Sprechen Sie Xeroxisch?

Technik Ohne Computer geht nichts mehr, aber kaum jemand versteht, wie die Maschinen wirklich ticken. Quelltextlesungen sollen helfen
Ausgabe 46/2014
Jahrgang 1973: der Xerox Alto, erster Rechner mit grafischer Benutzeroberfläche
Jahrgang 1973: der Xerox Alto, erster Rechner mit grafischer Benutzeroberfläche

Foto: Justin Sullivan/Getty Images

Mein Computer will mit mir sprechen, aber ich verstehe nicht, was er sagt. Nach diesem Montagabend voller Formeln, Klammern und Zeichen sickert mir die traurige Erkenntnis ins Gehirn: Ich bin zwar mittendrin, aber auch ganz weit weg vom Informationszeitalter.

Ich besuche eine Quelltextlesung bei Wikimedia, der Stiftung hinter dem Onlinelexikon Wikipedia. Ein unscheinbares Bürogebäude in Berlin-Kreuzberg, ein menschenleeres Labyrinth aus Fluren und Türen. Im ersten Stock: ein hell erleuchteter Saal. In einer Ecke ein Bierkasten, an der Stirnseite eine Ansammlung bunter Plastikstühle, davor ein schmales Podest mit Tisch. Dahinter vier junge Menschen, die an ihren Computern herumfummeln. An der Wand das Thema des Abends, auf den Putz projiziert: Xerox Alto und die Entstehung der grafischen Benutzeroberfläche.

Ich sinke auf einen der Plastikstühle, gleich mit dem ersten Fragezeichen im Kopf: Was ist Xerox Alto? Mein Sitznachbar, ein bärtiger junger Mann, klärt mich freundlich auf: Xerox Alto ist der erste Computer, dessen Benutzeroberfläche so funktionierte wie das Desktop-Prinzip, das wir heute kennen. Entwickelt wurde er in den 70er Jahren, in Kalifornien.

Ich kam mit Fragezeichen ...

Was ein Quelltext ist, davon immerhin habe ich grob eine Ahnung. Quelltexte sagen Computern, was sie machen sollen. Geschrieben werden sie in Programmiersprache. Die kann man lesen. Das macht aber kaum jemand. Auch deshalb fand im April dieses Jahres die erste Quelltextlesung statt. Der Programmierfehler „Heartbleed“ machte Schlagzeilen, denn wegen ihm gab es Sicherheitslücken bei verschlüsselten Verbindungen, die über das OpenSSL-System laufen, ein Open-Source-System, an dem im Grunde jeder mitprogrammieren kann. Via Twitter diskutierten die Veranstalter des heutigen Abends über die Ursachen von „Heartbleed“. Ihr Resümee damals: Alle nutzen als Netzbesucher Open Source, aber die wenigsten wissen, worum es da geht.

Der Code ist das Gesetz. Wer ihn kennt, hat die Macht. Schon Ende der 90er kam der US-Netzaktivist Lawrence Lessig zu dem Schluss, dass nur derjenige die Folgen der Digitalisierung überschauen könne, der den Code verstehe. Der Anspruch der Quelltextleser: eine Vermittlung der Grundlagen und damit die Offenlegung der Bedeutung des Codes für die digitale Welt.

Auf dem Podium werden faustgroße Mikrofone angeschaltet, es folgt eine kurze Begrüßung des Internetpublikums und des guten Dutzends analoger Zuhörer im Saal. Vorn sitzen und sprechen: Sebastian Sooth von Wikimedia, der Programmierer Lukas Hartmann, Fiona Krakenbürger, Mitgründerin des Webprojekts Into Black Boxes,und der Theoretiker Florian Hadler. Hartmann, mit Brille und blondiertem Irokesenschnitt, übernimmt als Erster das Wort. Er hat Verständnis für die Laien. Ich bin erleichtert. Los geht es mit dem Warum und Wieso des Desktops. An der Wand öffnet sich die Webseite des Computer History Museum. Zu sehen ist da der Xerox Alto. Halb Kühlschrank, halb Computer, in meinen Augen. Der Bildschirm hat DIN-A4-Format, die Maus ist so groß wie ein Holzscheit. Höhnisches Gelächter im Publikum: „Das ist ja mega 80er!“

Ich erfahre: Dieser Computer ist der direkte Vorläufer des Macintosh. Beeindruckt von der grafischen Benutzeroberfläche, besuchte Apple-Gründer Steve Jobs Ende der 70er Jahre das Entwicklerteam. Fünf Jahre später brachte Apple den ersten Macintosh auf den Markt und machte das Desktop-Prinzip, das später dann auch von anderen kopiert wurde, massentauglich.

Es folgt ein kleiner Exkurs in die Tiefen des – scheinbar – unnützen Wissens. Von entflammbaren Kopierern der Marke Xerox springen Programmierer Hartmann und Kollegen über die US-amerikanische Comic-Kultur der 50er bis zum Erfinder der ersten Computermaus, eines Holzklumpens mit Kabeln, Douglas Engelbart. Dann startet Hartmann ein Werbevideo aus dem Jahr 1982. Ein hemdsärmeliger junger Mann mit Schlips erklärt die Funktionen des Wundergeräts Xerox Alto. Mein Sitznachbar kichert in seinen Bart. Mir wird klar: In der digitalen Welt vergeht die Zeit schneller. Für die meisten hier sind die 80er Jahre digitaler Urschleim. So weit weg wie für andere vielleicht die Steinzeit. Ich hole mir ein Bier.

... und ging mit Fragezeichen

Als ich zurückkomme, ist eine Abfolge mir unverständlicher Kürzel an die Wand geschmissen. BitBlt, Xordot, Spline. Wir sind jetzt mitten in der Quelltextlesung. Oben links in der Bildschirmecke der „Kommentar“, bestehend aus Datum und Uhrzeit: „21. Februar 1978, 15 Uhr zwei“. Darunter das Kürzel für die Programmiersprache: bcpl. Es folgen Zahlen, Symbole, Abkürzungen. Schritt für Schritt erklärt Hartmann die Befehle. Aber ich verstehe nur die Hälfte. Zu fremd die Begriffe, zu abstrakt das System. Mein Nachbar lauscht andächtig, ich komme mir abgehängt vor, irgendwo im Übergang von analog zu digital verloren. Hartmann macht einen Witz. Alle lachen herzlich. Alle anderen.

So viel verstehe ich: Mein Computer spricht Assemblersprache. Eine Maschinensprache, ein digitales Esperanto, in dem die Quelltexte unterschiedlichster Programmierherkunft von einem „Compiler“ übersetzt werden. Die grafische Übersetzung dieser Sprachen sind wiederum die Fenster und Icons auf meinem Desktop – aha. Damit ist der Computer näher am Denken des Nutzers, ich kann ihn einfacher bedienen. Aber aus dem, was er mir eigentlich sagen will, in seinen eigenen Worten, werde ich immer noch nicht schlau.

Über die Benutzeroberfläche des iPad wird dann gemeinschaftlich sinniert, über die „grafische Metapher“ als philosophischer Topos; auch Martin Heidegger, der einmal sagte: „Wissenschaft ist die Theorie des Wirklichen“, wird zitiert. Erschöpft fahre ich mit dem Rad nach Hause. Ich logge mich bei Facebook ein, öffne den Quelltext (rechte Maustaste!), starre auf die erste der Kommandozeilen. Und verstehe nichts. Das muss sich ändern.

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