Urlaub in Hannover

Deutsche Sommerzeit Die guten Sitten im politischen Gewerbe verfallen weiter

Kein Wort gegen Hannover. Hinrich Kopf, der legendäre sozialdemokratische Nachkriegs-Ministerpräsident Niedersachsens von 1946 bis 1955 und noch einmal von 59 bis 61, dem Jahr, in dem er starb, residierte in Hannover. Er ist von dort aus öfter übers Land gefahren; bevorzugt nach Norden und Nordosten: dahin, wo Norddeutschland nur eine beiläufige Gegend ist. Felder, deren Nutzpflanzen - mal Hafer, mal Rüben - zeigen, dass hier die Grenze zwischen leichtem Sand und fetter Bodenkrume verläuft. Mehr als Butterblumen und Sauerampfer besitzen die Wiesen nicht, um Farbe aufzulegen. Aber Rapsfelder stechen im Frühjahr mit ihrem schrillen Gelb ins Auge. Kleine Wälder, krumm geweht, behaupten sich. Die Eingesessenen nennen solche Krüppelgehölze "Busch". Da und dort ein kleiner Teich, im Hannöverschen "Kulk", von Entengrütze überzogen. Urlaub ist möglich in diesem Landstrich; von Hannover aus ein Katzensprung und abends wieder vor dem heimischen Fernsehapparat.

Hinrich Kopf wurde von seinen Landsleuten "der rote Welfe" genannt - respektvoll und, soweit Niedersachsen das äußern können, in offen bekundeter Herzlichkeit. Er kehrte gern in Dorfkrügen ein und spielte mit den Bauern Skat, nicht immer ganz ehrlich, wie Heinrich Albertz, der als junger Mann Kopfs persönlicher Referent war, erzählte. Beim Zusammenrechnen wurde manchmal gestritten. Aufhebens wurde nicht gemacht von dem Besuch aus Hannover. Albertz, der aus konsequenter Verantwortung nach dem Tod des Studenten Benno Ohnesorg auf einer Demonstration 1967 als Regierender Bürgermeister von Berlin (West) zurücktrat, geriet immer ins Schwärmen über Hinner Kopfs Landpartien: Es sei alles so selbstverständlich gewesen. Keine Auftritte. Als ehemaliger Pastor ums große Wort nicht verlegen, sprach Albertz von "Demokratie als Lebensform"; und dann genierte er sich ein bisschen über das Hochtrabende seiner Rede.

Gerhard Schröder trägt keine Schuld an der seither gründlich veränderten Sicherheitslage. Und auch jene Medien, die ihrer Natur nach überall dabei sein müssen, hat unser derzeitiger Bundeskanzler nicht ins Leben gerufen. Die Zeitläufte sind nicht von ihm gemacht worden, aber er verkörpert ihren politischen Stil am reinsten. Man fragt sich, wie er zurecht kommen würde mit einer Politik ohne Spektakel. Ohne jene Medien, in denen sich so beredt klagen lässt, wie lästig sie sind. Ohne Foto-Shooting beim Einkehren in einer niedersächsischen Dorfwirtschaft.

Die Inszenierung von Volkstümlichkeit. Das Volk übrigens hat sich seit Kopfs Tagen ebenso verändert wie seine stilbildenden Politiker. Wenn sie einander begegnen, Wähler und Gewählte, so kommt Publikum mit jemandem zusammen, den es aus dem Fernsehen kennt. Das ist wie ein Zuschauerplatz bei "Deutschland sucht den Superstar".

Ob Berlusconi und sein Aufstieg dem Kanzler insgeheim imponieren? Und wie hat das Ehepaar Schröder der Tochter erklärt, warum es in den Schulferien nicht nach Italien geht? Das Steinhuder Meer ist wirklich nicht dasselbe wie die Adria. Aber vielleicht offeriert Jörg Haider noch ein Urlaubsdomizil an einem Kärntner See. Es ist doch längst Gras gewachsen über die damalige demokratische Entrüstung Schröders. Ohne solchen Graswuchs wäre Europa eine Wüstenei, in der lauter Beleidigte andauernd übel nehmen. Was der inzwischen vergessene italienische Staatssekretär über die lärmenden Deutschen in Italien gesagt hat, sagen wir hier in Hamburg über die Skandinavier, wenn sie in Sankt Pauli einfallen und übermäßig Bier trinken. Und gewöhnlich sind sie auch blonder als wir. Nur so nationalistisch, wie wir gelegentlich wieder sind, wirken sie dabei nicht.

