Das Los der Kofferkinder

Identität Wer über die Geschichte der türkischen Migranten reden will, muss das Schicksal der zweiten Generation der heute 35- bis 50-Jährigen kennen

Auf den zahlreichen Veranstaltungen, die zum 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei dieser Tage anberaumt worden sind, blieb der Überraschungseffekt weitgehend aus: Gelangweilt und ratlos gähnten die Zuhörer, als Bürgermeister sich bei den „Gastarbeitern“ bedankten, die ihre Stadt mit aufgebaut haben. Ebenso die Unternehmer, die die Leistung von türkischen Arbeitern in großen Werken priesen, ohne die sie keine Produktionssteigerung hätten erzielen können. Und das Thema Integration – bei dem mittlerweile niemand mehr so richtig weiß, was er sich darunter vorstellen soll – wurde noch einmal ausgiebig ausdiskutiert.

In dieser offiziellen Lesart scheint die Migrationsbewegung zu erstarren – an den Stellwänden von Ausstellungsräumen, in den Fotos der ersten Generation. In Wirklichkeit mischten erst die Nachfolgegenerationen die Gesellschaft in allen Sparten auf, doch wurde ihren Migrationserfahrungen kaum Beachtung geschenkt, obwohl die Biografien der heute 35- bis 50-Jährigen, der „zweiten Generation“, die ganze Dynamik des Migrationsprozesses abbilden. Für einen beträchtlichen Teil dieser Altersgruppe erweisen sich etwa Erlebnisse als prägend, die mit dem Begriff „Kofferkind“ verbunden sind. So nannte man Kinder, die in den sechziger und siebziger Jahren von ihren in Deutschland arbeitenden Eltern über längere Zeit in der Türkei zurückgelassen wurden.

Neben der restriktiven Haltung des deutschen Staates, der den familiären Zusammenhalt nicht förderte, spielte für das Los der Kofferkinder die Lebensplanung der Eltern eine nicht zu unterschätzende Rolle: Die „Gastarbeiter“ wollten für höchstens drei Jahre nach Deutschland kommen, um genügend Geld zu sparen und zurück in die Heimat zu gehen. Aus drei Jahren wurden jedoch zehn und aus zehn 15 Jahre. Die Mehrheit der Migranten aus der Türkei begann, hier ansässig zu werden. Zwischen 1975 und 1985 wurden dann die Kinder von ihren Eltern nachgeholt. Für einige der Kofferkinder zog sich der elternlose Schwebezustand also über Jahre hin, bis zum endgültigen Zusammenzug wurden sie zwischen Deutschland und der Türkei hin- und hergeschickt.

Obwohl man von einer hohen Zahl (700.000) nunmehr erwachsener Betroffener ausgehen kann, interessierte sich bislang kaum jemand für deren Geschichte. Diese Gleichgültigkeit ist Ursache und Folge einer Tabuisierung des Themas, welche nicht nur dem gesellschaftlichen Diskurs entspringt. Sie geht vielmehr von den Kofferkindern selbst und deren Eltern aus.

Die Betroffenen berichten von Trennung, Einsamkeit, Entfremdungsgefühlen oder sich wiederholenden Anpassungsschwierigkeiten, unter denen sie als Kinder gelitten haben und über die sie kaum sprechen können. Den größten Konflikt scheinen sie jedoch mit ihren Eltern auszutragen. Er hat seinen Ursprung im Verlust des Urvertrauens: Die Kofferkinder wurden von Mutter und Vater verlassen. Wiederholt erschüttert wurde das Vertrauen in die Eltern, wenn diese in ihrem Urlaub in die Türkei fuhren und nach vier Wochen, in denen sich das Kind nach anfänglichem Fremdeln kaum an seine Eltern gewöhnt hatte, wieder verschwanden.

3+1-Situationen

Die eigentliche Traumatisierung löste allerdings die schlussendliche Trennung von der Bezugsperson – in den meisten Fällen die Oma – aus, als die Kofferkinder nach Deutschland geholt wurden. Der Abschied von der Person, die ihnen Liebe, Aufmerksamkeit und Geborgenheit geschenkt hatte, fiel deutlich schwerer als jener von den Eltern, an den sie ohnehin kaum eine Erinnerung hatten. Die gefühlsmäßig nicht erfüllten Erwartungen an die Eltern nach der Zusammenführung trugen dann zu einer weiteren Entfremdung bei, die bei den meisten Betroffenen, insbesondere den Eltern, bis heute anhält.

Der Vorwurf der Undankbarkeit seitens der Eltern, man habe unter schweren Bedingungen gearbeitet, um die Zukunft der Kinder zu sichern, schreckt die Betroffenen dabei eher ab, wenn sie versuchen, ihren als Kind erlittenen Schmerz zu thematisieren. Sie sind oftmals nicht in der Lage, die für sie in der Türkei erarbeiteten Grundstücke, Häuser und Läden wertzuschätzen – vor dem Hintergrund der emotionalen und physischen Entbehrungen, die sie als Kind erleiden mussten, gelten ihnen diese Schätze nicht als Kompensation.

