Krieg und Vorkrieg

Geschichte einer Eskalation Wieder ist Krieg. Zu fordern ist der sofortige Stopp des russischen Angriffs auf die Ukraine. Und zu fordern ist eine Friedenslogik gegen die Ursachen des Krieges.

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»Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg?« (Christa Wolf) Wer sehen wollte, konnte, ja, musste schon lange vorher erkennen: Wir nähern uns dem Point of no Return.

Noch im Dezember letzten Jahres veröffentlichten hochrangige deutsche Ex-Diplomaten und -Militärs in »allergrößter Sorge« einen dringenden Appell: »Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland« (nachzulesen unter diesem Titel im Internet). Es sei allerhöchste Zeit, Russland und die Nato aus der Konfrontation herauszuführen. Auf der Grundlage der »Anerkennung der Sicherheitsinteressen beider Seiten« sollte die Nato auf Russland zugehen und durch konkrete Maßnahmen – die Unterzeichner benennen sie – auf Deeskalation hinwirken.

Der Appell erschien – mit Ausnahme von zdf.de – in keinem einzigen großen deutschen Medium. Lediglich die Website Heise, rt.de, die NachDenkSeiten und neues deutschland hielten diesen verzweifelten Versuch, den absehbaren Krieg zu verhindern, für berichtenswert. Warum boykottierten die Mainstream-Medien den Appell »staatstragender« Persönlichkeiten?

Einer Stellungnahme der Stiftung Wissenschaft und Politik, die vor allem die Bundesregierung und den Bundestag berät, erging es nicht anders. Die detaillierte Analyse der militärischen Kräfteverschiebung zu Lasten Russlands (vgl. german-foreign-policy.com, 14.2.22) wurde wenige Tage vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine von Politik und meinungsbildenden Medien ignoriert. Warum diese Blockade? Weil der Verfasser, ein Oberst a.D. und Wissenschaftler im Bereich Sicherheitspolitik, das Fazit zieht, Moskaus Forderung nach Ende der Nato-Osterweiterung sei nachvollziehbar? Bekanntlich wurden die beiden Vertragsentwürfe Russlands vom Januar – Stopp der Nato-Osterweiterung und der Stationierung von Angriffswaffen in Grenznähe sowie Rückzug des Militärs auf Positionen der Nato-Russland-Grundakte von 1997 – umgehend zurückgewiesen. Warum wurden Verhandlungen verweigert?

Doch der Vorkrieg hatte schon lange davor begonnen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wuchs dort ein wilder Kapitalismus, befeuert durch die private Aneignung des gesamten Volksvermögens. James S. Henry, Wirtschaftswissenschaftler und investigativer Journalist, schrieb (»Wie Donald Trump lernte, Russland zu lieben. Deals und Seilschaften aus den Zeiten der Schocktherapie«, Blätter 2/2017): Damals »betrieben und finanzierten der Westen im Allgemeinen und das US-Finanzministerium, USAID (die United States Agency for International Development), das US-Außenministerium, der Internationale Währungsfonds und die Weltbank, die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung sowie viele führende Ökonomen im Besonderen einen der größten Transfers von öffentlichem Eigentum in private Hände, den die Welt je gesehen hat«.

Das Volk verarmte in der Folge rasant: In kürzester Zeit sank die mittlere Lebenserwartung um 6 bis 7 Jahre. Während die Menschen hungerten, mästeten sich Oligarchen in Russland, Kasachstan und der Ukraine. Sie ergriffen die wirtschaftliche und politische Macht. »Für gewöhnliche Russen war es (…) eine Katastrophe. Für viele Banken, Privatbankiers, Hedgefonds, Anwaltskanzleien und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, für führende Ölkonzerne wie ExxonMobil und BP sowie für kapitalhungrige Schuldner wie die Trump Organization aber war die Chance, sich an der postsowjetischen Beute zu nähren, ein Gottesgeschenk. Es war Geierkapitalismus vom Schlimmsten« (ebd.). In den USA sahen die Oligarchen (die dort anders heißen) Russland und die Ukraine als Beute am Ende des siegreichen kalten Krieges.

