Ungewöhnliche Wohngemeinschaft

Alternative Immer mehr Privatleute nehmen Flüchtlinge bei sich zu Hause auf. Aber ist das wirklich eine gute Idee oder entlässt man den Staat damit aus seiner Verantwortung?
Ausgabe 45/2014
Die private Unterbringung von Flüchtlingen ist derzeit rechtlich schwierig
Die private Unterbringung von Flüchtlingen ist derzeit rechtlich schwierig

Foto: Future Image / Imago

Seit September sind sie zu sechst. Fünf junge Erwachsene teilen sich ihre vier Zimmer in Berlin-Lichtenberg mit einem Flüchtling aus Ghana. Bisher läuft es gut, erzählt Stefanie Kühn, die eigentlich anders heißt. Auf die Idee, einen Flüchtling in der WG aufzunehmen, seien sie gekommen, nachdem das Protestcamp auf dem Kreuzberger Oranienplatz geräumt wurde, erzählt die 24-Jährige. „Für die Flüchtlinge hieß das: Notunterkunft oder Straße. Wir wollten eine Alternative sein.“

Erzählt man dem CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Patzelt von dieser ungewöhnlichen Wohngemeinschaft, ist er begeistert. Dort leben die Leute seine Idee: Flüchtlinge und Deutsche unter einem Dach. Seit Mitte August setzt sich der Abgeordnete aus dem Wahlkreis Frankfurt/Oder dafür ein, dass Asylsuchende in Zukunft nicht nur in Heimen und Wohnungen, sondern auch bei Privatpersonen unterkommen können. Sein Vorschlag: eine WG auf Zeit, im beidseitigen Einverständnis. Er nennt das eine „Tandem-Lösung“. Die Kommunen kommen für die Lebenskosten und die Krankenversicherung auf. Die Gastgeber für Miete und Unterhalt. Davon hätten alle was, glaubt Patzelt. Der Staat wäre entlastet, die Flüchtlinge hätten eine Bleibe und die Gastgeber einen wichtigen Beitrag zur Integration geleistet.

Für dieses Jahr erwartet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge rund 200.000 Asylanträge – das wären 60 Prozent mehr als im vorigen Jahr. Verantwortlich für die Unterbringung der Flüchtlinge sind die Kommunen. Doch die stoßen angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen an ihre Grenzen. Wie sehr, das zeigten jüngst die chaotischen Zustände in den Erstaufnahmeeinrichtungen in München. Hunderte Flüchtlinge mussten dort im Freien übernachten. Es fehlte an Betten, Personal und sanitären Anlagen.

Im Gesetz nicht vorgesehen

Angesichts dieser Zustände stößt Patzelts Idee auf Zuspruch. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann von den Grünen fordert ebenfalls, Flüchtlingen eine private Unterbringung zu ermöglichen. Und auch die Vorsitzende des Entwicklungsausschusses im Bundestag, die CSU-Politikerin Dagmar Wöhrl, spricht sich für Patzelts Vorstoß aus.

Doch rechtlich ist die Situation kompliziert: Beantragt eine Person in Deutschland Asyl, kommt sie zunächst in ein Erstaufnahmelager. Danach wird je nach Einzelfall entschieden: Zur Wahl stehen Asylbewerberheim oder eine Wohnung, die sich die Flüchtlinge oft teilen. Eine private Unterbringung, wie Patzelt sie sich vorstellt, ist rechtlich nicht vorgesehen. „Das muss sich ändern“, fordert der Abgeordnete. Sein Ziel: Die Verwaltungsvorschriften, die die Unterbringung regeln, sollen geändert werden. Doch das könnte schwierig werden.

Vor wenigen Wochen lud Kanzleramtschef Peter Altmaier von der CDU zum „Flüchtlingsgipfel“. Drei Stunden debattierte Altmaier mit Vertretern der Bundesländer über Kostenverteilung, Personalaufstockung und Asylverfahren. Am Ende trennte sich die Runde ohne konkrete Ergebnisse.

Für Martin Patzelt ist das ein Rückschlag. An seiner Idee will er trotzdem festhalten. Doch gerade aus den eigenen Reihen weht ihm ein kalter Wind entgegen. Der Vorwurf: Mit seinen sozialen Positionen vergraule er die Stammwähler der Union.

Und auch Flüchtlingsverbände sehen Patzelts Vorschlag kritisch: „Wenn Menschen sich ehrenamtlich engagieren, finden wir das richtig“, sagt Karl Kopp von Pro Asyl. „Aber das darf nicht dazu führen, dass der Staat sich aus der Verantwortung zieht.“ Seine Befürchtung: Bürger übernehmen die Aufgaben der Regierung, der Flüchtlingsschutz wird privatisiert. Wo ist die Grenze zu ziehen?

„Natürlich kann es problematisch sein, wenn wir Alternativen schaffen und so das Versagen der Regierung auffangen“, sagt auch Stefanie Kühn. Trotzdem sei das Nichtstun keine Option, findet die Studentin. „Die Flüchtlinge brauchen unsere Unterstützung.“ Noch bis Anfang Dezember wird die Berliner WG ihr Leben mit dem Gast aus Ghana teilen. Danach wollen die sechs Leute gemeinsam überlegen, ob und wie es weitergehen kann.

Am 11. Dezember treffen sich Bund und Länder, um erneut über die Flüchtlingsfrage zu beraten. Angesichts der mäßigen Erfolge aus früheren Verhandlungen liegen vernünftige Lösungen in weiter Ferne. Flüchtlingsaktivisten und Privatpersonen sind also weiterhin auf sich allein gestellt.

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