Hätte ihn 1989 nicht eine verschleppte Herz-Lungen-Erkrankung auf dem absoluten Höhepunkt seines Ruhms dahingerafft, würde der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard nun also seinen achtzigsten Geburtstag feiern. Wer die Flut der neueren Veröffentlichungen und das stetige, posthume Anwachsen seines Werks überblickt, könnte zu der Überzeugung gelangen, dass Bernhard längst fest im Kanon der deutschsprachigen Literatur installiert ist. Doch einige Jahrzehnte eines turbulenten Nachlebens genügen nicht, um ein umfangreiches und kontroverses Werk vollständig zu würdigen und ein abschließendes Urteil zu fällen. Das santo subito gibt es in der Literatur nicht.
Dass Bernhards Werk enormen Einfluss auf die Gegenwartsliteratur hatte, ist unstrittig. Bereits zu seinen Lebzeiten entstand eine beinahe unübersehbare epigonale Literatur. Seine von Wiederholung und Variation geprägten Tiraden übten auf die nachfolgende Schriftstellergeneration einen Sog aus, dem offenbar kaum zu entkommen war. Als er Anfang 1989 starb, war Bernhard Kult. Selbst die Exponenten der sogenannten Popliteratur drückten ihre Verehrung aus, dabei muss ihnen klar gewesen sein, dass mit der Gegenliebe des missmutigen Meisters nicht zu rechnen gewesen wäre. Bernhard wurde zum Schutzheiligen einer ungehemmten, von der Formel dachte ich exkulpierten Quasselei, die sich von der Buchseite löste und über die Bühnen des Regietheaters bis ins deutsche Privatfernsehen flatterte.
Inzwischen gilt es als peinlich, wenn sich Schriftsteller oder Kritiker dem Bernhard-Sound hingeben oder versuchen, ihn zu persiflieren. Besonders peinlich, wenn es ihnen nicht gelingt. Noch peinlicher, wenn es ihnen nicht gelingt, während sie zu demonstrieren versuchen, wie leicht es ist, den berühmten Sound nachzuahmen. In diesem Sinne ist Bernhards Literatur gerade nicht besonders en vogue. Dafür erfreut sich nun die Person des Autors mit all ihren Schwächen einer besonderen Beliebtheit (siehe Artikel Kasten). Seit der schamlose Ferkelhändler und Immobilienmakler Karl Ignaz Hennetmair mit seinem sogenannten versiegelten Tagebuch durch die Talkshows gezogen ist, entgeht der interessierten Öffentlichkeit gar nichts mehr. Selbst Bernhards scheue Freundin Hedwig Stavianicek ist schon Thema einer Ausstellung und eines begleitenden Bildbandes gewesen, 2008 wurde das bernhardsche „Lebensmensch“ zum österreichischen Wort des Jahres gekürt.
Nun findet auch der Briefwechsel des Autors mit seinem Verleger Siegfried Unseld noch Abnehmer, dabei ist in Deutschland seit Goethes Dichtung und Wahrheit kaum ein quälenderes und verlogeneres Buch erschienen als eben dieses. Die Beziehung, die hier auf knapp 900 Seiten ausgebreitet wird, lässt sich in etwa so zusammenfassen: Zwei Männer, durch Erfolg aneinandergekettet, giften und schleimen sich so lange gegenseitig an, bis sie nicht mehr können. Eigentlich geht es dabei immer nur um Geld. Gibt es wirklich Menschen, die so etwas freiwillig lesen bzw. hören? Und wem ist es eigentlich eingefallen, einen Briefwechsel, die schriftliche Kommunikation in ihrer reinsten Form, als Hörbuch herauszugeben?
Weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit findet derweil die kritische Aufbereitung von Bernhards Gesamtwerk statt, ein editorisches Großprojekt, das von dem 2008 verstorbenen Wiener Germanisten Wendelin Schmidt-Dengler initiiert und unter Leitung von Martin Huber überaus kompetent ausgeführt wird. In zweiundzwanzig Bänden wird die Grundlage für eine Einordnung, aber auch für eine Sortierung des umfangreichen Werks geschaffen. Bernhard war ein Vielschreiber, nicht weil er vor Ideen sprühte – dafür war er zu engstirnig und schuf sich früh ein Umfeld, das ihn intellektuell nicht forderte – sondern weil er extrem geldgierig war. Es ist also an der Zeit, in seinem Werk die Spreu vom Weizen zu trennen.
Seit längerem schon zeichnet sich dabei ab, dass Bernhards dramatisches Werk qualitativ nicht an die Prosa heranreicht. Wer Sätze schreibt wie „Theaterdirektoren / sind die Unverläßlichkeit selbst / die Unpünktlichkeit / ein Schauspieler hat niemals / mit der Pünktlichkeit des Theaterdirektors zu rechnen“ (Minetti), der muss wissen, dass sie nicht für die Ewigkeit geschaffen sind. Auch die Romane des letzten Lebensjahrzehnts, vom Untergeher bis zur Auslöschung, haben ihre Kritiker, und die Frage ist berechtigt, ob der von Krankheit gezeichnete Autor denkmüde wurde und ein wenig seiner eigenen Masche erlegen ist. Am stärksten ist Bernhard wohl in den autobiographischen Texten und in den kürzeren, konzentrierten Erzählungen der frühen und mittleren Phase.
Wer nach all dem Geschwätz über diesen Autor, nach all den Fehden und Skandalen immer noch keine Gelegenheit hatte, sich mit seinem Werk anzufreunden, dem sei die autobiografische Erzählung Ein Kind empfohlen, die von der ersten bis zur letzten Zeile auch denjenigen Leser überzeugen muss, der Bernhard zeitweilig für eine Erfindung des oberösterreichischen Tourismusverbandes oder den Avatar eines Ferkelhändlers gehalten hat.
Ein Kind ist zusammen mit vier anderen autobiografischen Erzählungen von Thomas Bernhard dieser Tage bei dtv in neuer Ausstattung erschienen.
Gregor Hens lehrt Germanistik an der Ohio State University in Columbus und hat mehrere Romane und Erzählungen veröffentlicht. Im März erscheint im S. Fischer Verlag sein neues Buch Nikotin
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