So geht Kapitalismus

Bühne Das Theaterkollektiv copy & waste schickt seine Zuhörer mit einem Audiowalk durch Berlin-Kreuzberg auf die Spuren der Gentrifizierung
Objekt der Begierde: Das Kottbusser Tor
Objekt der Begierde: Das Kottbusser Tor

Silke Bauer

In einer unscheinbaren Bar unweit des Kottbusser Tors in Berlin-Kreuzberg, wo sich normalerweise bierselige Gäste tummeln, ist es an diesem Abend sehr still. Auf einer kleinen Bühne ist ein hölzernes Rednerpult aufgebaut, davor ordentliche Stuhlreihen und die Gäste tragen Kopfhörer. Hier findet an diesem Abend der Audiowalk Nasty piece statt, die neue Produktion des Berliner Theaterkollektivs copy & waste. Thema des Abends ist die Privatisierung des öffentlichen Raumes und die Frage, ob wir eine Gesellschaft wollen, in der die Rendite mehr zählt als der Mensch.

Drei junge Männer betreten die Bühne. Das Zuschauer erfahren: sie nehmen an einer Immobilien-Versteigerung teil. Objekt der Begierde ist das Kottbusser Tor. Und die drei Performer, die Auktionatoren spielen, entwerfen eine fröhliche Utopie der Privatisierung. Sie erzählen von einer Welt, in welcher der öffentliche Raum zum privaten Wohnzimmer der Investoren wird. Eine Welt, in der Hässlichkeit zum Standortfaktor wird aber dann Crémant statt Billig-Bier fließt. Eine Welt, die sie als schöne Zukunft beschreiben, die aber tatsächlich in vielen Teilen Berlins schon Gegenwart ist.

Die Auktion beginnt. Plötzlich flüstert mir eine Stimme über meinen Kopfhörer ins rechtes Ohr: "Ich bin der Investor und Sie sind hier, um für mich zu bieten." Ich schaue zu meinem Sitznachbarn. Hat er das auch gehört? Anscheinend, denn plötzlich reißt er seinen Arm hoch und ruft absurde Summen durch den Raum. Andere tun es ihm gleich und lassen sich auf die Investorenrolle ein. In wenigen Minuten ist aus einem unbeteiligten Publikum eine raffgierige Meute geworden. Auch ich biete fleißig mit. "So geht Kapitalismus", sagt der Investor lachend über den Kopfhörer.

Nach der Auktion geht es für alle Teilnehmer nach draußen zu einer kleinem Holzhütte am Kottbusser Tor. Sie wird von der Anwohner-Initiative Kotti&Co als Protestzentrum genutzt. Seit Monaten wehren sich hier die Anwohner gegen steigende Mieten und Verdrängung. Ein neue Stimme meldet sich, sie klingt nicht mehr so freundlich und klärt mich über die beiden Immobilienkonzerne GSW und Gagfah auf, mitverantwortlich für die Gentrifizierung im Kiez.

Über meinen Kopfhörer erhalte ich einen neuen Befehl: Ich soll mich von der Gruppe trennen. Ich gehe hinab in den U-Bahnhof am Kottbusser Tor. Fremdgesteuert wandele ich an vorbeieilenden Passanten vorbei. Wir befänden uns nun im Jahr 1989, erzählt die Stimme, gerade sei die Mauer gefallen. "Der 9. Oktober geht in die Geschichte ein" grölt ein angetrunkener Mann in mein Ohr. Ich höre Originaltöne aus der Zeit, lachende Stimmen im Hintergrund und eine junge Frau, die sich über die neue Freiheit freut, selbst über ihr Leben entscheiden zu können. Dass diese Freiheit sie in der Zukunft an den Stadtrand verdrängen könnte, weiss sie noch nicht.

Die Erzählstimme meldet sich zurück. Sie klingt nicht so euphorisch wie die Menschen nach dem Mauerfall sondern spricht kritisch über die Zeit, in welcher der Kapitalismus in die DDR kam. Wer die Verlierer des Mauerfalls seien und wer die Gewinner? fragt sie. Die Antwort folgt schnell: Die Verlierer seien die überwiegend türkischen Bewohner des Kottbusser Tors. Die Gewinner "Investoren wie Sie und Ich". Die Stimme lässt mich mit Investoren-Blick auf das Kottbusser Tor schauen. Es blinkt und glitzert. Zwischen Junkies und türkischen Großfamilien huschen junge Menschen mit Rollkoffern durch die Straßen, erfolgreiche Jetsetter und Touristen.

Ich treffe auf drei andere Teilnehmer des Rundgangs. Wir seien jetzt eine Gruppe, erklärt mir die Stimme. Wir sollen auf uns achten. Gemeinsam schickt uns die Stimme in eine "blutige Schlacht." Es gehe um Geld, Wohnraum und Liebe. Der Kampf um den Wohnraum, will uns der Audiowalk wohl vermitteln, ist kein Spaß – er ist existenziell.

Weiter geht es zum Zentrum Kreuzberg, "dem Lindwurm der Investoren", wie die Stimme das riesige Wohnsilo nennt, das sich rund um das Kottbusser Tor ausstreckt. Ein grauer Kasten, über und über bestückt mit Satellitenschüsseln. Über Galerien und Treppen führt uns die Stimme durch das Labyrinth des Zentrum Kreuzbergs und taucht tief ein in die Geschichte des Hauses und seinen Bezirk. Die Stimme erzählt von den Häuserkämpfen der 1980er Jahre, in denen es um Freiheit gegen Kapital ging, von türkischen Jugendbanden, die in den 1990er Jahren gegen die Gesellschaft und ihre Eltern rebellierten und vom Zuzug des Geldes in den letzten zehn Jahren.

Nach dieser Rückblende geht es zurück in die Gegenwart, in einen kleinen Veranstaltungsraum ganz in der Nähe. Mit Suppe und Erfrischungen erwarten uns dort wieder die drei Auktionatoren. Gemeinsam schwören sie uns auf den Kampf gegen das Kapital ein und fordern uns auf, uns den öffentlichen Raum zurückzuholen. Sie haben Namensschilder auf einigen Tischen aufgestellt, wir setzen uns in Gruppen zusammen und sprechen über die die Wohnsituation in Berlin, Mietpreise und die Vergangenheit, auch über unsere eigenen Sorgen. Nach und nach lösen sich die Gruppen auf und die Zuschauer gehen nach Hause.

Auf meinem Fahrrad radele ich durch die dunklen Straßen Kreuzbergs. Was wohl hinter den geschlossenen Gardinen geschieht? Wird auch dort um Wohnraum und um Geld gekämpft? Und wie viel trage ich vielleicht auch selbst dazu bei? Gentrifizierung ist nicht immer sichtbar. Am heutigen Abend ist es gelungen, die Vorhänge ein wenig zu öffnen.

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