9. November statt 3. Oktober? – 8. Mai!

Deutsche Einheit Rechtspopulisten triumphieren und Deutschland feiert seinen spießigen Vereinigungsnationalismus. Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Wir brauchen eine Erinnerungskultur

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Zum Glück sind sie bald vorbei, die deutschen Jubelwochen. Es fehlen nur noch die 750ste Wiederholung von Schabowskis Angriffsbefehl auf den Klassenfeind und die Endlosschleife der geilen Bilder national besoffener Massen, dann haben wir es für dieses Jahr geschafft. Heuer ist es ja besonders feierlich: Silberhochzeit!

Bei einer der grandiosen Fernsehrunden zum 3. Oktober diskutierten die Berufenen darüber, ob der 9. November wegen der damaligen Grenzöffnung nicht das eigentlich wichtigere Datum sei und zum Feiertag erklärt werden sollte.

Zur Vermeidung von Missverständnissen: Den Bürgern der DDR war, wie allen Menschen, die Reisefreiheit zu gönnen, und wer will, kann gern an beiden Tagen einen Schnaps darauf trinken.

Gleichwohl werden diese Daten im politischen Diskurs in falscher Weise überhöht gegenüber einem historisch wichtigeren, wenn nicht dem wichtigsten Datum der neueren deutschen Geschichte: Dem 8. Mai 1945 als dem Tag der Befreiung vom Faschismus.

Diese war nicht nur eine Befreiung Deutschlands von der Gewaltherrschaft der Nazis sondern die Befreiung der Welt von deren imperialistischem Wahn. Zugleich begründeten die Leichenberge von Auschwitz als Produkt des industriell organisierten Massenmords an Millionen Menschen und Menetekel der modernen Gesellschaft den Maßstab künftiger Ereignisse.

Folglich wiegt die Beseitigung des Nazi-Regimes schwerer als das Scheitern der DDR, mit welchen Mängeln diese auch immer behaftet gewesen sein mag, zumal die Spaltung Deutschlands und Europas, deren Überwindung nun gefeiert wird, überhaupt erst das Ergebnis des Faschismus war.

Hinzu kommt, dass es sich bei dem epochalen Kraftakt von 1945 bekanntlich um keine Selbstbefreiung der Deutschen handelte. Im Gegenteil: Die halbe Welt musste als militärische Streitmacht anrücken, um unseren Altvorderen den Ungeist des Herrenmenschen auszutreiben.

Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zu den Ereignissen von vor 25 Jahren. Während „Wehrwolf-Kommandos“ noch in der längst besiegelten Niederlage der Nazis so viele Menschen wie möglich ermordeten, wurde der „Herbst des Volkes“ zur vergleichsweise gewaltlosen Konterrevolution, weil Honecker und Genossen ein Einsehen in ihr Scheitern hatten.

Aus den Träumen von 1989 ist indessen nicht viel geworden. Weder erblühten die Landschaften noch wurde die viel beschworene „innere Einheit“ je verwirklicht. Kein Wunder: Der Vereinigungsprozess war eine Missgeburt von Anfang an. Die Administration Kohl hatte ihn allein auf den damaligen Grundgesetzartikel 23 hin organisiert, der vielleicht geeignet gewesen wäre, eine Vereinigung von Kreuzlingen mit Konstanz zu bewerkstelligen, aber nicht die zweier Staaten.

Der eigentlich vorgesehene Weg der verfassungsgebenden Versammlung gleichberechtigter Verhandlungspartner kam für den Zufallskanzler der Einheit nie in Frage, der DDR wurden die bundesrepublikanischen Strukturen kurzerhand oktroyiert. Nicht einmal der 8. Mai durfte Feiertag bleiben.

Heute ist Deutschland der Hegemon einer neoliberalen EU und seit 15 Jahren wieder aktive Kriegspartei. Ob das politische Führungspersonal aus ergrünten Straßenkämpfern, ehemaligen „Jungsozialisten“, Apparatschiks der FDJ oder bürgerrechtsbewegten Freiheitspastoren besteht, spielt dabei keine Rolle.

Die Nachwendepolitik plätscherte ein Vierteljahrhundert in Beliebigkeit dahin, doch werden die Folgen ihrer Schlamperei spätestens mit dem akuten Rechtsruck, dem Erstarken national-konservativer Populisten und grassierender Fremdenfeindlichkeit als ihren krassen und einem naiven Partynationalismus als ihren belämmerten Ausdrucksformen erkennbar.

Immerhin existieren auch Gegenkräfte. Nazi-Demos treffen auf Widerstand und seit 10 Jahren steht mit dem Holocaust-Mahnmal an exponierter Stelle ein steinernes Eingeständnis deutscher Verbrechen. Ein schöner Ort, wie ich finde und gewiss ein Stachel im Fleisch alter und neuer Faschisten.

Unpassenderweise feiert man in 2014 aber noch ein weiteres deutsches Jubiläum. Zum 60sten Mal jährt sich der Gewinn einer Fußball-Weltmeisterschaft. Gibt es Peinlicheres, als die bis heute hundertfach wiederholten Bilder aus Bern-Wankdorf mit deutschen „Schlachtenbummlern“ in ihren langen Ledermänteln aus den Kleiderschränken der Gestapo?

Gibt es Peinlicheres in der Nachkriegsgeschichte als diese unheilbaren Deutschen, die sich keine zehn Jahre nachdem sie sich der entsetzlichsten Taten schuldig gemacht hatten, nichts sehnlicher zu wünschen schienen als endlich ihr zackiges „Hurra, wir sind wieder wer!“ in die Welt zu schreien?

Europa lag in Schutt und Asche und war zur Hälfte leer gemordet, aber das dafür verantwortliche Tätervolk feierte, neuerlich national besoffen, seine Fußballmannschaft, wiewohl es ihm angesichts seines Menschheitsverbrechens gut angestanden hätte, einmal für ein halbes Jahrhundert seine große Klappe zu halten.

Die dümmliche Stilisierung eines Fußballspiels zum „Wunder von Bern“ oder die postpubertäre Tribünenhoppelei einer Bundeskanzlerin sind Ausdruck einer medial befeuerten Infantilisierung der Öffentlichkeit, die angesichts wachsender ökonomischer Widersprüche mit billigen Heldengeschichten eingelullt werden soll.

Auf einen 9. November fielen – im Jahre 1918 – schon einmal wichtige Ereignisse: Die Abschaffung der Monarchie in Deutschland und die Ausrufung der Republik, als von weiten Bevölkerungsteilen getragene Akte der Emanzipation.

Nunmehr wird zwischen dem 3. Oktober und dem 9. November der Beitritt der DDR zur BRD beklatscht und damit auch die Erweiterung des globalisierten Kapitalismus, der durch die Landnahme im Osten überhaupt erst seine heutige Virulenz entfalten konnte.

Wer aber „vom Kapitalismus nicht reden will, soll auch vom Faschismus schweigen“. Horkheimers Forderung ist angesichts gegenwärtiger Rechtsrucke gültiger denn je. Deutschland braucht einen erwachsenen Blick auf seine Geschichte. Mehr Stalingrad, weniger "Bern".

Machen wir den 8. Mai zum Befreiungstag und die Tage um den 9. November zur Festwoche deutscher Revolutionen. Und wenn die heimische Unternehmerschaft bei soviel Feierei den Untergang ihres Wirtschaftsstandorts befürchtet, kann zum Ausgleich der unsägliche Weihnachtskitsch gestrichen werden – diese Revolution ist schon lange überfällig.

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