Unter Umständen singt Christa Wolf, auch zu zweit, jene Lieder, die einst Ernst Busch vom Spanischen Bürgerkrieg angestimmt hat. Sie singt nicht von Mamita mia und Spaniens Himmel, wie auf einem Veteranentreffen gesungen werden mag: die Stimmen brüchig geworden, aber der alte Glaube wieder belebt durch das Zusammensein mit Gleichgesinnten. Christa Wolfs gelegentlicher Gesang, ich habe ihn gehört und durfte mitsingen, scheint mir eher von Selbstironie getragen zu sein. Diese Melodien und Texte haben also einmal mein Herz höher schlagen lassen. Seinerzeit, nach 1945, als wir jung waren in dem neuen Deutschland, an das wir glaubten.
Nein, nicht martialisch höher geschlagen hat das Herz, so bald nach dem Krieg, sondern Bewunderung wurde in ihm geweckt für die internationalen Brigadisten, das Gefühl verfeinert mit leiser Trauer übers damals Vergebliche. Die blaue Blume der Sierra de Guadarrama. In jenen Jahren nach 1945 blühte sie dort, nördlich von Madrid, für junge linke Leute aus beiden Teilen Deutschlands. Und nun die Selbstironie, mit der scheu gewordene Erwachsene sich von ihrer Jugendzeit distanzieren.
Aber nichts von dem, was gewesen ist, sollte damit aus der Welt geschafft werden. Es war vorüber, es wurde verborgen, aber es behielt sein Recht. Die Selbstironie wirkte gutartig, sie war frei von Bitterkeit. Die großen Erwartungen wurden nicht haftbar gemacht für die Enttäuschungen, die ihnen folgten. So jedenfalls war mein Empfinden, als ich neben Christa W. saß und wir sangen.
Seither verstehe ich besser, warum ich weder in den Büchern noch in mündlichen Äußerungen der Schriftstellerin eine zynische Auffassung, eine zynische Schlußfolgerung gefunden habe. Sie ist freundlich; herzlich, meistens auf eine verschleierte Art; spöttisch, ironisch, dann und wann auch spitz; bei Bedarf streitfähig; imstande, reserviert zu sein; einfühlsam im Zuhören und mit sanft steuernden Einwürfen; gegebenenfalls traurig bis in die Augen hinein; manchmal zornig, auch unverhüllt wütend - aber niemals zynisch. Sie hat einen leichten Hang zur Sentimentalität, sie kann Pointen setzen, aber auf eine zynische Bemerkung fällt der nun Siebzigjährigen das Erwidern schwer. Es ist nicht ihr Ton.
Die Umstände übrigens, unter denen wir sangen, konnten günstiger kaum sein: An einem kühlen, sonnigen Tag Ende Februar 1993 fuhren wir im gemieteten Automobil eine Straße bergab, die in weiten Kurven zur Küste führte; zum Pazifik bei Santa Monica in Kalifornien. Am Vortage hatte ich Christa Wolf Zur Person fürs Fernsehen interviewt. Zu Hause, in Deutschland, gaben wieder einmal die groben Vereinfacher den Ton an. Wir waren hier, die Arbeit war getan, die Straße war leer, wir waren gelöst, Christa Wolf war in den Texten der Lieder sicherer als ich.
In dem Interview hatte ich, eine Frage einleitend, gesagt: »Wir sind ein Geburtsjahrgang, 1929, aber Osten und Westen, das macht einen Unterschied.« Diese banale Feststellung war nach der Wende 89/90 nicht immer unangefochten gewesen im Land. Eine westdeutsche Mehrheit hielt für gewiß, daß binnen kurzem alle Ostdeutschen, außer den Verstockten, zu Westdeutschen geworden sein würden - sobald das Regime entschwunden wäre, spurlos. Unter dieser westdeutschen Dummheit hatten viele Menschen zu leiden; Christa Wolf auf die besondere Weise, daß tonangebende Kulturredakteure des Westens sie bezichtigten, als »Staatsdienerin« dazu beigetragen zu haben, daß die Ostdeutschen keine Westdeutschen waren. Eine Behauptung, die sachlich - daß Ostdeutsche sich von Christa Wolfs Werk als Ostdeutsche angesprochen fühlen - nicht falsch ist, die aber als Anklage wegen Staatsdichtkunst von unsäglicher Ahnungslosigkeit zeugte; vielleicht hatte sie auch giftigere Wurzeln.
Wer sich nach dem Kriege als junger Mensch in Thüringen, in Sachsen, in Mecklenburg und Brandenburg einließ auf das Neue, das Ideale, wie Christa Ihlenfeld, bald verheiratet mit dem außergewöhnlichen Partner Gerhard Wolf, es tat, dessen Engagement fand Sinn und Richtung in einer Lehre voller Gewißheiten und einer unbekannten Größe, mit der aber fest gerechnet wurde: dem neuen Menschen.
