Man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht

Der Artikel "Peter Handke. Zum Beispiel" von Daniel Sandmann kann helfen, Zusammenhänge zu erkennen, die durch die schiere Masse einseitiger Darstellungen verschüttet werden

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In den vielen Diskussionen zur Vergabe des Nobelpreises ging und geht es um Zahlen - Opfer, Massengräber und Vertriebene werden akribisch aufgelistet. Dabei kommen unterschiedlichste Größenordnungen heraus. Jeder pocht auf sein Ergebnis als das alleinig richtige. Darüber wird das Problem, dass man mit noch so akkuratem Zählen der Bäume den Wald nicht beurteilen kann, in den Hintergrund gedrängt. Der Streit um Zahlen lenkt sogar davon ab. Ist das vielleicht Absicht? Solche und viele andere Fragen wirft Daniel Sandmann in dem Artikel "Peter Handke. Zum Beispiel" auf, der von Telepolis veröffentlicht wurde. Darin wird das gängige, durch die Medien vermittelte Bild vom Wald hinterfragt, in Frage gestellt. Er zeigt am Beispiel der Handke-Diskussionen Tendenzen der Entwicklung unserer Medien und der Diskussionskultur, ohne sie zu verabsolutieren. Der Artikel kann auch als Lehrbeispiel dienen, wie festgefahrene Standpunkte durch skeptische Beurteilung aufgebrochen werden könnten, indem sie in größere Zusammenhänge gestellt werden. Er schreibt z. B. über Srebrenica:

"Ein Äußerstes an Leid, ein Ort, wo Vergleiche enden und die Sprache mit ihnen. Später gab es Zahlen. 8.000 sagten die einen. 2.500 die anderen. Über die Leichen, die gefunden und gezählt worden sind, gibt es widersprüchliche Aussagen, je nach politischem Interesse. Auch das steht nicht in den Medien. Indes, die Zahl ändert am Schicksal nichts. Aber es fragt sich von außen her (Betroffenen ist das nicht zuzumuten): Muss die Zahl möglichst hoch sein?

Und: Muss es ein Genozid sein, um als Verbrechen durchzugehen? Reicht das Massaker, das es war, nicht aus? Wer profitiert von der Verwischung der Semantik? Und was hat der einzelne Mensch, der sein Leben auf entsetzliche Weise hat lassen müssen, davon, wenn es nicht ein Massaker gewesen wäre, sondern ein Genozid? Lässt sich das Entsetzen zu seinen Gunsten über den Genozid besser herstellen? Besser steuern? Besser halten? Oder ist es gar kein Entsetzen für diesen Muslim?"

Sein Verweis auf den modernen Totalitarismus der Medien halte ich für außerordentlich wichtig. Handke wird nicht nur von seinen Gegnern als Paria dargestellt. Auf die Causa Assange hinweisend schreibt Sandmann:

"Die Zersetzung läuft über Worte, die physische Dimension der Demontage bleibt weg. Was nicht unbedingt heißt, Handke wäre weit davon entfernt gewesen - gut denkbar, dass ein Leugnungsparagraph griffe und einer, der gesagt, was Handke gesagt, zöge die juristische und also physische Zerlegungsapparatur auf sich. Vielleicht war es das dünne Seil der Kunst, das Handke über dem Abgrund hielt."

In den Medien kommen praktisch kaum Menschen vor, die genauso wie er denken und zu den gleichen Schlüssen kommen. Die Bücher und Artikel von Kurt Gritsch, Hannes Hofbauer, Edward S. Herman oder auch das Buch "Srebrenica - Die Geschichte eines salonfähig Rassismus" von Alexander Dorin, sind dem breiten Publikum unbekannt. In früheren Zeiten wurden sie wenigstens noch erwähnt, um sie zu widerlegen. Heute werden sie einfach totgeschwiegen. Und dann gibt es da die aalglatten Autoren, die die Situation nutzen, um für sich selbst Profit herauszuschlagen. Am Beispiel von Stanišić zeigt er das ausführlicher:

"Nein, Stanišić hat diese ungleichen Ausgangsbedingungen für den medialen Showdown nicht geschaffen und sein persönliches Schicksal wird weder durch Geopolitik noch sonst was aufgehoben. Dass er Mühe hat mit Handkes Reise zu den Flüssen in Serbien, dass da eine Trennung bleibt, ein Riss bei der Lektüre: verständlich. Dass er sein Leid unter Exklusivrecht stellt: etwas weniger, aber auch noch.

Was auffällt: Wie schnell die angeblich getrübte Freude zu einer zur Schau gestellten getrübten Freude wird. Weshalb der mediale Weg und nicht das Gespräch? So möchte man fragen."

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