Die notleidenden, oft traumatisierten Menschen in der Ukraine erfahren viel Mitgefühl und Hilfsbereitschaft. Hunderttausende Flüchtlinge sind – wie in zahlreichen anderen Ländern auch – auf Unterstützung angewiesen. Welches Mitleid, welche Hilfsbereitschaft brachten die westliche Politik den Menschen in der Ukraine entgegen, als sie mit Nachdruck auf ein Assoziierungsabkommen mit der EU hinwirkte? Dieses bedeutete neoliberale »Reformen« wie Erhöhung des Rentenalters um fünf Jahre, Abschaffung der Subventionen für Grundnahrungsmittel und Energie, aber auch eine ausschließliche Zollunion mit der EU, obwohl fast die Hälfte des Handels mit Russland betrieben wurde. Der damalige Präsident, der Oligarch Poroschenko, gab die Parole aus, das Abkommen solle »unseren endgültigen Bruch mit dem russischen Reich des Bösen festigen«. Der Wirtschaftswissenschaftler Heiner Flassbeck kommentierte: »Das Nachbarland Russlands, dessen Schicksal wir heute beklagen, wurde von den westlichen Beratern unter Führung des Internationalen Währungsfonds (IWF) in eine ökonomische Lage gebracht, die für das Funktionieren einer jungen Demokratie und für die Lebensperspektiven der Menschen absolut fatal war und ist. Überleben konnte man im besten Fall als Produktionsstandort für westliche Firmen, als Rohstofflieferant oder als Produzent landwirtschaftlicher Produkte.«

Neben den wirtschaftlichen gab es auch strategische Interessen, deren Ziele ein einflussreicher Politikberater wesentlich geprägt hatte, der vier US-Präsidenten gedient hatte: Zbignew Brzezinski. In seinem Hauptwerk »The Great Chessboard« (dt. »Die einzige Weltmacht«) beschrieb er 1997 detailliert die geostrategischen Eckpunkte für die dauerhafte Herrschaft der »einzigen Weltmacht« USA. Für die US-Vorherrschaft müsse der US-Einfluss durch die Erweiterung der EU und der Nato nach Osten weit nach Zentralasien ausgebaut werden. Davor hatte der russische Präsident Putin immer wieder gewarnt.

Nun führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Zu schreiben bleibt quasi die »Chronik eines angekündigten Krieges«. Während Russland immer wieder Vorschläge zur Zusammenarbeit unterbreitete (vgl. Kai Ehlers in Ossietzky 5/2022), trieb der Westen die Umzingelung Russlands voran. Der US-Diplomat George F. Kennan schrieb für die New York Times im Jahr 1997, dass die Entscheidung, die Nato bis zu den Grenzen Russlands zu erweitern, der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik nach dem Kalten Krieg sei. »Diese Entscheidung kann erwarten lassen, dass (…) sie einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung der Demokratie in Russland haben, dass sie die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Beziehungen zwischen Osten und Westen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in Richtungen zwingen, die uns entschieden missfallen werden« (zit. nach german-foreign-policy.com).

Auch der Ex-Außenminister der USA, Henry Kissinger, hatte noch vor sieben Jahren eindringlich vor einem Krieg um die Ukraine gewarnt: »Doch wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorposten der einen Seite gegen die andere sein – sie sollte als Brücke zwischen beiden Seiten fungieren« (zit. nach infosperber.ch, 9.3.22). Mahnungen hatten keine Chance. All das, was seit Kriegsbeginn kritisch zu den Hintergründen analysiert wird – Umzingelung Russlands, militärische Integration der Länder Ukraine und Georgien in die Nato, der Ausstieg aus Abrüstungsverträgen und aus Minsk II, Verweigerung aller Verhandlungen zu Russlands Vorschlägen –, trug zur Eskalation des Vorkrieges bei. Mahnungen wurden in den Wind geschlagen, Warnungen verpufften wirkungslos, Appelle blieben unbeachtet – nicht obwohl, sondern weil damit der Krieg unausweichlich wurde. Man musste nur das Containment durch grenznahe Manöver und Waffenlieferungen an die Ukraine steigern, Minsk II absterben lassen und mit Hilfe der Medien eine antirussische Stimmung befeuern.

Die Menschen in der Ukraine leiden. Doch wer profitiert von der »Zeitenwende«? Der Krieg ist ein Verbrechen, und Putin trägt die Verantwortung. Aber die westlichen PolitikerInnen waren keine Schlafwandler. Ein Aufruf bringt die Schlussfolgerung auf den Punkt: Die Waffen nieder! Friedenslogik statt Kriegslogik!

Georg Rammer

(Ossietzky 06/2022)

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Geschrieben von

grammer

Die alten Ziele Demokratie, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Würde sind aktueller denn je - tun wir was dafür.

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