Die Analphabeten sind unter uns

Hysterie und Geiz-ist-geil-Mentalität Vom DGB geladene Wissenschaftler kritisieren die deutsche Wirtschaftspolitik

Nicht in einem Niedriglohnsektor, sondern in einer vernünftigen Aus- und Weiterbildung von der Schule über die Lehre bis zur Universität sieht Dennis Snower, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, den Schlüssel für mehr Beschäftigung. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger ist der Ansicht, im kommenden Jahr müssen die Löhne und Gehälter um real drei Prozent steigern: "Das Land lebt nicht über, sondern unter seinen Verhältnissen". Folgen die wirtschafts- und tarifpolitischen Akteure dem Leiter des Münchner Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, und senken die Löhne noch mehr ab, bedeutet das "nicht weniger, sondern mehr Arbeitslosigkeit", mahnt der US-amerikanische Ökonom James K. Galbraith. "Das Experiment Lohnzurückhaltung ist nicht geglückt", meint auch der Konjunkturforscher Gustav Horn, der nicht zuletzt wegen solcher Äußerungen das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) zum Jahresende verlassen muss.

Vier Stimmen, die sich vom Standortjammer wohltuend abheben. Aufgeschnappt beim Kongress "Wege zu nachhaltigem Wachstum, Beschäftigung und Stabilität", den der Deutsche Gewerkschaftsbund in der vergangenen Woche in Berlin veranstaltete. Der DGB wollte mit dieser Veranstaltung die "makroökonomische Debatte" beleben und hatte internationale Gäste geladen, Volkswirte vor allem, also Vertreter jener Disziplin, die nicht auf einzelne Haushalte und Unternehmen schaut, sondern die Kreisläufe des Systems im Blick hat. Den versammelten Sachverstand aus Deutschland, den USA, England und Österreich einte, bei allen Unterschieden im Detail, vor allem die Diagnose: Die Bundesregierung setzt auf das falsche Pferd, wenn sie mit Strukturreformen in der Gesundheits- und Sozialpolitik, mit Steuersenkungsprogrammen und mit Lohnzurückhaltung mehr Menschen in Beschäftigung bringen will. Ähnlich wie zuvor schon die deutschen "Wirtschaftsweisen", bescheinigten die Gäste des DGB-Kongresses dem Land gute Standort- und Wettbewerbsnoten - für den Export. Die stagnierende Binnenkonjunktur bleibe dagegen die Achillesverse, und deshalb müsse die Bundesregierung ihren Kurs des "Kaputtsparens" aufgeben. In kaum einem anderen Land der Welt seien Schuldenhysterie und "Geiz-ist-geil-Mentalität" so groß wie hierzulande.

DGB-Chef Michael Sommer regte einen "makroökonomischen Dialog" mit Regierung, Arbeitgeberverbänden und Europäischer Zentralbank an. Ein solches Forum könne die Grundlagen für eine erfolgreiche Wachstumsstrategie erarbeiten. "Vernünftigerweise sollte eine starke, makroökonomisch gestützte Wachstumsdynamik höhere Löhne und höhere Gewinne erzielen", so Sommer. Mit den Unternehmern gebe es "objektive Gemeinsamkeiten", die gegenüber der Geld- und Haushaltspolitik vertreten werden müssten. Der bisherige Politikmix aus Steuersenkungen, Abbau von Arbeitnehmerrechten und größerer Ungleichheit habe "weder zu mehr Wachstum noch zu mehr Beschäftigung geführt".

Doch was Sommer vorschlägt, ist nichts anderes als die Neuauflage des gescheiterten "Bündnis für Arbeit" - die Inhalte bleiben, die Verpackung ist neu. Die Reaktionen aus Wirtschaft und Politik waren dann auch eher verhalten bis ablehnend. Um einen erfolgreichen Dialog zu führen, müssten sich die Gewerkschaften - frei nach Bertolt Brecht - eine andere Regierung und andere Unternehmer suchen. Und so bleibt das Dilemma: Den Gewerkschaften fehlen die Partner, allein sind zu schwach, um ihre volkswirtschaftlichen Forderungen durchzusetzen. Es wäre zu schön, wenn Schröder dem Wirtschaftsweisen Bofinger folgen und drei Prozent mehr Reallohn empfehlen würde. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich das Geschrei angesichts eines solchen Kanzlerwortes vorzustellen. Und die Gewerkschaften müssten, um am Ende bei drei Prozent zu landen, sechs bis sieben Prozent fordern. Selbst die eigenen Mitglieder würden nicht mitziehen, sind sie es doch längst gewohnt, Verzicht zu üben. So stellte Gustav Horn, der für den DGB ein neues "Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung" aufbauen soll, folgerichtig fest, dass die Lohnpolitik den Tarifparteien entglitten sei und darüber hinaus "zu den intellektuell vernachlässigten" Politikfeldern gehöre.

Die Folgen sind nicht zu übersehen und werden in drei neuen Veröffentlichungen beschrieben. Aus einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) geht hervor, dass 23 Prozent der hiesigen Haushalte mit weniger als 1.100 Euro netto im Monat auskommen müssen. Acht Prozent der Haushalte dagegen verfügen über mehr als 4.000 Euro netto im Monat. Das Statistische Bundesamt berichtete dieser Tage, dass die Arbeitnehmerentgelte in den ersten neun Monaten dieses Jahres um 0,6 Prozent gesunken, die Unternehmens- und Vermögenseinkommen dagegen um 10,3 Prozent gestiegen sind. Und das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut des DGB kommt zu dem Schluss, dass die neuen Daten einen langfristigen Trend auf die Spitze treiben: Gemessen am verfügbaren Volkseinkommen war die Nettolohnquote seit 1960 noch nie so niedrig wie heute. Damals betrug sie 55,8 Prozent, jetzt sind es noch 42,5 Prozent.

Dem stehen nicht nur wachsende Gewinne, sondern auch geringere Ertragssteuern gegenüber. Bei einer Gewinnsumme von 185 Milliarden Euro zahlten Kapitalgesellschaften im Jahre 2001 noch 22 Milliarden Steuer. Im vergangenen Jahr waren es 16 Milliarden bei rund 300 Milliarden Gewinn. Was ist der "Fatalität der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten" entgegenzusetzen, fragte vor vier Jahren Pierrre Bourdieu. "Eine dringend notwendige Alphabetisierung der Ökonomie", antwortet der Wirtschaftsethiker Friedhelm Hengsbach.


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