In Belgien schnitt mir jemand die Bremsschläuche durch. Aber immer trifft man dann auch Menschen, die helfen
Illustration: Ira Bolsinger für der Freitag
Im Sommer 2017 lernte ich auf Instagram Menschenrechtsaktivisten kennen, die Flüchtlingskindern, die in griechischen Lagern festsitzen, helfen wollen. Das beeindruckte mich, ich wollte auch was tun.
2018 geschahen die rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz, die ich aus der Ferne verfolgte. Da reifte der Wunsch in mir, auch mal Aktivist zu werden. Mich für die anderen, knapp 1.000 elternlosen Kinder in griechischen Lagern einzusetzen. Ich stellte mir das einfach vor: einfach losmarschieren. Paris – Berlin, mit Rucksack und einem Plakat, auf dem steht: „Eine Million Schritte für Flüchtlinge“. Ich zeichnete also auf dem Computer den direkten Weg bei Google Maps ein, er ging über kleine Dörfer und Städte: Brüssel, Aachen, Köln, H
#246;ln, Hannover, Wolfsburg, Magdeburg, Berlin. Manchmal konnte ich diese direkte Route nicht einhalten, machte Umwege, es waren am Ende weit mehr als 1.000 Kilometer.Mir kam die Idee, ein Begleitfahrzeug mitzunehmen, auf dem Menschen unterschreiben konnten. Ich fand Gebrauchtwagen für unter 1.000 Euro. Dann erinnerte sich mein Vater an seine Hippiezeit und seinen T2-VW-Bus. „So einen brauchst du“, sagte er. Ich musste einen Händler oder Privatverkäufer finden, der mir so ein teures Auto leihen würde – ich wollte es ja auch bemalen lassen –, und erhielt eine Nachricht vom „Old Bulli Berlin“-Händler, der von meiner Aktion überzeugt schien.Im Oktober 2018 fuhr ich mit dem 40 Jahre alten VW-Bulli von Berlin nach Paris. Das französische Künstlerteam THEO hatte sich bereit erklärt, ihn zu bemalen. Der Bulli hatte keine Heizung, dafür haufenweise Löcher. Der eiskalte Wind wehte ins Innere. Um fünf Uhr morgens fiel der Motor aus. Ich kam zehn Stunden später in Paris an. Meine Partnerin und ein befreundeter Filmemacher kamen, um den Bulli in den ersten paar Tagen der Reise zu fahren. Mehr als 300 Menschen kündigten über Facebook an, beim Abmarsch vor dem Arc de Triomphe dabei zu sein. Als wir morgens ankamen, standen wir allein da. Mit einem Dutzend Leute marschierten wir schließlich los, dem Bulli hinterher. Meine Partnerin schrie aus dem offenen Fenster: „Geht schneller, der Wagen schmiert sonst ab!“ Irgendwann mussten wir joggen, um das Tempo zu halten. Ich wollte am ersten Tag 54 Kilometer schaffen, musste aber nach 12 Kilometern aufgeben.Meine Beine machten schlapp, der Samstagsverkehr machte uns zu schaffen. Ich lief dann zwischen 18 und 35 Kilometer pro Tag. Wie konnte ich je auf die Idee kommen, es ginge mehr?Knall im WaldWir hatten zuvor eine Online-Petition veröffentlicht, die die EU-Regierungen auffordert, den 1.000 elternlosen Kindern in griechischen Flüchtlingslagern ein Zuhause zu geben. Wir hatten sie ausgedruckt und auf den Bulli geklebt, Passanten sollten mit einem Edding unterschreiben. Abends hatten wir bereits Hunderte Unterschriften.Die nächsten Tage waren kalt. Die Strecke führte über französische Autobahnen oder durch Wälder. Die anderen fuhren mit dem Bulli vor und ich wanderte allein. Am dritten Tag hörte ich in der Dämmerung einen Knall – Jäger waren in meiner Nähe. Ich rannte, so schnell ich konnte. Am vierten Tag flogen die anderen zurück, ich war allein auf den Landstraßen unterwegs. Ich dachte, man könnte leicht Freiwillige finden, die jeden Tag den Bulli steuern würden. Immerhin folgen mir 70.000 Leute in sozialen Netzwerken. In französischen Dörfern folgte mir niemand. Ich wollte den Bulli bewegen, ohne selbst fahren zu müssen, und hielt mich an die Busroute. Ich fuhr den Wagen immer eine Station weiter, nahm dann den Bus zurück und legte den Weg zu Fuß zurück. Die Busse fuhren meist nur ein- oder zweimal die Stunde. In Lille traf ich eine Journalistin. Ihr Englisch war wunderbar. Dann fragte sie mich: „Sprechen Sie Französisch?