In den vergangenen siebzig Jahren ist ein Weltbürgertum von Bombardierten entstanden. Mit dem 11. September 2001 sind die US-Amerikaner in diesen Kreis von terrorisierten Menschen eingetreten. Sie sind als Nachzügler gekommen. Bis dahin haben sie in ihrer Politik, offen wie verdeckt, bei Bedarf auch gegen das Recht, mehr Terror ausgeübt als erfahren. Wieso schmälert diese Wahrheit das Bewusstsein des Großzügigen, Partnerschaftlichen, das der amerikanischen Politik oft innewohnt - aber ihr nicht von Gottes Gnaden eingeboren ist? Wohin sind wir gekommen, dass aus einer solchen Feststellung auf Mangel an Mitgefühl für die Opfer des grausamen Terroranschlags vom 11. September geschlossen wird - oder jedenfalls ein solcher Schluss wider besseres Wissen politisch missbraucht werden kann?
Jede politische Partnerschaft mit den USA besteht dauerhaft nur auf der Basis nüchterner Einsicht. Und gelegentlich wird sie nicht einmal darauf gestützt reibungslos funktionieren, denn es gibt auch keine eingeborene, vollständige Interessengleichheit zwischen den USA und Europa. Genau betrachtet, war vermutlich Charles de Gaulle ein besserer Amerikaner - im Sinne von Selbstbewusstsein, und sei es europäisch - als Gerhard Schröder.
Die Medien wie die Politiker standen nach dem 11. September unter dem Eindruck oder wollten ihn vermitteln, bei dem Terroranschlag habe es sich um eine einmalige, erstmalige Tragödie gehandelt. Auf welcher Welt leben diese ahnungslosen jungen Reporter und gedankenlosen oder eingeschüchterten Politiker, die die Einmaligkeit einer Tragödie bezeugen wollten, der schon so viele im Wesenskern gleich geartete Tragödien vorangegangen waren und der so viele folgen werden? Erstmalig jetzt in den USA. Aber einmalig in der Weltgeschichte? Was war, zum Beispiel, in Nagasaki?
Das Ereignis vom 11. September 2001 mag insoweit einmalig bleiben, als dass niemals wieder zwei vierhundert Meter hohe Türme zum isolierten Ziel von Kamikaze-Piloten in einer Millionenstadt und damit zum Schauplatz des Weltfernsehens live für jene Menschen auf dem Erdball werden, die sich ein Fernsehgerät leisten können. Das ist wahrscheinlich ein einmaliges Drama gewesen. Eine einmalige Tragödie war es nicht - wenn man auf die Opfer sieht und nicht auf die brutale Kränkung einer Weltmacht unter Missachtung der herkömmlichen, aber faktisch längst überholten Kriegsförmlichkeiten. Die Verletzung des eigenen Territoriums hat die USA veranlasst, einen globalen Krieg zu erklären. Die eigene Psyche musste geheilt werden. Auf die Zerstörung des Eiffelturms, beispielsweise, hätte Washington vernünftiger, rationaler, angemessener reagiert: mit einer bedingten Solidarität zweiter Klasse.
Meine Generation ist an vielen Orten Europas Teilhaber von Tragödien einstürzender Häuser gewesen. Wozu gehörten: verschüttete Männer, Frauen und Kinder - ganz überwiegend unschuldige Zivilisten; zerfetzte Menschen, brennende Menschen, irrsinnig gewordene Menschen, beißender Rauch und Feuersbrünste, von deren Glut man nicht glauben konnte, dass sie noch einmal gelöscht werden würde. Wir waren Teilhaber an schierem Entsetzen. Und im Laufe der Jahre wurden wir Zeitzeugen von niemals endenden Wiederholungen der Tragödien solcher Art anderwärts auf der Welt: in Hanoi beispielsweise statt in Coventry, Warschau oder meiner Heimatstadt; um von ganzen Landstrichen in Vietnam, Kambodscha, Laos nicht zu reden.
Werden die Überlebenden von Manhattan nun die Gewissheit von unseresgleichen teilen, dass es keinen sicheren Ort, nirgendwo auf Erden, gibt? Sind sie uns gebrannten Kindern jetzt ähnlicher geworden? Oder werden sie in absehbarer Zeit zur Selbstvertrauensseligkeit und Naivität des Lebensgefühls in einem US-Fort, das arrogant sein kann, zurückfinden?
Aus meinem Tagebuch vom 23. September: Ich befürchte, dass die Krebserkrankungen, die bekanntlich auch ihre psychosomatischen Ursachen haben, demnächst signifikant zunehmen werden. Telefonate mit Freunden in den vergangenen Tagen erweisen übereinstimmend, dass die Freunde, Männer wie Frauen, sich schier vernichtet fühlen von der krank machenden Einsicht, derzeit außerhalb ihres vertrauten Kreises keinerlei Verständigungsmöglichkeit mehr zu haben. Sie empfinden sich als isoliert in der übergroßen Mehrheit der Mitmenschen, die sich vorläufig dem hemmungslosen Glauben an die zweckdienlichen Behauptungen ihrer Führer und der journalistisch-agitatorischen Ritualisierung des Erschüttertseins - Schweigeminuten et cetera - überantwortet hat. Dabei gibt es erste Anzeichen, dass die Menge alsbald wieder zu ihrer Tagesordnung übergehen wird - was ihr gutes Recht ist. Aber ist es nicht gerade diese Mischung aus schnell zu erzeugender Blindgläubigkeit, emotionalem Strohfeuer und im Grunde Unberührtbleiben, die die Menschen zu einem höchst geeigneten Manipulationsobjekt macht? Ende der Tagebucheintragung.
Es ist nicht so schlimm gekommen, wie ich zunächst geargwöhnt habe. Viele Menschen hierzulande erweisen sich als skeptisch gegenüber dem Nutzen der Kriegführung der US-Amerikaner und ihrer Allianz zur Überwindung des Terrorismus. Aber wird solche Skepsis und Vernunft auf Dauer genügen - und Ausdauer wird nötig sein -, um uns zu wappnen gegen den Alptraum der eilfertigen, redselig nichtssagenden Allgegenwärtigkeit unserer elektronischen Medien? Gegen die Ahnung vom Ausgeliefertsein unserer technischen Zivilisation an auch nur einen Kurzschluss, der mit einem Terroranschlag verwechselt wird? Gegen unsere Hysterie angesichts von Normalität - beispielsweise Flugzeugabstürzen -, wenn die Normalität bedrohlich wirkt? Natürlich müsste man das Fernsehen jetzt für ein Jahr verbieten oder doch nur stumm laufen lassen. Die Bilder sind das schlimmste Übel nicht. Aber ist es uns noch erlaubt, Richtiges zu sagen, ohne es als einen Scherz auszugeben?
Zunächst hatte ich hier die Beweggründe untersuchen und abwägen wollen, die einige Abgeordnete von SPD und Grünen im Bundestag haben, um gegen Schröders und Fischers kriegerischen Solidaritätsbeitrag zu stimmen. Aber dann stürzte am Montag Nachmittag, am 12. November, ein Verkehrsflugzeug über dem New Yorker Stadtviertel Queens ab. Fast eine halbe Stunde konnte ich vor dem Fernsehschirm Augen- und Ohrenzeuge der lustgeschüttelten Erwartung sein, dass wieder der Terror am Werk war. Danach blieb mir nichts mehr abzuwägen, sondern nur noch die Gewissheit: Jede Stimme im Bundestag gegen den jetzt geführten Krieg ist eine Stimme gegen die lebensbedrohende Hysterie.
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