Komisch und skandalös

300 JAHRE PREUSSEN Wie preußisch wird die Berliner Republik?

Wird jetzt der Überbau restauriert? Die Berliner Republik sucht geistigen Halt und scheint ihn finden zu wollen in Klischees von Preußen, die mit der gesellschaftlichen Realität im staatlich vereinigten Deutschland genau so viel zu tun haben wie Kaiser Wilhelm II. mit der Demokratie zu tun hatte. Ein Jahr lang soll nun ein preußischer Gespensterreigen aufgeführt werden. Ich wollte, es wäre Nacht oder die Bayern kämen. (Siehe "Geflügelte Worte" unter Waterloo.) Ein Bundeskanzler Stoiber von der bayrischen CSU hielte vermutlich - seiner historischen Natur nach sozusagen - mehr Abstand von der vordemokratischen Identitätsstiftung mittels eines verklärten Preußens, als es einem modischen Sozialdemokraten in den Sinn kommt.

Natürlich kann man viel Spaß haben an dem, was geistig höherstehenden Politikern, angepassten Professoren und staatsnahen Intellektuellen nun alles einfallen wird zu öffentlichen Tugenden, die angeblich eine preußische Spezialität waren, die jedoch im gegenwärtigen Deutschland wieder aufleben sollen, ja, teilweise schon neuerlich praktiziert werden. Bitte, in welchem Teil der deutschen Gesellschaft? Mehr unter alleinerziehenden Müttern oder mehr von den Global Players der New Economy?

Wie erheiternd wird für zwölf Monate das öffentliche Leben in Deutschland sein. An einem Tag ist zu hören von der moralischen und sittlichen Untadeligkeit wie der materiellen Selbstlosigkeit der führenden Schicht Preußens, dem Vorbild maßgeblicher Teile der politischen Klasse der Bundesrepublik. Und am nächsten Tag ist dann zu lesen von schwarzen Konten, Steuerhinterziehung, Übertritten ins besser Bezahlte, gierig gesuchter Öffentlichkeit für das Privatleben und obszön hohen Gehältern von Vorständen in offenbar falsch gemanagten Konzernen. Aber in solchen Widersprüchlichkeiten - mehr scheinen als sein - liegt die unfreiwillige Komik der Berliner Republik, nicht ihr Skandal im Umgang mit Preußen.

Selbst heutzutage, bei nicht mehr ganz zuverlässig funktionierender Kontrolle, ist die parlamentarische Demokratie strukturell weniger geeignet für das Reichwerden hoher Staatsdiener, als es Preußen wie alle Feudalstaaten gewesen ist. Beträchtlich materielle Zuwendungen - Rittergüter, große Wälder, viele Täler - waren systemimmanent und durchaus eine Regel. Auch war das normale Salär vergleichsweise nicht so bescheiden, wie es die preußischen Geschichtsklitterer behaupten. Hinzu kamen über lange Zeit ständische Privilegien, verbriefte wie faktische, die das Leben im Allgemeinen und den beruflichen Aufstieg im Besonderen mehr als erleichterten.

Diese Tatsachen sind von einem unbefangenen Auge mühelos zu erkennen. Es bedarf dazu keines Klassenstandpunkts, sondern nur der Wahrheitsliebe. Wer den Sachsenwald in günstiger Stadtrandlage Hamburgs durchwandert, das Eigentum der gefürsteten Bismarcks, der ist für die Augenauswischerei im Blick aufs selbstlose preußische Dienen verloren. Und die Hohenzollernsche Toleranz gegenüber Ausländern mit wirtschaftlich nützlichen Fähigkeiten, Hugenotten und anderen, fußte auf einer frühen Green Card.

Der Skandal der Berliner Republik liegt in der Preisgabe des demokratischen Selbstbewusstseins gegenüber der Preußen-Legende. Oder erweist sich nun, dass da gar nichts preiszugeben ist? Wenn von Preußen die Rede ist, dann benimmt sich das tonangebende Personal der Republik so, wie Neureiche es tun, die ihre Herkunft verleugnen, damit sie gelegentlich in den besseren Kreisen verkehren können. Ein namhafter Dissident, der - wenn es dazu kommen könnte - einen Barrikadenkämpfer von 1848, einen von Bismarcks Sozialistengesetz nach 1878 Verfolgten oder einen Soldatenrat vom November 1918 noch ungeniert unter den Linden grüßen würde, ist unter den Politikern nicht zu sehen.

Unterwürfigkeit gegenüber der zweckmäßig aufgeputzten, geschönten Geschichte Preußens ist ein Kennzeichen von Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen. Die PDS hält sich eher bedeckt, aber ich bezweifle, dass es in ihren Reihen anders ist. Nur Konservative, rechte wie linke, zeigen sich souverän.

Die dubiose Selbstkrönung Friedrichs I. vor 300 Jahren ist dieser Tage im Schauspielhaus am Berliner Gendarmenmarkt von Staats wegen gefeiert worden. Man nennt das: Tribut zollen. Wo, in welchem Vereinslokal wird in diesem Festjahr die politische Prominenz der Verfolgung der Arbeiterbewegung in Preußisch-Deutschland gedenken? Und wer wird die bekennende Rede halten, die der Anlass verlangt? Mehrheitlich haben die deutschen Historiker in allen politischen Systemen ihre Deutungsmacht aus der Anpassung an die Herrschenden bezogen. Zu welchen Idealen der Arbeiterbewegung sollen sich Historiker bekennen, die bis ins Schauspielhaus weiterkommen wollen?

