Alles eine Frage der Betrachtung

Bilder und Realität Es ist ein alter Hut, dass Fotos und Beschreibungen über die Ausstattung von Urlaubsunterkünften mit Vorsicht zu genießen sind. Ein etwas anderer Erfahrungsbericht

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Zwei Wochen Italien. Sizilien. Zwei Wochen Meeresrauschen im Ohr. Salz auf der Haut. Zwei Wochen unbändige Hitze - gemildert durch eine kalkgeputzte, weiß getünchte Oase. Ein Ferienhaus. Direkt am Meer. Mit Dachterrasse. Das Haus eines im Rom lebenden Künstlers. Einfach eingerichtet. Ohne viel Schnick-Schnack. Genau das, was man für einen Urlaub sucht. Einen Urlaub mit zwei Kinder, die mal klein sind - und manchmal auch schon groß. Ein Urlaub mit Büchern. Ein Urlaub mit kleinen Ausflügen in die sizilianische Geschichte.

Die Beschreibung des Hauses und die Bilder waren wie ein Versprechen auf einen traumhaften Urlaub.

Doch Vorsicht. Es ist zweifelsfrei ein alter Hut, dass die Wirklichkeitsreproduktion von Fotos mithin von Beschreibungen über die Ausstattung von Urlaubsunterkünften kaum einer intersubjektiven - und schon gar nicht einer objektiven - Realität Stand zu halten vermag. Aber die Schon-Da-Gewesenen! Sie sind eine Instanz, der man trauen darf. Wir haben aufmerksam gelesen. Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Zu zweifeln.

Jetzt sind wir wieder zurück - und machen uns ernsthaft Sorgen. Ob der vielen offenen Fragen, die wir mit nach Hause genommen haben - und von denen nur einige zufriedenstellend von uns beantwortet werden konnten.

Welche Funktion(en) etwa erfüllen Sitz- und Liegemöbel, die als solche nicht mehr zu benutzen sind, aber allerorten im Ferienhaus vorzufinden waren (und wahrscheinlich noch immer sind)? Nun gut. Ein kaputter Stuhl, der einer IKEA-Stehlampe zu einem erhöhten Standort gleichsam zu mehr Strahlkraft verhilft, hat einen durchaus akzeptablen Funktionswandel durchlebt. Und als Einrichtungsgegenstand war der nicht mehr zum Sitzen zu gebrauchenden Holzkonstruktion in der Küche ein zumindest ästhetischer Wert inhärent, insbesondere im Ensemble der verbliebenen Küchenstühle, die ihrem Namen alle Ehre machten. Demgegenüber vegetierten die zwei Sonnenliegen auf der Dachterrasse, die erst bei näherem Hinsehen als ehemals solche zu identifizieren waren, völlig sinnentleert dahin.

Sinnfreiheit? Als konstitutives Merkmal von Kunst? Schließlich bewohnten wir ein Ferienhaus, das ein Künstler sein eigen nennt. Nicht das an den Wänden Hängende hatten also einen künstlerischen Wert - wie auch, denn drei Viertel des Zeugs stammte aus der Bilderrahmenabteilung von IKEA und war Nippes -, sondern in der (ehrlicherweise partiellen) Funktionsauflösung gleichsam -aufweichung der vorgefundenen Einrichtungsgegenstände, Küchengeräte, Möbel usw. vergegenwärtigte sich also ein künstlerisches Moment. Die Ästhetik des Mantels, der Umhüllung? Der Form? Und nicht des Inhalts! Eine dadaistisch beeinflusste Kritik am Fortschritts- und Technologiewahn der Moderne?

Dies würde einiges erklären. Zum Beispiel den Radio-Kassettenrecorder in der Küche. Vermutlich aus den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Auto-Reverse. Mit Equilizer und einem vergilbten Laura Aufkleber im typographischen Bubble-Design. Obschon die technischen Defizite des Gerätes es uns leicht machten, gänzlich auf Musik zu verzichten, durchströmt uns heute (erst) die transzendente gleichsam künstlerische Intention. Allein im Ergebnis der Funktionsuntüchtigkeit des Radios wurden wir in die Lage versetzt, aus dem massenmedial determinierten Wahrnehmungskosmos unseres Lebens aufzutauchen und die Bedeutung des Zwischenmenschlichen - die Wahrheit dahinter - zu erkennen: Wer ist Laura? Wie alt mag sie sein? Heute. Hat sie Kinder? Weiß Laura, dass ihr alter Kassettenrekorder in Granelli steht?

