Der beliebteste deutsche Politiker

Portrait Steinmeier Agenda 2010, Hartz IV, "weltweite Verantwortung" Deutschlands: Frank-Walter Steinmeier prägt die Politik. Und ist trotzdem - oder deshalb? - beliebt. Von Georg Rammer

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Er ist derzeit der beliebteste Politiker in Deutschland: Frank-Walter Steinmeier. Ein „Steinmeier-Miraculum“ (Die Zeit), denn immerhin hat er die Bundeskanzlerin ebenso überholt wie Wolfgang Schäuble. Über die Urteilsfähigkeit und die Gemütsverfassung der Bevölkerung offenbart das genauso viel wie über die Funktionsweise von Politik und Öffentlichkeit.

Steinmeier ist ein erfahrener Politiker; er hat bekanntlich schon mehrmals „Verantwortung übernommen“. Er diente als Kanzleramtsminister – und damit auch Geheimdienstkoordinator – unter Schröder/Fischer, dann ab 2005 als Außenminister unter Merkel. Diesen Posten hat er auch in der gegenwärtigen Großen Koalition inne. Aber auch als SPD-Parteipolitiker hat er Grundsatzentscheidungen mit nachhaltiger Wirkung beeinflusst.

Frank-Walter Steinmeier gilt als Architekt der Agenda 2010-Politik. Er hat das rot-grüne Strategiepapier maßgeblich geprägt und damit die Grundlagen für die neoliberale Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft geschaffen. Auch im Steuerungskreis für die Umsetzung der Hartz-IV-“Reform“ hatte er eine so prägende Rolle, dass die Gesetze nach Meinung des verstorbenen WISO-Moderators Spree eigentlich „Steinmeier IV“ heißen müssten.

Immerhin ist sich Steinmeier in seinen Überzeugungen treu geblieben. Am 19. November 2013 hielt er eine beachtenswerte Rede auf dem Deutschen Arbeitgebertag des BDA: Es hat „die entscheidenden Steuersenkungen und zwar in einem Volumen von mehr als 60 Milliarden Euro unter einer sozialdemokratischen Regierung gegeben:

  • mit der Senkung des Spitzensteuersatzes,

  • mit der Senkung des Eingangssteuersatzes,

  • mit der Senkung der Unternehmenssteuern.

Das war damals immerhin sozialdemokratische Steuerpolitik und ich finde bis heute ist das nicht so ganz schlecht.“ (Zitat nach Rede-Abschrift der NachDenkSeiten) In seiner Rede erwähnt er noch eine Reihe weiterer neoliberaler Maßnahmen der Deregulierung und Flexibilisierung, um dann zu betonen, dass Korrekturen unumgänglich seien; andernfalls könnten „Zustimmung und Akzeptanz zur Marktwirtschaft erodieren.“ Hier charakterisiert der verantwortliche Politiker kleine soziale Korrekturen an der Agenda 2010 als Zugeständnis, um die Loyalität gegenüber dem Gesamtsystem nicht zu gefährden.

Bekannt geworden ist auch seine Rede bei der letzten Münchner Sicherheitskonferenz, wo er fast zeitgleich mit dem Bundespräsidenten und der Verteidigungsministerin eine größere „Verantwortung“ Deutschlands in der Welt forderte: „Deutschland muss bereit sein, sich außen- und sicherheitspolitisch früher, entschiedener und substanzieller einzubringen... Allerdings darf eine Kultur der Zurückhaltung für Deutschland nicht zu einer Kultur des Heraushaltens werden. Deutschland ist zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren.“ Auch bei diesem Thema ist sich der Minister bewusst, dass er gegen starke Mehrheiten der Bevölkerung regiert. Denn nach einer repräsentativen Umfrage, die sein Ministerium und die Körber-Stiftung in Auftrag gegeben hatten, sprechen sich 60% der BundesbürgerInnen gegen ein stärkeres Engagement Deutschlands in der Welt aus.

Nicht weltweite Einsätze, sondern Schutz der Menschenrechte liegen den Menschen am Herzen: 93% sprechen sich dafür als wichtigstes Ziel der deutschen Außenpolitik aus; nur 13% sind für ein stärkeres Engagement der Bundeswehr. Steinmeier bedauert deshalb den „tiefen Graben“ zwischen der breiten öffentlichen Meinung und der außenpolitischen Elite, der überwunden werden müsse. Der Stern zitiert ihn: "Politik muss sich über solche Gräben hinwegbewegen, damit sie handlungsfähig bleibt."

Doch diese Widersprüche tun seiner Beliebtheit keinen Abbruch. Aktuell feiert ihn die SPD als YouTube-Star: Denn in nur drei Tagen wurden laut der Partei drei Millionen Aufrufe seiner „Wutrede“ auf dem Alexanderplatz in Berlin gezählt. Bei seinem Wahlkampfauftritt hatten sich nicht nur Anhänger versammelt, sondern auch Kritiker , die ihn als Kriegstreiber beschimpften oder Transparente gegen den Freihandelsvertrag TTIP hochhielten (Steinmeier in München: „TTIP ist eine große Chance von strategischer Dimension“) oder schlicht „Dialog statt Panzer“ verlangten. Steinmeier schrie sie nieder: „Hätten wir auf Leute wie die da hinten gehört, wäre Europa heute kaputt!“

Der Springer-Chefkolumnist Franz Josef Wagner jubelt in BILD: „Lieber Frank-Walter Steinmeier, Sie waren großartig in Ihrem Zorn (…) Endlich werden Sie als Minister wütend, endlich werden Sie ein zorniger Mensch. Ein Mensch, dessen Hals anschwillt, ein Mensch, der gegen Faschisten anschreit. (...) Großartig!“ Wagner bezeichnet Demonstranten gegen Steinmeiers Politik als Faschisten. Ohne auf Inhalte einzugehen, wird dem Politiker zugejubelt, dessen Hals anschwillt, wenn er gegen lautstarke Kritik anschreit, wenn er „Gegner niederschreit“ (Welt).

Der beliebteste Politiker in Deutschland steht nach wie vor zur Politik der Agenda 2010. In der Frage der „weltweiten Verantwortung“ Deutschlands und der damit verbundenen Militarisierung der Außenpolitik vertritt er Positionen und Interessen, die denen der Bevölkerung zuwider laufen. Merkel und Steinmeier verkörpern unspektakulär einen Politikstil, der effektiv neoliberale Wirtschaftsinteressen mit expansiver Machtpolitik verbindet. Steinmeier widmet seine Kraft nicht dem Wohle des deutschen Volkes, wie es im Amtseid heißt, sondern der Aufgabe, den tiefen Graben zwischen neoliberalen Interessen und Wohl der Bevölkerung zu vernebeln.

Umfragen zeigen einen merkwürdigen Gegensatz zwischen seinem Beliebtheitsgrad und der geringen inhaltlichen Zustimmung zu seiner Politik. Der Widerspruch löst sich auf, wenn man erkennt, dass der Neoliberalismus die Grundlagen der Demokratie durch Markt-Kriterien ersetzt hat; das Image der Politik soll mehr zählen als der Inhalt – genauso wie in der PR für Autos, Versicherungen oder Duschgel. Das Ziel der Politik ist Verwertung und Vermarktung nach Methoden des Konzernmanagements, verbunden mit Gefühlen von Vertrauen und Verlässlichkeit. Dafür steht Frank-Walter Steinmeier.

Georg Rammer ist Psychologe und freier Autor

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Geschrieben von

grammer

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