Zu den unerzählten Geschichten aus dem geteilten Deutschland gehört ein Bericht - nicht aus den Akten, nicht aus den Akten, nicht aus den Akten - über das Erwachsenwerden der Generation Christa Wolfs in den Idealen und unter den frühen, »der Sache wegen« erduldeten Zwängen der DDR. Über die ersten und schließlich andauernden Kompromisse eines solchen Lebens, verglichen mit den Anpassungen, die im Westen opportun waren. Über das lastende Empfinden, bis zur Erschöpfung mit einem »Dennoch« den real existierenden Sozialismus verteidigen und seinen Staat schützen zu sollen. Über das schmerzliche Abwägen von Bleiben oder Gehen. Über das höhnische Resignieren vor Karrieristen und Apparatschiks, die in der Regel der späteren DDR weniger gefährlich als beschränkt waren. Über die wachsenden Mißverständnisse und Entfremdungen unter einstigen Freunden. Und über die Glut, die unter der Asche geblieben war, wie sich am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz zeigte.
Eine Geschichte, die nun bald nicht mehr aus Eigenem erzählt werden kann. Ein deutscher Bildungsroman, nach der Wende unter Akten verschüttet, vergeudet in Rechtfertigungen vor Pharisäern. Preisgegeben einer kaum noch rechtsstaatlichen Bloßstellung, deren Erkenntnisse nur dann sinnvoll gewesen wären, wenn sie sich am warnenden Beispiel der DDR auf die potentielle Monstrosität aller modernen Staaten bezogen hätten. Statt dessen brachte die Wende die Deutungsmacht über die deutsche Geschichte fast vollständig wieder ins bürgerliche Lager rechts von der Mitte zurück: Auschwitz kann relativiert werden, die Stasi war einmalig.
Zu Christa Wolfs Bildung unter den hier skizzierten Bedingungen gehörte auch die Entwicklung von Mut. Ich weiß von einigen westdeutschen Feuilletonisten, gegenüber welchen politischen Zumutungen sie in Redaktionskonferenzen, vor größerer Öffentlichkeit ohnehin, geschwiegen haben, gekuscht. Diesem Mangel an Zivilcourage entsprach die Eilfertigkeit, mit der sie, als der Wind so wehte, die Schriftstellerin Wolf monatelang an den Aktenpranger stellten und ihr Anpassung und unstatthaftes Stillschweigen in der DDR vorwarfen. Im Grunde verübelte man ihr wohl, zumindest unbewußt, daß sie in der DDR gelebt hatte und dort Bücher geschrieben.
Nur Christa Wolf, allenfalls noch ihr Mann Gerhard, weiß, ob sie sich manchmal grämt, da und dort geschwiegen zu haben: immer noch der Sache wegen und nicht nur der Sache wegen. Ich hoffe, sie grämt sich nicht. Der Auftritt von Christa Wolf auf dem berüchtigten 11. Plenum des Zentralkomitees der SED im Dezember 1965 stürzt mich in Zweifel, ob ich in einer vergleichbaren Situation wie sie aufs Podium ginge, um gegen die erkennbare Richtung der Mächtigen und die sie begleitenden Zwischenrufe der Mitläufer meine abweichende Meinung vorzutragen. Das war zu einer Zeit, als die SED noch schärfere Zähne hatte als später.
Den westdeutschen Intellektuellen ist öffentlicher Widerspruch nicht nur wegen der günstigeren staatlichen Rahmenbedingungen leichter gefallen als den Intellektuellen in der DDR. Wenn die Westdeutschen die Restauration alter Machtverhältnisse in der BRD, wenn sie Strauß angriffen, dann attackierten sie einen Gegner. Ostdeutsche wie Christa Wolf oder Stefan Heym mußten sich gegen Leute wenden, mit denen sie im Grunde auf derselben Seite der Barrikade standen.
Ich bin kein Rezensent. Ich mache nur geltend, daß ich Christa Wolfs Romane und Erzählungen vollständig kenne; von Anfang bis Ende gelesen, manche mehrmals. Ich hatte eine Erinnerung an den Geteilten Himmel, gelesen in den frühen Jahren; dann sprach mich Kindheitsmuster an, berührte mich. Ich las nach, was vorher erschienen war, und seither alles weitere. Mir scheint, Christa Wolfs Sprache hat mit der Zeit Nebensätze verloren, womit ihre Hauptsätze an Kraft gewonnen haben. Die Gradlinigkeit ihres Erzählens ist ein selten gewordener literarischer Wert. So sehr ich Medea bewundere: Kassandra geht mir noch darüber. Ich zitiere aus dem Anfang dieser Erzählung: »Nichts, nichts was ich hätte tun oder lassen, wollen oder denken können, hätte mich an ein anderes Ziel geführt.«
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