Marktkonforme Demokratie

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Georg Rammer

Marktkonforme Demokratie

oder: Gerechtigkeit und echte Demokratie – jetzt!


Immer weniger Menschen halten die staatstragenden PolitikerInnen für glaubwürdig. Sie haben mitnichten den Eindruck, von diesen ehrlich informiert oder gar ihrem Mandat entsprechend vertreten zu werden. Ganz im Gegenteil. Gerade bei Fragen von existenzieller gesellschaftlicher Bedeutung, beim Afghanistan-Krieg, bei der Endlagerung wachsender Atom-Abfall-Berge oder im Umgang mit dem erpresserischen Machtmissbrauch der Banken ist nicht mit Aufdeckung und Aufrichtigkeit zu rechnen, sondern mit Tricks, Täuschung und Vertuschung . EnBW-Kauf, S 21, Verfassungsschutz – die Liste ließe sich nach jeder Zeitungslektüre erweitern. „Wir dürfen mitspielen beim Demokratie-Theater!“, brachten es S21-Gegner auf den Nenner.


Die Demokratie wird „marktkonform“ (Angela Merkel) gemacht, die Interessen der Banken herrschen über die Menschen. Die Elite aus Wirtschaft, Politik und Medienimperien setzt Interessen durch, die nicht die der Bevölkerung sind. Die „Kunst“ der Politik besteht darin, dennoch die Loyalität der Massen zu sichern.


Beispiel 1: Krieg

Hatten wir vor 20 Jahren nicht Hoffnung auf eine friedlichere Welt? Es war das Ende der Blockkonfrontation, es gab keinen Grund mehr für die groteske waffenstarrende Bedrohung. Plötzlich war die Nato überflüssig und eine verkleinerte Bundeswehr mit der Aufgabe reiner Territorialverteidigung schien selbstverständlich. Aber was haben wir seitdem fassungslos erleben müssen und nicht verhindern können? Die Militarisierung der deutschen Außenpolitik, Jugoslawien-Krieg und einen verlogenen desaströsen Irak-Krieg. Derzeit werden deutscher Interessen in Afghanistan „verteidigt“.


Nato- und Bundeswehr wurden auf eine neue Doktrin verpflichtet: Sie sollen weltweit Einsätze durchführen, auch „präventiv“, zur Absicherung der Wirtschaftsinteressen. Bemerkenswert, wie schnell Horst Köhler verschwunden war als Bundespräsident, nachdem er den Fehler begangen hatte, die deutschen Wirtschafts-Interessen am Hindukusch zu benennen. Zwar werden die Lügen immer wieder offenkundig; dennoch bleibt die ganze Welt unsere Interessensphäre wie in schlechten alten Zeiten des Kolonialismus und Imperialismus. Menschenrechte und Völkerrecht werden missachtet. Kissinger und Bush, Blair und Fischer bleiben ehrenwerte Staatsmänner, unbehelligt vom Internationalen Gerichtshof.


Beispiel 2: Umverteilung

Allein in den letzten zehn Jahren fand in Deutschland eine Umverteilung von den Arbeits- zu den Besitzeinkommen in Höhe von 789 Mrd. Euro statt. Die Verteilung des Vermögens in Deutschland ist grotesk ungerecht: Ein Prozent der Reichsten besitzt dreimal so viel wie 70 Prozent der Bevölkerung. Die Kluft wächst und zerreißt die Gesellschaft. Die Politiker sagen uns: Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt!


Riefen wir nicht vor zwei Jahren: Make Capitalism History! Schließlich ist doch für alle sichtbar und spürbar geworden, dass dieser menschenverachtende neoliberale Finanzkapitalismus, der verbrämend Globalisierung genannt wird, abgewirtschaftet hat und eine Schneise der Verwüstung hinterlässt. Endlich kann etwas Besseres geschaffen werden als Agenda 2010 und Hartz IV und Finanzmafia mit der verheerenden Folge krasser Spaltung in Luxus und Verelendung. Endlich ist Schluss mit dem Zugrunderichten von Volkswirtschaften und dem Aushungern von Millionen – zugunsten der Profite und weil die Märkte und der Standort es erfordern!


Wir wissen, was kam. Kurz hatten sie inne gehalten, die Elite aus Politik und Wirtschaft und Medien. Aber jetzt sind es exakt dieselben Personen, die mit denselben Methoden ihre Ziele rücksichtslos durchsetzen. Niemand von denen, die die Krise verursacht haben, wird zur Rechenschaft gezogen, niemand haftbar gemachtvon denen, die die Spekulationsgewinne eingesteckt haben. Ihr Kapital und ihr Vermögen werden gerettet, während die Hälfte der Bevölkerung verarmt oder unsicher lebt und mehr als die Hälfte der jungen Leute nur noch prekäre Jobs bekommt. Wissenschaftler registrieren eine zunehmende „Verrohung“ gerade bei den wohlhabenden BürgerInnen.


Die Rezepte zum Abbau der Schulden sind die alten: Privatisierung, Deregulierung, Kürzungen der staatlichen Daseinsfürsorge. Politiker der Opposition rufen: Die Regierung hat versagt! Aber war dieser Umbau nicht die erklärte Absicht? Jetzt werden in ganz Europa drakonischen Maßnahmen zu Lasten der Bevölkerungdurchgesetzt – die Umverteilung geht verschärft weiter. Natürlich wurde die Finanzmarktkrise nicht inszeniert, um den gesellschaftlichen Umbau und die Umverteilung zu forcieren. Aber genau dafür wird sie genutzt und sie hat eindeutige Gewinner: Banken, Konzerne, Reiche. Und Verlierer, nämlich die breite Bevölkerung. Milton Friedman, der „Papst“ der Neoliberalen, hatte die Methode vorgegeben: „Nur eine Krise führt zu echtem Wandel. Wenn es zu so einer Krise kommt, hängt das weitere Vorgehen von den Ideen ab, die im Umlauf sind. Das ist unsere Hauptfunktion: Alternativen zur bestehenden Politik zu entwickeln, sie am Leben und verfügbar zu halten, bis das politisch Unmögliche politisch unvermeidbar wird.“ (Naomi Klein: Die Schock-Strategie, S. 197) Genau das wird derzeit in Europa exekutiert.