Der Bundeskanzler wird aller Voraussicht nach gut über den Sommer kommen. Das Vorziehen der Steuerreform treibt ihn im Meinungsstrom nach vorn, so wie seinerzeit, als er früher als andere in zünftiger Garderobe aufs Hochwasser blickte. Haben wir derzeit im Land einen Politiker, der ein Konzept, so er es hätte, gegen die herrschende Meinung durchsetzen, sie umkehren könnte? So, wie es einst Adenauer mit der Wiederbewaffnung und Westbindung und Brandt mit der Entspannung nach Osten hin erreichten? In Gerhard Schröders zweiter Legislaturperiode als Kanzler ist nun zuverlässig zu erkennen, dass er niemals gegen den Strom schwimmt, aber oft zögert, überhaupt ins Wasser zu gehen. Er ist längere Zeit ein Zauderer und handelt dann fast blindlings, sobald er zu wissen meint, wie beständig die herrschende politische Meinung ist. Derzeit schwimmt er wieder auf der Stimmungswelle. Er wirkt in diesem Sommer aktiv, weil er den Bundesfinanzminister in der Ferienzeit einen Plan vorlegen lässt, wie später im Jahr mit dem Geld anderer öffentlicher Einrichtungen als der Bundesregierung umgegangen werden soll.

Roland Koch, der hessische Ministerpräsident, ist kein Politiker nach meinem Sinn. Aber ich bin nicht unbeeindruckt von seinem (und Steinbrücks) unpopulärem Widerstand gegen eine erhöhte Verschuldung, mit der Schröder aus seiner demoskopischen Tiefebene zunächst einmal wieder aufs politische Mittelgebirge gelangt ist. Wird Koch, auf längere Sicht betrachtet, richtig kalkuliert haben gegenüber der angepassten Angela Merkel und Schröders Konzept des politisch momentan Gefälligen? Denn wie will der Bundeskanzler im Herbst die Bundesländer, ungeachtet der Parteizugehörigkeit ihrer Ministerpräsidenten, mehrheitlich in ihrer Haushaltsaufstellung zum Verfassungsbruch nötigen? Wenn die Blätter fallen, wird neu gerechnet werden. Und welches Kaninchen wird dann Schröder in den Zylinder springen, damit er es zur Ablenkung von seinen Rechenfehlern daraus hervorholen kann? Der Abstand zwischen den Planvorgaben aus Berlin und der Realität im Land lässt einen Hauch von Erinnerungen an die DDR durch den Sommer wehen.

Die guten Sitten im politischen Gewerbe verfallen weiter. Wie kommt Innenminister Schily dazu, öffentlich ein Urteil über die Eignung oder Nichteignung des Gewerkschaftlers Peters zum nächsten Vorsitzenden der IG Metall zu fällen? Eine praktikable Lösung von der Qualität der Lohnmodelle, wie sie Peters bei VW aushandelte, hat Otto Schily konzeptionell auf seinem Gebiet noch nicht vorzuweisen. So verfeindet Zwickel und Peters inzwischen sind, es würde sich gehören, dass der jetzige Vorsitzende Zwickel einen geharnischten Brief an Schily schreibt, in dem er dem Minister Respekt vor der Autonomie der Gewerkschaften und also Zurückhaltung in Personalfragen abverlangte. Der Bundeskanzler rät den Metallern, sie möchten so handzahm werden wie die IG Chemie: Schröder auf dem Rückweg zum Genossen der Bosse?

Ernst Jünger hat gemeint, wer sich selbst zitiere, begebe sich unter sein Niveau. Ich riskiere es. Im Freitag (Nr. 14/28. März 2003) habe ich zum amerikanischen Einfall in den Irak geschrieben: "Den Anfang eines Krieges markiert heute das Fernsehen in einer Endlosschleife. Aber wann ist ein zeitgemäßer Krieg zu Ende? Ist der Krieg in Afghanistan schon beendet? Ist der Friede eingetreten, wenn von einem Kriegstheater da und dort auf der Welt keine Bilder mehr gesendet werden? Die Bewältigung des Konflikts im Nordirak, der schon schwelt und sicherlich auflodern wird - gehört die noch zu Bushs Krieg oder lassen sich die UN diese blutige Sisyphusarbeit aufbürden? Wie frei wird die Bundesregierung in dieser Frage noch sein?" Ende des Zitats vom März.

Im Sommer nun zeigt sich, dass nicht im Norden, wo die Kurden auf ihre Stunde warten, sondern schon in Kerngebieten des Irak die Amerikaner teilweise zum Rückzug genötigt sind. Denn was ist es anderes, wenn die US-Truppen sich an den Rand einer Stadt zurückziehen, weil sie die Innenstadt nicht mehr unter Kontrolle haben? Wird dort also die NATO mit UN-Mandat einziehen müssen?

Aber nein, sagen die Gutgläubigen, von denen ich in meinem damaligen Kommentar schrieb: "Ich kenne Menschen, die glaubten, die weltweiten Demonstrationen könnten den Krieg verhindern" - aber nein, werden sie nun sagen, Deutschland wird sich abseits halten, diese Bundesregierung kann doch gar nicht anders. Welche Unterschätzung der Talente von Außenminister Fischer. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ich aus dem vorliegenden Text mich wieder selbst zitieren könnte. Aber ich will es mir nicht angewöhnen.

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