erhöht haben, hätte diese ihren Sinn bereits erfüllt.

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