Die andere Republik

VON BONN NACH BERLIN Ende der Enthaltsamkeit

Noch ist der Umzug nicht ganz abgeschlossen; manche neue Herrlichkeiten, wie das Kanzleramt, stehen vorerst nur im Rohbau; Naumann hat das kleine, schicke Stadtpalais am Tiergarten als Sitz seines Kulturamtes bisher nicht gefunden - aber schon jetzt ist die Berliner Republik grundverschieden von der Bonner. Sozusagen über Nacht ist Deutschland aus einer widerwilligen Mittelmacht zu einer gegebenenfalls auftrumpfenden kontinentalen Vormacht geworden.

Dazu hätte Helmut Kohl mit seiner generationstypischen Prägung durch die Nachkriegszeit als Bundeskanzler nicht gepaßt. Gerhard Schröder hingegen scheint eine Idealbesetzung der Rolle zu sein. Der Zeitgeist findet stets sein Personal.

Diese jüngste deutsche Wende, holt den Mantel der Geschichte vom Haken, drückt sich in einem scheinbaren Widerspruch aus: Einerseits nimmt der Staat das Staatsvolk neuerlich für einen höheren Zweck in die Pflicht (diesmal die Durchsetzung bestimmter Menschenrechte, notfalls mit kriegerischer Gewalt), andererseits zieht sich der Staat im Vollzug wirtschaftlicher Interessen aus der fürsorglichen Verantwortung für seine Bürgerinnen und Bürger weithin zurück. Im Überbau, da, wo dem Staat Altäre errichtet werden, löst sich der Widerspruch auf: Der Staat kann sich nicht um alle kümmern, wenn er höheren Zwecken dient.

Gewisse Staaten, deutsche eher als dänische, haben gewöhnlich Hohes, Großes im Sinn. Im Inhaltlichen - beispielsweise Nation, Rasse, Menschenrechte der genehmen Art und am richtigen Ort - wechselt das Hohe. Das Pathos des Anspruchs, Großes zu wollen, hat seine Moden: Manchmal ist sein sprachlicher Ausdruck altertümlich, wie es der Duktus des Zentralkomitees der SED war; manchmal ist er gestylt wie ein italienisches Herrenjackett und vermittelt Schröder und den Seinen ¯ein neues Selbstbewußtsein®; gewonnen aus der Luftüberlegenheit im Kosovo. Wechselnde Inhalte, verschiedene Ausdrucksformen.

Aber die Staatsgattung als solche - die mit dem Überbau - überdauert so oder so die Wechselfälle der Geschichte. Auch die DDR hatte sich einen höheren Daseinszweck gegeben, den Sozialismus. Insoweit war sie, nicht in der Sache, aber dem hochgestimmten Selbstverständnis nach, der jetzigen Berliner Republik nicht gänzlich unverwandt. Womöglich, wer lebt, wird sehen, erweist sich mit der Zeit, daß sie ihr im Grunde näher stand, als es die Bonner tat. Klio, die Muse der Geschichte, hat einen abgründigen Humor.

Ach, die Bonner Republik: Globke als Adenauers Kanzleichef; eine ungenierte Restauration hergebrachter Machtverhältnisse in der Wirtschaft und ins Politische hinein; alte Seilschaften in der Justiz. Als ob nichts gewesen wäre. Politische Häftlinge, gar nicht so wenige, aus Arbeiterkämpfen im Ruhrgebiet Anfang der fünfziger Jahre und nach dem Verbot der KPD. Verblassende gute Vorsätze, Anpassungen allenthalben. Irrationale Žngste vor dem Osten. Opfer der werbenden Wirtschaft: Prestigekonsum. Protzen im Lande und außerhalb. Vorherrschend ein Leben, das nur Gegenwart kannte.

Aber, die Bonner Republik: Sie war weniger ein Staat, schon gar kein politisch großkotziger, als eine Gesellschaft im Nachkrieg, die sich auf die Beine stellte. Mit der Zeit viel biedermeierliches Glück im Winkel. Eine Nischengesellschaft, in der weniger Lippenbekenntnisse zum Überbau abgelegt werden mußten, damit man seine Ruhe hatte, als in der Nischengesellschaft der DDR.

Die Raison d'etre der bundesrepublikanischen Gesellschaft war aufs Konkrete gerichtet: Sicherheit an der Seite des Stärksten. Als man aus dem Gröbsten heraus war, machten die Wohlstandskinder 1968 ihre Kulturrevolution: Veränderung vor allem im Stilistischen. Alles in allem blieb die Bonner Republik auch mit den integrierten Achtundsechzigern von einer überwiegend angenehmen, nur teilweise verstockten Provinzialität.

Genau betrachtet nahmen fünfzig Millionen Menschen - man beachte: Deutsche - für ein halbes Jahrhundert eine Auszeit von der Geschichte. Sie übten ein Menschenrecht aus, an dem jedes Pathos zuschanden wird. Es ist der Welt nicht schlecht bekommen.

