Die Leiche eines bei Zusammenstößen zwischen der Polizei und PKK-Anhängern tödlich getroffenen Kurden wird in Şırnak mit einer Schlinge um den Hals von einem Mannschaftswagen über die Straße geschleift. Johlende Polizisten filmen das Grauen und stellen ihr Video ins Netz. In Muğla, im Westen der Türkei, wird ein Mann wegen seiner ethnischen Herkunft verdächtigt, Terrorist zu sein. Der versammelte Mob nötigt ihn, sich nackt auszuziehen und eine Atatürk-Büste zu küssen. Einen Lynchversuch überlebt der Mann. In Istanbul wird der enthauptete Körper eines homosexuellen Syrers gefunden. Dessen Freunde bezeugen, das Opfer sei schon einmal von einer Horde junger Männer entführt, vergewaltigt und verprügelt worden. Der Syrer habe nach einem anderen Land gesucht, in dem er hätte Zuflucht finden können.
Zu solchen und anderen Exzessen kam es in den vergangenen Tagen und Wochen immer wieder. Bei dem, was in Şırnak passiert sei – so erklärten die Behörden –, habe es sich um eine weltweit übliche Routinemaßnahme gehandelt. Auf diese Weise werde überprüft, ob am Körper eines Getöteten Sprengstoff befestigt sei. Beim Exzess am Atatürk-Denkmal in Muğla hatte die Demütigung ein juristisches Nachspiel – das Opfer wurde zu fünf Monaten Haft verurteilt. Im Fall des Flüchtlings aus Syrien war bekannt, dass er fortwährend Homophobie und Hohn der Polizei ausgesetzt war und sich keine Instanz fand, ihn zu schützen.
Derartige Übergriffe lösen derzeit kaum öffentliche Empörung aus. Die an Gleichgültigkeit grenzende Passivität der Bevölkerung gegenüber der Missachtung von Menschenrechten und dem Treiben eines gewalttätigen Mobs scheinen einander gegenseitig zu nähren. Dabei sind Angst und Lähmung angesichts staatlicher Willkür weder von der Hand zu weisen, noch dürfen sie kleingeredet werden. In der Geschichte des Landes gibt es so viele Beispiele für behördliche Repression, dass Vorsicht und Zurückhaltung nachvollziehbar wären, gäbe es nicht dieses ungerührte Zuschauen. Ein Protest, der über das Engagement von Menschenrechtsgruppen, Frauenverbänden und eines kleinen Teils der Bevölkerung, der jeglichen Nationalismus und Rassismus ablehnt, hinausgeht, ist nicht vorhanden. Irrelevant sind die Einwände von Kemalisten, die sich nur an das Kopftuch und die davon mutmaßlich ausgehende „Bedrohung des Laizismus“ halten. „Den Putschversuch haben wir überstanden. Was aber ist mit der Lynchkultur?“, überschrieb kürzlich eine mutige Journalistin ihren Artikel.
Ratlos und aggressiv
Die Frage stellt sich nicht erst seit dem gescheiterten Staatsstreich vom 15. Juli. Der Lynchmob hat zuvor schon Angst und Schrecken verbreitet. Neu ist, dass die „Alle auf die Straße“-Rufe von Präsident Recep Tayyip Erdoğan stets von Neuem Absolution erteilen sollen, so auch jetzt beim Angriff der Armee auf die kurdische Autonomie in Nordsyrien. Des Präsidenten jüngste Auftritte vor Hunderttausenden von Anhängern haben die Bilder staatsnaher Medien abgelöst, auf denen Offiziere und Soldaten zu sehen waren, die als Putschisten vorgeführt wurden – blutüberströmt, offenbar schlimmen Torturen ausgesetzt. Es gab Szenen aus Gemeinschaftszellen, in denen Gefangene bis auf die Unterhosen nackt und mit gefesselten Händen auf dem Boden saßen. Zwangsläufig wurden Praktiken assoziiert, wie sie zum Alltag im berüchtigten irakischen Abu-Ghraib-Gefängnis gehörten. Je länger dieser Bilderreigen anhielt, desto mehr litt freilich das Image einer Armee, die gerade in Nordsyrien interveniert. Also ist er versiegt.
Franco „Bifo“ Berardi, Philosoph und Autor des Buches Helden. Über Massenmord und Suizid, hat den Anspruch erhoben, das Böse verstehen zu wollen. Mit Blick auf die Attentate und Amokläufe des letzten Jahrzehnts schrieb er : „In unserer Welt regiert der Neoliberalismus, jeder steht mit jedem in Konkurrenz. Viel entscheidender aber sind Frustration, Depression, Verzweiflung – erst dann kommt, wenn überhaupt, die Religion ins Spiel.“ Dass in der Türkei rohe Gewalt und Unrecht von einer großen Mehrheit gleichgültig hingenommen werden, hat sicherlich auch mit einigen Folgen der neoliberalen Reformen in den 80er Jahren zu tun. Doch gibt es spezifische Faktoren: autoritäres Gehabe als Zeichen persönlicher Identität, das Beharren auf einer nunmehr 90 Jahre alten kemalistischen Ideologie, die bei globalen Fragen ratlos wirkt und einem aggressiven Nationalismus Vorschub leistet, die Gehirnwäsche durch den Islamismus und eine latent vorhandene Lynchkultur, wie sie in der Geschichte des Landes häufig zum Vorschein kam. So wurden Empathie, Mitgefühl und Solidarität als urmenschliche Eigenschaften verschüttet. Es bedarf keiner tiefschürfenden soziologischen Theorien, um zu klären, warum. Die Frage ist, wie lange eine besorgte und bedrängte Minderheit samt ihren Organisationen dem noch standhält. Wie lange sie die Last tragen kann, die ihr das Ausbleiben des großen Aufschreis aufbürdet.
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