Die gelungenste politische Massenagitation in der Geschichte der Deutschen, die seit bald 150 Jahren niemals ganz aufgehört hat zu wirken, die nur nach Kriegsende 1945 einige Jahre an übler Nachrede zu leiden hatte - diese Massenagitation gewinnt mit dem neuen Einheitsstaat neue Kraft. Joseph Goebbels hat ihr mit seinen doch großen Erfolgen nicht das Wasser reichen können; bei gegebenen Anlässen plapperte er ihr nach. Joachim Herrmann, der letzte oberste Agitator der DDR, hätte, falls er berufliche Träume gehegt hat, von ihr dennoch nicht zu träumen gewagt: von der agitatorischen Überzeugungskraft, mit der spätestens seit den Düppeler Schanzen im Jahr 1864 die preußischen Unteroffiziere, Volksschullehrer, evangelischen Pfarrer, Gefängnisdirektoren, Ordinarien und quer durch alle gehobenen Berufsstände die Reserveoffiziere die preußische Außergewöhnlichkeit (zurückhaltend formuliert) zum Glaubensgut der Deutschen erhoben haben, sofern diese nicht katholisch oder links oder fortschrittlich-liberal oder welfisch gesinnt waren. Jetzt hat sich die politische Klasse der Bundesrepublik mehrheitlich Preußen ergeben.

Lässt man die Agitation beiseite, so ist unstrittig, dass Sachsen die deutsche Geschichte länger und zivilisierender geprägt hat als Preußen, ungeachtet aller Flötenkonzerte in Sanssouci und der Gartenfeste des Prinzen Heinrich in Rheinsberg. Nichts gegen das Preußen des alten Stechlin; jedenfalls nicht in der hier gebotenen Kürze. Hätte ich lieber als Hesse nach Amerika verkauft werden wollen oder im Oderbruch verprügelt? Aber doch - wo alles lobpreist, müssen ein paar Dissidenten auf die Lorbeerbäume spucken - einige Anfragen an die Fürsprecher des preußischen Erbes: Worin besteht es hinter der agitatorisch verschleierten Anmaßung und Staatsvergötzung?

Sind die württembergischen und sächsischen Beamten noch korrupt gewesen, als es die preußischen nicht mehr waren? Beugte der bayrische Amtsrichter das Recht, weil er nicht bei den Borussen die Mensur geschlagen hat? War der Landrat im badischen Freiburg weniger aufgeklärt als im altmärkischen Stendal? Haben sich die Gestütswärter im mecklenburgischen Redefin nicht so gründlich gewaschen wie die im preußischen Neustadt/Dosse?

Ich weiß, so banal haben die Anhänger der preußischen Ideologie sich nicht verstanden wissen wollen. Was also war gemeint, wenn in einem gehobenen Sinne Preußen beschworen wurde? Alles dieses wäre heute ohne Belang, hätte längst ehrwürdigen Staub angesetzt wie Theodor Körners Gedichte und wirkte in einer wiederbelebten modernisierten Version nur grotesk - wenn man nicht fragen müsste, was die heutigen Leitfiguren im Blick auf Preußen im Sinn haben. Gar nichts? Aber was rät ihnen ihr Instinkt?

Für eine erfolgreiche Manipulation von Abhängigen wäre eine Verbindung der überhöhten preußischen Tugenden mit den Bedürfnissen des Neoliberalismus das Beste, was auf dem Markt zu haben ist. Hergebrachte demokratische Vorstellungen von Gleichheit und Mitsprache sowie Neigungen zur Aufmüpfigkeit ließen sich unter Hinweis auf die fiktiven Preußen ins Abseitige, sozusagen ins Unartige verweisen.

Deutsche meines Alters - nach dem Krieg Halbwüchsige - sind, im Westen so, im Osten anders, gebrannte Kinder. Die erste Restauration in Westdeutschland in den fünfziger Jahren - kein 68er konnte meinesgleichen in der wütenden Verzweiflung überholen - war eine der alten wirtschaftlichen Mächte und ihres Personals. Steht uns nun die zweite Restauration ins Haus, die des geistigen Überbaus?

Mir scheint, es waltet eine Art Osmose zwischen dem großspurigen Wilhelminismus und einigen schon spürbaren Allüren des heutigen Berliner Personals. Für die volle Übertragung des Vorgestrigen ins Morgige bedarf es einer gewissen Inkubationszeit, wie sie den Zeitgenossen auch in anderen Zusammenhängen geläufig ist. Wilhelm II. wollte in sein Berliner Schloss Schießscharten gegen demonstrierende Arbeiter einbauen lassen. Solche Absicht war kein hinlänglicher Grund, die Schlossruine später zu sprengen. Aber jetzt den Palast der Republik zu schleifen, in dem gewöhnliche Menschen aus der DDR sich verlobt und entlobt haben und mit den Kindern Gemälde besichtigt? Die Frage hat weniger mit der DDR zu tun als mit deutscher Wirklichkeit und dem demokratischen Selbstbewusstsein der Berliner Republik.

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