Die Herolde der anderen, der Berliner Republik, sprechen von der beendeten Pause mit Verachtung. Sie haben nicht verstanden, daß eben diese Pause für die Deutschen eine Lehrzeit in Pragmatismus war und damit eine Hinwendung zu einer Außenpolitik geduldiger, konkreter kleiner Schritte: Die Durchsetzung von Menschenrechten mit wenig Blutverlust.

Unverzüglich haben die Lobpreiser der Berliner Republik den Ton getroffen, der einer wiederbelebten Geschichtsmächtigkeit angemessen ist: Aus einem Dämmerzustand, so wird feuilletonisiert, zum ungehemmten Bewußtsein von Deutschlands Bedeutung und historischer Aufgabe. Die Geläufigkeit, mit der die allermeisten Medien dem - endlich, so klingt es - erneuerten, erwachten Deutschland das im Kern Altgewohnte mit auf den Weg geben, diese Geläufigkeit verrät, daß nach 1945 weniger als erhofft überwunden wurde, sondern vieles sich nur geduckt hat. Nun ist das Glück vollkommen, man kann sich mit der bewahrten Gesinnung auch wieder im Ausland sehen lassen: Diesmal vermag eine deutsche Demokratie, wofür hierzulande bisher andere Autoritäten benötigt wurden. Das wird natürlich im Inland schwieriger werden, wenn Bodentruppen eingesetzt werden müssen.

Es ist wohl so, ich befürchte es, daß die Dauer einer historischen Enthaltsamkeit auch im Mentalen nur von der Tiefe des vorangegangenen Sturzes abhängt. Aber hätte es uns nicht wenigstens gelingen können, so viel Erfahrung weiterzugeben, daß der Wiederbeginn des Üblichen mit Beklommenheit und nicht mit Genugtuung aufgenommen würde? Eine Genugtuung, die sich da und dort noch ziert, aber unverkennbar um sich greift. Wenn die Menschen der Humus der Geschichte sind, was kein schiefes Bild ist - warum muß der Humus nach genügender Aufbereitung auch noch freudig bewegt sein, wenn er ausgestreut wird? Ein schiefes Bild, aber nicht unzutreffend.

Die erste geschichtsträchtige Aktivität der Berliner Republik basierte auf Leichtsinn und Unkenntnis, die zu vergleichen man weit in der Geschichte zurückgehen muß. Bis zum deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Sommer 1941, als die deutsche Generalität, der allererste Stand im Staate, unberücksichtigt ließ, daß auch in Rußland der Winter kommt und gewöhnlich sehr kalt ist?

Schon lange, bevor sich jetzt die gegenwärtigen Herren der Geschichte, Schröder unter ihnen, in Sarajevo trafen, um Illusionäres und Irreales zu besprechen, war dort zu erkennen gewesen, daß bisher nicht einmal im halbwegs befriedeten Bosnien-Herzegowina eine Lösung der ethnischen Probleme gelungen ist. Im Kosovo sollte diese Lösung herbeigebombt werden, sozusagen durch staatlichen Terrorismus. Alles konnte allen vorher bekannt sein von der Irrealität dieses Kriegsziels. Die Niederlage, die für die Wähler ein, zwei Wochen als Sieg ausgegeben wurde, war unvermeidlich. Jetzt soll nachgebessert werden. Wozu freilich nötig ist, daß man zunächst lernt, die Kosovo-Albaner nicht anders zu sehen als die Serben. Befangen in einer ideologischen Außenpolitik - die Bindung an den Umständen nach abstrakte Menschenrechte ist ideologisch - wird das dem Westen nicht leicht fallen. Ideologien brauchen Feinde.

Die Berliner Republik hat die Dummheiten auf dem Balkan gemeinsam mit ihren Verbündeten praktiziert. Ist das eine Entschuldigung? Italien und Griechenland haben gezeigt, daß selbst im Kollektiv Abstufungen im Realitätsverlust möglich sind. Amerika hatte, natürlich nach den Menschenrechten, auch anderes im Sinn. Der Überbau des US-amerikanischen Staates enthält ganz ungeniert neben dem Schönen und Guten auch eigennützigen Patriotismus, der imperialistische Rücksichtslosigkeiten rechtfertigen soll. Der amerikanische Verteidigungsminister Cohen hat gerade die Möglichkeit, Georgien in die NATO aufzunehmen, nicht gänzlich ausgeschlossen. Selbst wenn das nur eine Sprechblase ist, ist sie unseren Interessen dienlich?

Im Verhalten der führenden Politiker vor und während des ersten Krieges der Berliner Republik haben sich vermutlich gemischt:

Verblendung aus guten Absichten; ein Weltbild aus einem Willen ohne Vorstellung; Unsicherheit gegenüber Amerika; Unfähigkeit, auf einem einmal eingeschlagenen Weg innezuhalten; und das Bedürfnis, mit dem Strom zu schwimmen. Mancher Minister wollte wohl auch seine Regierungstauglichkeit nachweisen. Was sollen wir mehr fürchten an unserem gewählten Personal: seine Naivität oder seinen Zynismus?

Bundeskanzler Schröder erklärt inzwischen abweichendes Denken in seiner Partei für eine Art Hochverrat; die SPD als Staatspartei des Bundeskanzlers. Schritt für Schritt wird die Berliner Republik nach außen und innen kenntlich werden.

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