Gegen die depressiven Zirkel

Metallstreik im Osten Zum richtigen Zeitpunkt, aber strategisch schlecht vorbereitet

Ein Streik passt nie in die jeweilige ökonomische Großwetterlage. Aktuell vernichtet die IG Metall mit ihrem Streik in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie die dortigen Arbeitsplätze und zwingt westliche Unternehmen zum Überdenken ihres Engagements in den nicht mehr so neuen Bundesländern. So zumindest die herrschende Meinung von Regierung, Wirtschaftsverbänden und Opposition. Die Streiks um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall 1956, die Septemberstreiks 1968, die Streiks gegen die Lohnleitlinien der sozialliberalen Bundesregierung 1976, die Streiks für Arbeitszeitverkürzung 1984, die Streiks für mehr Entgelt in den neunziger Jahren, der Bauarbeiterstreik im Sommer 2002 - alles überflüssige Streiks, so der jeweilige Zeitgeist, der sich stets gegen die Gewerkschaften richtet, wenn sie nicht nur brav bitten, sondern auch handfeste Aktionen durchführen.

Ganz selten greifen die Lohn- und Gehaltsabhängigen hier zu Lande zum Mittel des Arbeitskampfes. Europaweit wird nur im Vatikan weniger gestreikt. Und trotzdem geht immer wieder das Abendland unter, wenn Gewerkschaftsmitglieder ihr verbrieftes Grundrecht in Anspruch nehmen. So auch jetzt das östliche, wo die Metaller in einer hoch produktiven und profitablen Brache 13 Jahre nach der "Einheit" eben auch eine einheitliche Arbeitszeitregelung möchten. Nach dem Abschluss in der ostdeutschen Stahlindustrie - an ihm wird sich der Metall-Abschluss orientieren - dauert es noch bis zum Jahre 2009. Erst dann soll nach einer langen Übergangszeit die 35-Stunden-Woche erreicht sein. Wer 19 Jahre auf die gleichen Arbeitszeitbedingungen wartet, wie sie für die Kolleginnen und Kollegen der gleichen Branche ein paar Kilometer weiter gelten, dem muss Engelsgeduld und kein Klassenkampfdenken bescheinigt werden.

Doch nach herrschender Leseart sind die Metaller in Ostdeutschland Verführte einer selbstsüchtigen Funktionärsclique. Nur weil wild gewordene Westler vor den Betriebstoren Wache schieben, können die Ostler nicht zur Arbeit. So verkündete es am Montagmorgen ein Arbeitgeberfunktionär via Deutschland-Radio. Diese Masche ist bekannt, und so oder ähnlich bei jedem Streik zu hören. Dennoch gibt es derzeit eine neue Qualität der "Feindpropaganda": Die Gunst der neoliberalen Stunde nutzend, schickt sich eine ganz große Koalition aus CDU/CSU, FDP, Aktionärs- und Wirtschaftsverbänden, Medienkonzernen, öffentlich-rechtlichem und privatem Rundfunk sowie konservativen und neoliberalen Intellektuellen an, die Gewerkschaften sturmreif zu schießen. "Eine solche Hetze gegen uns habe ich noch nie erlebt", so die DGB-Vizechefin Ursula Engelen-Kefer zu Wochenbeginn in Berlin.

Dass die IG Metall in diesem vergifteten Klima den Mut hat, einen Streik zu führen, ist anerkennenswert. Es war abzusehen, dass die Mitglieder Ost gegen die Mitglieder West medial ausgespielt werden. Gerade deshalb muss die IG Metall diesen Arbeitskampf durchstehen und ein respektables Ergebnis erzielen, wenn sie auch für die Zukunft handlungsfähig bleiben will. Es würde die Organisation auf Dauer zerreißen, würde die Teilung der Arbeitszeit festgeschrieben werden. Die Arbeitgeber hätten immer das Argument parat: Was im Osten gut ist, kann im Westen nicht schlecht sein.

Doch die IG Metall muss sich auch Fragen gefallen lassen. Die monatelangen Verhandlungen gingen an der Öffentlichkeit vorbei, und die gewerkschaftlichen Öffentlichkeitsarbeiter haben wenig dazu beigetragen, dass dieser Streik auf Rückhalt in der Bevölkerung stößt. Zudem haben sich die Gewerkschaften nicht über eine in der Mitgliedschaft verankerte Arbeitszeitdebatte verständigt. So entsteht der Eindruck, die IG Metall reagiert eher planlos, als dass sie - die anderen Gewerkschaften und den DGB im Rücken - selbstbewusst agiert. Prompt werden die Gewerkschaften mit der "Länger arbeiten"-Kampagne der Gegenseite konfrontiert und sehen sich abermals in der Defensive.

Ähnlich wie beim Widerstand gegen die "Agenda 2010" haben die Gewerkschaften beim Thema Arbeitszeit kein strategisches, mit den Interessen breiter Bevölkerungsschichten verbundenes Konzept. Die Arbeitszeitfrage wäre mit einer realistischen Zukunftsvision zu verknüpfen. Wie wollen wir in dieser Republik perspektivisch leben? Als selbstbewusste Bürger, die über Leben und Arbeit souverän entscheiden, zumindest mitbestimmen, oder als geduckte Lohnabhängige, die sich jeder Marklage anzupassen haben? Und schließlich: Wie halten wir es mit dem Artikel 20 des Grundgesetzes, in dem das Sozialstaatsgebot festgeschrieben ist? "Die depressiven Zirkel zu durchbrechen," sei eine der Hauptaufgaben der Gewerkschaften, hat Oskar Negt den Gewerkschaften schon vor Jahren ins Stammbuch geschrieben.

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