Der unauffällige Deutsche

9. NOVEMBER Die Demonstration der Anständigen kann nicht verhindern, dass es um den Einzelnen geht

Wieder ist ein deutscher Herbst im Land. Die anständigen Deutschen, wie sie von ihrer Führung genannt werden, sehen sich genötigt, am 9. November 2000 zu demonstrieren. Sie sollen tun, was sie am 9. November versäumt haben. Und wenn der Winter nach Deutschland gekommen sein wird und im Januar viele tausend Menschen zum Gedenken an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die im Januar 1919 von Deutschen ermordet wurden, eine Prozession veranstalten - wird diese Demonstration dann mehr Verständnis finden in der tonangebenden deutschen Öffentlichkeit, als ihr bisher vergönnt war? Was das eine mit dem anderen zu tun hat?, Ja, was wohl.

Am Wochenende vor dem diesjährigen 9. November saß ich neben einem deutschen Endfünfziger, der einige seiner ziemlich festen Überzeugungen laut werden ließ. In der Selbstdarstellung des Mannes hieß es, nachdem am Tisch vom Euro gesprochen worden war:

• Ja, das Geld geht wieder verloren. Eine Inflation kommt.

• Die Asylanten sollen arbeiten; das heißt, ich meine die Sozialhilfeempfänger

• Die Frau eines Arbeitskollegen hat einen Second-hand-shop. Da kaufen die Aussiedler, die Rücksiedler. Die beschimpfen die Frau, weil es ihr besser geht. Und klauen tun die alle. (Zwischenfrage: Und du klaust nie? Nachdem er zunächst geleugnet hat, räumt er eher vergnügt ein: Na ja, wenn da etwas liegt, längere Zeit - er scheint Werkzeug zu meinen -, dann ist das ja praktisch gefunden und nicht geklaut, wenn man es mitnimmt.)

• Ein Kollege kennt ein junges Ehepaar, Aussiedler aus dem Osten. Die sind erst fünf Jahre hier und haben schon ein Haus. (Diesen Beleg für Ungerechtigkeit gegenüber alteingesessenen Deutschen hat der Mann schon zweimal bei anderer Gelegenheit angeführt.)

• Die, die hierher kommen, werden überall bevorzugt. Aber für die Arbeiter wird das Geld knapp.

• Ich bin Jahrgang 41 und muss bis fünfundsechzig Jahre schuften. Mein Nachbar ist 1939 geboren und kommt in den Vorruhestand.

• Für die NPD bin ich nicht, nein. Das darf man nicht denken. (Niemals hat er zwischen seinen Auffassungen und der NPD irgend eine Verbindung gesehen.)

Gelegentlich hat es schon weitergehende Bemerkungen in der hier deutlich werdenden Richtung gegeben. Solche Sicht der Dinge, diese Glaubensartikel eines unauffälligen Deutschen werden hier unverändert wiedergegeben; nichts wurde hinzugefügt, nichts zugespitzt, nichts korrigiert. Ich kenne den Mann, von dem ich hier berichte, seit langem. Aus Gesprächen über Jahre hin weiß ich, dass er starke Zukunftsängste hat. Er trägt unklare, aber feste Überlegenheitsansprüche mit sich herum, die von der Pol itik, so empfindet er es, wegen des Auslands nicht befriedigt werden. Spürbar sind auch verstohlene Heimzahlungsgelüste eines Gekränkten, dessen staatsbürgerliche Bravheit nicht genug gerühmt wird. Aber damit sind nicht alle Widersprüche zwischen seinem Begriffsvermögen, das nicht klein ist, und seinem geistigen Beheimatetsein im Irrealen und Irrationalen erklärt. Er ist als Flüchtlingskind ohne Vater in armseligen Verhältnissen aufgewachsen. Seine Schulbildung war mangelhaft.

Ich mag den gutmütigen Mann. Er ist Bautischler in einem großen Handwerksbetrieb. Bisher hat er stets sozialdemokratisch gewählt. Zwei Wochen Urlaub auf Mallorca; ein sehr gebrauchter Mercedes aus zweiter Hand; ein studierter Sohn, der ein Stipendium hatte. Stolz, ein Deutscher zu sein; die Bundesligavereine sollen deutschen Nachwuchs spielen lassen und nicht so viele Ausländer. Es ist ihm völlig unbegreiflich - selbst als Scherz scheint er es als ungehörig zu empfinden -, dass einer sagt, das nächste Mal wolle er lieber als Däne zur Welt kommen; die seien ein so nettes kleines Volk.

Er wirkte verblüfft, als gelegentlich das Faktum erwähnt wurde, dass die spanische Gesellschaft nicht nur aus dem ihm vertrauten Hotelpersonal besteht, sondern eine Oberschicht hat, die mit der deutschen ohne weiteres mithalten kann: nicht verblüfft, so schien mir, über das Faktum, sondern weil ihm selber eine solche Selbstverständlichkeit nicht in den Sinn gekommen war. Kein Dummkopf. Hilfsbereit, aber auf seinen Vorteil bedacht. Alles in allem ist er anständig und aus der deutschen Leitkultur gar nicht wegzudenken.

Gegenprobe: Ist beispielsweise Sahra Wagenknecht cum grano salis ein anständiger Mensch, und kann sie eine ebensolche Deutsche im Sinne der Leitkultur sein?

Wenn der beschriebene Mann in Berlin wohnte und am diesjährigen 9. November mitmarschierte, weil es womöglich seinem Arbeitgeber so gefiele, so wäre er wohl kein Fremdkörper. Wer sich dann und wann aus der ersten in die zweite Öffentlichkeit begibt (siehe Freitag 40/99), der kann erkennen, dass mein Gesprächspartner mit seinen Ansichten in beiden Teilen Deutschlands, im Westen wie im Osten, keine seltene Ausnahme ist, sondern in manchen Bevölkerungsgruppen schier die Regel.

Ohne eine vorsorgliche Anpassung an ein Verhalten, das vielleicht jemand von ihm erwartet, von dem er abhängig ist, würde der Mann keineswegs mitlaufen in der Demonstration. Er hat mir oft versichert, dass derlei Übergriffe, gegen die da protestiert wird, nicht seine Sache sind. Damit hat er, wie er auf Nachfrage beteuert, in gar keiner Weise, auch nicht indirekt, zu tun. Ich unterstelle, er wird wohl immer friedfertig bleiben - nicht nur, weil er nicht mehr der Jüngste ist.

Der Demonstrationszug vom 9. November 2000 ist keine Fortsetzung der Kundgebung des 4. November 1989. Eher ist er zu vergleichen mit Aufmärschen, etwa am 1. Mai jedes Jahres, bei denen die DDR sozusagen ihre inneren Werte vorwies und feierte: Idealistisch Gesinnte, sie wurden weniger im Laufe der Zeit, schritten Seit' an Seit' mit Mitläufern, denen das öffentlich bekräftigte Ideal keineswegs gleichgültig war, aber doch allein kein hinlänglicher Grund zum Demonstrieren.

Nun also beweisen die anständigen Deutschen, Idealisten und andere, dass sie Gewalt gegen Fremde verabscheuen. Das ist gut, auch für den Export. Vielleicht werden vom 10. November an die Entschädigungsgelder der deutschen Industrie für Fremdarbeiter schneller fließen.

Tatsächlich wird es, wenn die Massen sich verlaufen haben, wieder am Einzelnen liegen, wie anständig Deutschland ist.

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