Falsche Bescheidenheit

DGB im Wahlkampf Mit einer deutlichen Wahlempfehlung für Rot-Grün hält sich der DGB zurück, aber auch mit Kritik an der Regierung

Weil das Glas nicht halbleer, sondern halb voll ist, sind die acht Millionen Gewerkschaftsmitglieder aufgerufen, die jetzige Regierung zu bestätigen. Selbstverständlich wird diese Schlussfolgerung vom Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Michael Sommer, nicht geteilt. "Wir werben nicht für eine Partei, wir werben auch nicht für eine Person oder für eine Koalition", sagte er bei der Vorstellung der DGB-Wahlkampfaktivitäten. "Mit dem Regierungswechsel im Jahre 1998 hat eine Wende hin zu einer neuen Politik für Arbeit und soziale Gerechtigkeit begonnen", heißt es in einer DGB-Broschüre zur Wahl. Ganz realpolitisch fahren die DGB-Autoren fort: "Dieser Weg muss über den Herbst 2002 hinaus konsequent weiter beschritten werden." Die knapp vier Millionen registrierten und drei Millionen nicht registrieren Erwerbslosen werden sich verwundert die Augen reiben.
Vergleicht man Sommers Rede vor der versammelten Hauptstadtpresse mit der dort verteilten Broschüre, hat man den Eindruck, der DGB wolle für Irritation sorgen. Auf der einen Seite wird eine Verunsicherung bei den Menschen diagnostiziert: "Sorgen um den Arbeitsplatz, eine manchmal diffuse Angst vor der Zukunft - das sind Stimmungen nicht von Einzelnen, sondern von einem Großteil der Bevölkerung. Wir müssen diese Ängste ernst nehmen." Auf der anderen Seite ist im Vorwort der Broschüre mit dem Titel Der Mensch im Mittelpunkt - eine gerechte Zukunft wählen zu lesen, ein "immer noch hohes Maß an sozialer Sicherheit" nehme vielen Menschen die Sorge um die Zukunft. Und weiter: "Die positive Einstellung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zur Zukunft, ihre erstklassige Bildung aber auch die moderne, wirtschaftsnahe Infrastruktur, eine funktionierende Gerichtsbarkeit und ein hohes Maß an innerer Sicherheit sind die Basis für eine leistungsfähige Wirtschaft." Zusammen gelesen werden diese Zustandsbeschreibungen zum Paradox. Ein Symptom für die Positionierung der Gewerkschaften?
Dem wird noch eins drauf gesetzt: "Auf die Stärke unserer Wirtschaft können auch wir Gewerkschaften stolz sein." Stolz sein - das klingt selbstzufrieden und gibt für kritisches Nachdenken wenig Raum. Wer auf sich stolz ist, hat wenig Grund, etwas zu verändern. Mehr als jede politikwissenschaftliche Analyse beschreibt dieser Satz den Zustand der Gewerkschaften: Sie sind mittendrin in der Gesellschaft, gehören zum politischen System und definieren sich mehr und mehr als politische Gestaltungsmacht innerhalb des real existierenden Kapitalismus. Vergleichbar dem Trauma der Sozialdemokratie, als "vaterlandslose Gesellen" abgetan zu werden fürchten sich die Gewerkschaften vor dem Vorwurf, als "Traditionalisten" beschimpft zu werden und arrangieren sich, anstatt kapitalismuskritische Gegenmacht zu sein. Einige Gewerkschaftsjugendorganisationen schalten sich aktiv in den Wahlkampf ein und rufen zusammen mit Attac zu einem Aktionstag am 14. September in Köln auf. Das zeitweise Bündnis der Gewerkschaften mit den Globalisierungsgegnern von Attac steht dabei ebenfalls in einem paradoxen, ungeklärten Verhältnis zu den Reden von "Chancen und Risiken der Globalisierung" und dem Willen, Globalisierung zu "gestalten".
Die Forderungen des DGB zur Reform des Bildungswesens sind immerhin zu begrüßen. Zwar wurde dem Land gerade noch "erstklassige Bildung" bescheinigt, doch wird dies relativiert: "In den vergangenen zwanzig Jahren wurde zu wenig in die Köpfe der Bildung investiert." Mehr Lehrer, mehr Ganztagsschulen, mehr Qualifizierung in den Betrieben und ein besseres Berufsbildungsgesetz. Doch Bildungspolitik verkommt beim DGB zum Selbstzweck. Nicht Emanzipation, sondern der Standortfaktor steht im Vordergrund. Bildung muss nutzbar und jederzeit einsetzbar sein.
Doch bleiben wir beim Kerngeschäft der Gewerkschaften, der sozialen Lage der abhängig Beschäftigten. Wenn nun tatsächlich die "Wende hin zu einer neuen Politik für Arbeit und soziale Gerechtigkeit ... konsequent weiter beschritten" werden soll, dann müssen sich Erwerbslose und Beschäftigte warm anziehen. Die Tatsache, dass unter 15 Mitgliedern der Hartz-Kommission nur eine Frau zu finden ist, spricht Bände. Das Papier gilt als der SPD letzte wichtige Chance, den Rückstand in den Umfragen vor der Wahl noch aufzuholen. Schließlich fällt die Regierungsbilanz eher bescheiden aus, was auch Gewerkschaftsfunktionäre nicht leugnen. Das Bündnis für Arbeit ist alles andere als eine Erfolgsgeschichte. Kaum Bewegung auf dem Arbeitsmarkt. Eine Steuerpolitik, die den Status quo der Umverteilung von unten nach oben festschreibt, eine ökologische Steuerreform, die die Energieunternehmen ausnimmt, eine unzulängliche Reform des Betriebsverfassungsgesetzes, ein Paradigmenwechsel bei der solidarischen Finanzierung der Alterssicherung - die Liste ist nicht vollständig.
Positiv verbucht werden, auch auf das Konto der Gewerkschaften, können ein paar Dinge, die einmal selbstverständlich waren: die Wiedereinführung des Schlechtwettergeldes und des Kündigungsschutzes, die Verschärfung geringfügiger Beschäftigung und die Rücknahme der Verschlechterung bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Wobei Letzteres zum Teil mit Abschlägen bei tariflichen Leistungen "erkauft" wurde. "Ich vergleiche übrigens auch 16 Jahre Helmut Kohl mit vier Jahren Gerhard Schröder", so Sommer auf dem DGB-Kongress Ende Mai. "Und da fällt mein Urteil eindeutig aus. Die vergangenen vier Jahre haben für uns, für die Arbeitnehmer wesentlich mehr gebracht als die 16 Jahre zuvor." In lausigen Zeiten sind die Gewerkschaften bescheiden geworden. "Egal, wer regiert, wir werden jede Regierung vor uns hertreiben", wäre ein denkbarer Slogan, würden sich die Gewerkschaften auf das besinnen, was sie sind: Eine außerparlamentarische und von jeder Partei ferne Bewegung.

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