“ Als ich den Kopf schüttelte, war sie sofort verschwunden.Es war schwer, in Frankreich Orte zum Schlafen zu finden, oft übernachtete ich bei Fremden auf der Couch, manchmal auch im Bulli, bei –3 Grad. Der schluckte mehr Benzin, als ich kalkuliert hatte, und die Reise geriet finanziell aus den Rudern. Ich nutzte alle meine Ersparnisse, bekam die eine oder andere Geldspende. Die Leute in den französischen Dörfern waren neugierig und freundlich, aber die meisten hatten Angst, auf dem Bulli zu unterschreiben. Sie wollten nicht, dass ihre Nachbarn denken, sie würden sich für Flüchtlinge engagieren.In Belgien durchtrennten Unbekannte die Bremsschläuche, dadurch habe ich jemanden kennengelernt, der mir den Bus kostenlos repariert hat. Als ich in Brüssel ankam, traf ich eine Freundin, die früher für Martin Schulz im Europaparlament gearbeitet hat. Ich parkte den Bulli direkt vor dem Parlament, ich konnte ihn bislang immer da abstellen, wo er eigentlich auf gar keinen Fall stehen darf. Ich drehte einfach hinten die Batterie ab, gar nichts ging dann mehr. Wenn die Polizei kam, behauptete ich, der Motor würde nicht mehr anspringen. Vor dem Europaparlament wurde ich von einer Polizistin angehalten, ich solle aussteigen. Dann fiel sie mir um den Hals und dankte mir in gebrochenem Englisch für diese Aktion.Nächste Station Leuven. Da kam ich mit einem Airbnb-Gastgeber ins Gespräch, der mir sagte, er sei mal Bürgermeister der belgischen Stadt gewesen. Er führte ein kurzes Telefonat auf Flämisch, wenig später kam seine Nachbarin, eine der einflussreichsten Journalistinnen der Region, zu uns. Wir machten ein paar Fotos vor dem Bulli, und nachmittags war ihr Artikel fertig. Bis dahin hatte ich keine freiwilligen Helfer gefunden, die den Bus fahren wollten. Nun meldete sich jeden Tag jemand.Nachts bei Helge SchneiderMeine Reise dauerte 34 Tage, sie führte durch 28 Städte. Ich organisierte für jeden Tag ein Treffen morgens um halb elf. Manchmal stand ich vor dem Rathaus einer Stadt und hoffte, Menschen zu treffen, die sich auf dem Bulli verewigen würden. In Brüssel stellte ich ihn vor das Manneken Pis, das berühmte Wahrzeichen, und konnte dort 50 Unterschriften am Tag sammeln.In Aachen empfing mich Bürgermeisterin Hilde Scheidt von den Grünen. Sie erzählte von dem Städtebrief an die Kanzlerin, den Aachen, Bonn, Köln und Düsseldorf verfasst hatten und in dem sie sich bereit erklärten, weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Es gebe in jeder Stadt etwa 500 Plätze dafür. Der Brief wurde nie beantwortet. Ich traf auch eine Zahnärztin, die mehrmals das Flüchtlingslager Camp Moria auf Lesbos besucht hat. Sie nahm mich am nächsten Tag mit nach Düren, einer kleinen Stadt zwischen Aachen und Bonn. Da trafen wir Flüchtlinge, die 2015 nach Deutschland gekommen sind. Sie redeten von Angehörigen, die auf der Flucht gestorben sind, von ihrer Zeit im Aufnahmelager. Es liegt auf dem Gelände eines ehemaligen Munitionsdepots, knapp zehn Kilometer von Düren entfernt, in einem abgelegenen Waldgebiet. Als wir uns den Toren näherten, stürmten Sicherheitsleute auf uns zu. Sie pöbelten uns an. Das Lager wirkte trist und verlassen. Als wir von außen fotografieren wollten, drohte man uns mit der Polizei.In den kommenden Tagen traf ich die Bürgermeister/-innen von Bonn, Köln oder Düsseldorf, die mir fest zusagten, Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Im Ruhrgebiet ignorierten mich die meisten oder schickten – wie in Duisburg – jemanden aus der Stadtverwaltung vor. Eine Musikerin fuhr den Bulli weiter nach Essen, rollte mit sechs Stundenkilometern durch die Gegend. Ich marschierte nebenher über den matschigen Weg der Landstraße. „Wusstest du, dass Helge Schneider hier in der Nähe wohnt?“, rief sie in Mülheim zu nächtlicher Stunde. Wir suchten auf Google nach seinem Haus, eine Nachbarin erklärte uns, er sei umgezogen, und beschrieb, wo der Musiker und Comedian heute lebt. Wir suchten alle Klingelschilder ab, fanden den Namen. Wir klingelten, dann stand Helge Schneider in Bademantel und Puschen vor uns. Er warf sich eine Jacke über und hat auf dem Bulli unterschrieben. In Hannover schmierten Unbekannte Hakenkreuze auf den Bulli, den wir in einem Parkhaus am Bahnhof abgestellt hatten.Mitte Dezember kam ich in Berlin an, 70 Leute begleiteten mich. Ich bekam Zusagen von 17 deutschen Städten, Kinder aufzunehmen. Robert Habeck, Gregor Gysi und Staatsminister Michael Roth unterstützen die Aktion. Auf dem Bulli haben mittlerweile mehr als 4.500 Menschen unterschrieben. Ich möchte ihn mithilfe von Crowdfunding dem Händler abkaufen und dann in verschiedenen Städten ausstellen.Placeholder authorbio-1
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