Die Kofferkinder empfanden Neid und Wut, wenn Geschwister in das „Märchenland“ mitgenommen wurden und nicht sie selbst. Das setzte häufig einen Denkprozess in Gang, der in einem Gefühl des Sich-selbst-Entwertens mündete: „Ich bin nichts wert, ich werde nicht geliebt.“ Die Eltern nahmen zumeist die Säuglinge und kleineren Kinder mit nach Deutschland, während die „Älteren“, das heißt, die bis zu Fünfjährigen, bei den Verwandten untergebracht wurden. Die Nachsicht, die sie als „ältere Schwester“ oder als „älterer Bruder“ walten lassen mussten, überforderte die Kofferkinder. Noch härter traf sie die Situation, die sie später in Deutschland vorfanden: Eine eingespielte Familie, die aus den „fremden“ Eltern und dem noch fremderen Geschwisterteil bestand, das sie womöglich zum ersten Mal zu Gesicht bekamen. Betroffene bezeichnen diese Fremdkörperposition, in der sie sich damals befanden, als „3+1-Situation“.

Der Koffer ist das Sinnbild in diesen Lebensgeschichten. Zum einen als Zeichen des wortlosen Weggehens der Eltern, weil die Kinder das Verlassenwerden zwangsläufig mit gepackten Koffern assoziierten. Zum anderen steht der Koffer für die Rastlosigkeit, die die Kinder aufgrund der Pendelei zwischen zwei Ländern selbst verspürten. Die häufigen, zumeist überstürzten Ortswechsel machten es ihnen nicht möglich, ihre „Schätze“ mitzunehmen – sei es einen Teddybären oder das Foto einer neu gewonnenen Freundin. In ihrem Leben als Erwachsene führte diese Prägung wiederum zu einer seelischen Verfasstheit, die die Betroffenen selbst oft als „Illoyalität“ bezeichnen – nicht nur gegenüber Menschen, sondern auch in Bezug auf Wohnungen, Arbeitsplätze, ja sogar auf Gegenstände. Außer der Verlustangst, die aus den schmerzhaften Trennungserfahrungen rührt, zählt das Gefühl der Illoyalität zu den wirkmächtigsten Folgen für die Verhältnisse von Betroffenen mit ihren Partnern und eigenen Kindern.

Die Kofferkinder fühlen sich nicht als Opfer, wenngleich sie als Kinder zu „Opfern“ wurden. Angehörige der zweiten Generation sind heute ein sichtbarer Teil der deutschen Politik- und Medienlandschaft, sie sind wichtige Akteure in der Gestaltung der Einwanderungspolitik. Das zeigt auch, dass sie lebensfähig, stark und selbstbewusst geworden sind, weil sie durch das Versagen einer Bildungspolitik und der Unwissenheit ihrer Eltern in Kindheit und Jugend ziemlich viel selbst in die Hand nehmen mussten. Außerdem sind sie nachfolgenden Generationen gegenüber noch in einem weiteren Punkt im Vorteil: Einem Großteil der Kofferkinder ist es gelungen, gewisse Fähigkeiten und die Werte, die sie aus der Türkei mitbrachten, mit jenen „deutschen“, mit denen sie sich später identifizierten, in Verbindung zu bringen.

Vorschlag zur Entspannung

Während die Überlebensmechanismen die Kofferkinder einerseits erfolgreich machten, beeinträchtigten sie andererseits oft ihre Beziehungsfähigkeit und standen der Erfüllung des Bedürfnisses nach Liebe und Zuwendung im Weg. Oft hin- und hergeschickt, waren sie zudem nicht nur immer aufs Neue mit Anpassungsschwierigkeiten konfrontiert – in dem jeweiligen Land und in der Familie –, sondern mussten einen langen Weg auf der Suche nach ihrer Identität zurücklegen. Wobei Angehörige genau dieser Generation hinsichtlich der Identität eine zusätzliche Verwirrung durchlebten: Viele entdeckten fast zeitgleich ihre ethnische Herkunft in der Türkei – etwa die armenische oder kurdische. Andere entschieden im selben Moment, mit diesen Wurzeln offener und bewusster umzugehen.

Psychologen unterstreichen die Notwendigkeit einer Aussprache zwischen den ehemals zurückgelassenen Kindern und ihren Eltern. Zu einer Versöhnung könne es vermutlich dann kommen, wenn die Eltern sich bei ihren Kindern entschuldigen: „Es tut uns leid, wie es gelaufen ist. Wir konnten deine Bedürfnisse, deinen Schmerz nicht sehen, denn wir waren unerfahren.“ Ein solcher Dialog käme möglicherweise nicht nur der innerfamiliären Harmonie zugute: Je mehr das versteckte Leiden einer Generation zutage gefördert würde, je transparenter dieser entscheidende Abschnitt der 50-jährigen Migrationsgeschichte gemacht wird, umso mehr wird sich der Diskurs um das Thema Migration entspannen.

Gülcin Wilhelm war viele Jahre Mitarbeiterin des Freitag und ist Autorin des Buchs Generation Koffer: Die zurückgelassenen Kinder, Orlanda Verlag 2011, 176 S., 17,90

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