Aber damit nicht genug. Ebenso der Fernseher. Die Existenz eines Fernsehers, der zwar rein technisch (sehen wie auch hier vom Alter des Gerätes einmal ab) in Ordnung ist, aber aufgrund nicht vorhandener digitaler oder analoger oder digital-terrestrischer Verkabelung kein Bild liefert, erscheint zunächst absurd. Nicht aber, wenn wir uns dem Gerät wieder aus einer anderen Perspektive nähern. Allein die Frage bleibt bis heute unbeantwortet, ob es dem Einrichter (lediglich - ist man fast gewillt zu sagen) um den Farbkontrast ging, der durch die Positionierung des schwarzen Flimmerkastens auf dem weißen Kühlschrank erzeugt wird, oder um tiefer liegende Motive, wobei das eintönige Flimmern abermals als ideologiekritische Anklage unserer massenmedial konstituierten, selektiven Wirklichkeitswahrnehmung zu verstehen wäre. Man weiß es nicht.

Schwerwiegend auch das Problem der beiden Gummihandschuhe. Sie sind kein Paar, wenngleich ein linker und ein rechter. Ein gelber und ein roter. Der rote mit Rissen. Wie zufällig. Bei regulärer Nutzung (durch uns?) würden die Finger zumindest der rot behandschuhten Extremität im ätzenden Wischwasser ersaufen. Sie lagen bei unserer Ankunft auf dem Dach der Jugendstil Vitrine, die die Küche verzauberte. Gut sichtbar - aber nie aufdringlich. Sind sie Kunstobjekte wie die anderen, von uns bereits identifizierten, ihrer ursprünglichen Funktion beraubten Artefakte? Wir denken schon. Denn auch der mutmaßlich seit Jahren (oder Jahrzehnten?) nicht mehr befeuerte Steinbackofen mit seinen bröckelnden Schamottsteinen und die vom Rost zerfressenen Grillstellen und -geräte im und um das Haus herum reihen sich nahtlos als Ausstellungstücke in die Aktions- und Konzeptkunstexposition vor Ort ein. Und wir mittendrin, gleichsam als lebende Kunstobjekte? Was bedeutet da schon die anfängliche Verheißung einer selbst gemachten Steinofenpizza oder eines gegrillten Fisches oder einer gegrillten, roten Aubergine im rotgoldschimmernden Schein der im Mittelmeer versinkenden Sonnen? Das ist schnöde, kommerzialisierte Schlagerromantik. Capri ist so weit weg.

Waren wir also Teil eines Gesamtkunstwerkes? Eines Gesamtkunstwerkes, das die Wegwerf- und Mediengesellschaft zum Gegenstand hatte? Um die Augen des Betrachters mithin als Teil des Ganzen - pars pro toto - zu öffnen? Eine andere Interpretation ist kaum mehr möglich - angesichts auch der defekten Jalousie, die den (nennen wir ihn) Aufenthaltsraum und sein Interieur in stetes Energiesparlampendämmerlicht hüllte. Oder die Propangaskochstelle und die Elektroinstallation. Die von beiden Exponaten ausgehenden Gefahren (man ist geneigt, für Leib und Leben zu sagen) sind kaum anders als das künstlerisch umgesetzte Motiv für die Entfernung unserer Lebenswelt von der ursprünglichen menschlichen Existenz zu interpretieren: Den Gefahren, die wir im Informations- und Atomzeitalter nichts mehr entgegensetzen können, stehen die ursprünglichen, basalen Gefahren gegenüber, denen sich der Mensch mit Pfeil und Bogen, mit einem Gebet oder Zauber noch erfolgreich erwehren konnte - vergegenständlicht zumal in seiner grausamsten zugleich aber eindrücklichsten Art und Weise durch die allerorten an den Wänden, im nächtlichen Gefecht zur Strecke gebrachten und im Blut ihrer sich rächenden Mörder verendeten Mückenleiber.

Alles Kunst ist Kunst ist Kunst im Künstlerhaus. Auf Sizilien. In Granelli. Nee - sonst war schön.

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