Beispiel 3: Demokratie

Katastrophenstimmung bei Politikern und Börsen: Der griechische Ministerpräsident will das Volk befragen! Das hat sich schnell erledigt. Die neuen Präsidenten in Europa sind Banker und Berater von Goldman Sachs. Italiens Monti wurde zum Präsident ernannt, weil er als „Kandidat der Märkte“ gilt – und die Regierung muss erst mal das Vertrauen der Investoren wieder herstellen, nicht das des Volkes. Und die Geier warten schon: Die Finanzmärkte sind auf Länder wie Österreich und Frankreich aufmerksam geworden. „Paris und Wien fürchten deshalb um ihre Bonität und wollen dies mit Sparmaßnahmen und Privatisierungen abwenden.“ Sogar Frank Schirrmacher von der FAZ sagt: „Sieht man denn nicht, dass wir jetzt Rating-Agenturen, Analysten und irgendwelchen Bankenverbänden die Bewertung demokratischer Prozesse überlassen?“ (taz, 15.11.11)


Schauen wir die real existierende Demokratie an. Ein Blick auf die Gästeliste der Geburtstagsfeier von Herrn Ackermann bei der Kanzlerin kann aufschlussreich sein, wer zur Machtelite zählt: Es sind die „Leistungsträger“ unserer Gesellschaft, die Vorstandsvorsitzenden von Banken und Konzernen, die Medienbosse und Milliardäre. Fragen wir mal Herrn Cameron, was er in seinen zweiwöchentlichen Gesprächen mit dem Zeitungszar Murdoch verhandelt hat. Springer, Bertelsmann, Murdoch oder Berlusconi: „Sie betrachten die Medien, ihre Medien, keinesfalls als Teil eines demokratischen Prozesses, sondern als Garant der bestehenden Machtverhältnisse, die ihnen Einfluss und Reichtum sichern.“ (Mathew D. Rose: Politik als Geschäft. Kontext, 26./27.11.11) Gesetze werden von Lobbyisten und Konzernvertretern formuliert und die Politiker wechseln scham- und nahtlos zu den Konzernen, deren Interessen sie vorher politisch durchgesetzt haben. Wenn Menschen gegen die Machenschaften von Bahn und Politik zornig auf die Straße gehen, werden sie von diesen erst verlacht, dann verprügelt und schließlich, wenn alles nichts nützt, an den Schlichtungstisch gelockt.


Nicht nur Länder werden kolonisiert, auch die Köpfe und die Seelen der Menschen. Alle Parteien im deutschen Bundestag haben die neoliberale Agenda-Politik unterstützt – bis auf die Linke, die pauschal vom Verfassungsschutz beobachtet wird.

Aber zufrieden ist die Bevölkerung nicht mit der Lage. Alle Umfragen zeigen: In essentiellen Themen wie Krieg, Macht der Wirtschaft und der Banken oder Atompolitikregiert die Bundesregierung gegen starke Mehrheiten. Die wenigsten Bürger haben die Überzeugung, dass man mit Wahlen Einfluss auf die Politik nehmen kann. Überwältigende Mehrheiten halten die sozialen Verhältnisse für ungerecht und wollen, dass die Verantwortlichen für die Krise zahlen. Aber: Viele Menschen sind orientierungslos und haben resigniert. Oder sie haben akzeptiert: There is no alternative.


Deshalb haben außerparlamentarische Gruppen eine Verantwortung. Aufklärung tut Not, von Initiativen und sozialen Bewegungen und Menschen, die nicht verstrickt sind in den Klüngel. Ihre Agenda ist die Umverteilung von Vermögen, Arbeit und Macht, ist Gerechtigkeit und echte Demokratie. Und eine Gesellschaft, in der der Mensch, seine Würde, seine Bedürfnisse, seine Gefühle und sein Bedürfnis nach Selbstbestimmung der Maßstab sind.


In der Evolution gab es eine entscheidende Entwicklung. Das höhere Säugetier erwarb allmählich die Fähigkeit, sich in andere hineinzudenken und hineinzufühlen. Wir nennen diese Fähigkeit Empathie. Das war der entscheidende Schritt zum Menschen. Dadurch wurde es möglich, andere zu verstehen, zu unterstützen und Gemeinschaften zu bilden. Das gegenwärtige System aber, das seine Zuspitzung im neoliberalen Kapitalismus fand, hält den Menschen dazu an, genau dieser zutiefst menschlichen Fähigkeit zur Empathie zuwider zu handeln. In Kindergarten und Schule sollen Kinder lernen, die Gefühle anderer zu achten, mitfühlend und hilfsbereit zu sein. Sie sollen Respekt erfahren, damit sie andere und sich selbst respektieren können. Und was gelten diese Werte in der Gesellschaft?


Wenn das gesellschaftliche Leitbild Egoismus und Konkurrenz sind, wird die wichtigste Grundlage des Menschseins vernichtet, wird Barbarei die Folge sein. Unsere Verantwortung ist, alles zu tun, damit es nicht dazu kommt. Denn nicht Banken sind systemrelevant, sondern Menschen.


Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

grammer

Die alten Ziele Demokratie, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit und Würde sind aktueller denn je - tun wir was dafür.

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