Perspektivwechsel

Der seltsame Krieg oder auch Sitzkrieg "wird der Zustand an der Westfront des Zweiten Weltkrieges zwischen der Kriegserklärung Großbritanniens und Frankreichs an das Deutsche Reich beschrieben, in dem beide Seiten militärisch weitgehend passiv blieben."

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So kann man es auf Wikipedia nachlesen. An dieser Stelle frage ich mich, wie man den gegenwärtigen Krieg in der Ukraine im Nachhinein bezeichnen wird.

Im "Fog of War" kann man jetzt immer öfter lesen, dass die "Putinversteher" reihenweise umkippen. Selbst eine begabtete Analytikerin wie Fr. Wagenknecht fällt vom Glauben ab. Das kann doch nur passieren, wenn man Weltpolitik oder Politik allgemein auf das "Verstehen" von Politikern geschränkt. Sollten nicht eigentlich Interessen im Vordergrund stehen? Und neben den Interessen auch die Mittel, diese zu erreichen?

Aus meiner Sicht gibt es auf der Welt nur 3 Staaten, die die Mittel haben, ihre Interessen allein durchzusetzen. Einer davon praktiziert das seit 80 Jahren mehr oder weniger offen und brutal mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen. Die USA haben sich daran gewöhnt, wie ein Schulhofbully über alle Ressourcen der Welt zu verfügen. Bis 1989 war ihnen der Zugriff auf einen Teil der Welt verwehrt. Nachdem sich dieser Teil freiwillig ergeben hat, schien die Sonne 24 Stunden im gesamten Imperium und ging nicht unter. Im Siegestaumel achteten die USA nicht darauf, dass der Keim ihres Unterganges schon von ihnen selbst gelegt worden war. Die Globalisierung machte China groß, der zweite Staat, der eigene Interessen selbst durchsetzen kann. Durch seine schiere Größe und die unendlichen Rohstoffvorkommen konnte sich Russland nach den Jelzinjahren wieder die Position erarbeiten, den USA die Stirn zu bieten. China und Russland ist gemeinsam, dass sie die USA nicht offen bekämpft haben, weil sie wussten, dass sie dazu auch gemeinsam bisher zu schwach waren und die Gefahr des Untergangs der Welt in einem atomaren Inferno zu groß sein würde. China betreibt im Stillen seine Politik, indem es seine Wirtschaftsmacht in immer entlegenere Region der Welt ausbreitet. Russland hat auf die militärische Karte gesetzt und konnte unter dem Radar der westlichen Geheimdienste ein Potential aufbauen, dem die Amerikaner auf einigen Gebieten nichts ebenbürtiges entgegensetzen können.

Russland hat sich nicht darauf verlassen, dass Friedensangebote (2001 im Bundestag, 2007 in München usw.) allein überzeugend sein würden. Syrien wurde 2015 zur Initialzündung. Die russische Armee konnte hier Strategien und Taktiken ausarbeiten und in der Praxis testen. Soldaten und Offiziere sammelten Kampferfahrung, neue Waffen wurden ausprobiert.

Der Westen verließ sich auf seine stärkste Waffe. Der Dollar als Weltwährung ist Garant für die Beherrschung der Weltwirtschaft und für einen sehr großen Teil des hiesigen Lebensstandards. Vor diesem Hintergrund muss man das militärische Eingreifen Russlands in der Ukraine sehen. Zum ersten Mal steht ein Land auf und sagt, 'dies sind unsere Interessen und wir sind nicht nur bereit, dafür zu kämpfen, sondern auch euren Gegenschlag in Form von Sanktionen zu ertragen'. Alle bisherigen Versuche solchen Aufbegehrens sind von den USA brutal niedergeschlagen worden, weil die Länder zu schwach waren. Jetzt werden viele Staaten schauen, was das Ergebnis der Kampfhandlungen und darüber hinaus sein wird.

Und damit zurück zum "Seltsamen Krieg". Die Einseitigkeit der Berichterstattung in den hiesigen Medien kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dort ein Krieg mit bemerkenswerter Strategie stattfindet. Die Ziele

- Neutralität des Landes

- Entwaffnung der Armee

- Anerkennung der Krim als russisches Territorium

- Entnazifizierung

sind klar definiert. Daran sollte man messen, was bisher geschah. In einem ersten Enthauptungsschlag sind große Teile der Kommandostruktur und des militärischen Kommunikationssystem zerstört worden. Die Luftwaffe ist nicht mehr existent und die Luftverteidigung weitgehend ausgeschaltet. Russland hat die komplette Luftüberlegenheit. Diese hat es aber nicht eingesetzt, um die Einheiten der ukrainischen Armee an der Front im Donbass aufzureiben. Die Verluste an ukrainischen Soldaten halten sich in engen Grenzen. Wer überläuft wird menschlich behandelt und könnte auch nach Hause gehen. Die zivile Infrastruktur wird nicht angegriffen. Die Versorgung der Bevölkerung mit Strom, Gas und Wasser ist nie gefährdet worden. Städte wurden nicht mit Flächenbombardements überzogen. Kiew ist eingekesselt, aber es wurde eine Autobahn als Fluchtkorridor offen gelassen. Man vergleiche diese Art des Krieges mit jedem anderen, der von den USA in den letzten 30 Jahren geführt worden ist.

Man muss jetzt nicht spekulieren, wie es weiter geht. Ob Russland die Ukraine dauerhaft besetzen wird, scheint mir aber unwahrscheinlich. Wie es die Ukrainer schaffen, sich von ihrer selbst gewählten Abhängigkeit vom Westen zu befreien und einen eigenen Weg zu gehen, wird man sehen müssen. Das wahllose Austeilen von Waffen an Zivilisten trägt sicher nicht zur zukünftigen Sicherheit bei. Ich empfehle jedem, sich noch einmal die Ereignisse auf dem Maidan in dem Video "Der Krieg in der Ukraine" anzusehen und sich vorzustellen, was dort mit einigen hundert Kalaschnikows losgewesen wäre.

Wenn oben von den Zielen die Rede war, gibt es natürlich noch weitere, insbesondere solche, die nicht offen benannt werden. Unter dem Stichwort "Multipolare Weltordnung" können sie zusammengefasst werden. Auch wenn es jetzt scheint, dass der Westen in der NATO enger zusammengerückt ist, werden sehr schnell Widersprüche aufbrechen, die durch das sinnlose Sanktionsregime angelegt worden sind. Der Dollar als Weltwährung ist entscheidend geschwächt worden, weil jetzt noch stärker nach Alternativen gescheut wird. Diese sind bereits da und werden in den kommenden Monaten und Jahren ihre Wirkung entfalten. Putin ist nicht umsonst Schachspieler, wenn er solche Konsequenzen nicht im Auge gehabt hätte. Unsere Versorgung mit Energie und Rohstoffen ist jetzt sehr viel unsicherer geworden. Aus unseren Gasspeichern ist bereits die menge entnommen worden, die im Sommer aufgefüllt worden war. Wenn wir im Dezember 90 % Füllstand erreichen wollen, dann müssen wir eine bisher nie dagewesen Gasmenge importieren. Das geht allein mit LNG nicht und wer soll uns dieses Gas zu welchen Preisen verkaufen? Was werden die Menschen sagen, die nicht so einfach 100 Mrd. € Sondervermögen mobilisieren können, um die höheren Preise zu bezahlen. Es wird Zeit im Land zu fragen, welche Entscheidungen in unserem Interesse liegen und welche nur dafür gemacht werden, eine kleine Clique hinter dem großen Teich noch reicher zu machen. Das wäre ein Thema für eine wirkliche Friedensbewegung.

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