Am seidenen Faden

Zwischen Autonomie und Einheitsstaat Günther Deschner zeichnet in seinem Buch "Die Kurden" ein detailliertes Bild des Volks ohne Staat

Nach Arabern, Türken und Persern sind die Kurden das viertgrößte Volk des Nahen Ostens. Ein 30-Millionen-Volk mit einer Jahrtausende alten Geschichte und Kultur, aber ohne eigenen Staat. Kurdistan findet sich auf keiner Landkarte. "Kurdistanim ka?" - "Wo ist mein Kurdistan?" singt der berühmte kurdische Barde Sivan Perwer und rüttelt damit die Kurden immer wieder auf zum Kampf für Freiheit und nationales Selbstbestimmungsrecht, den sie gleichwohl erfolglos führen, seit ihr Land nach dem ersten Weltkrieg zerstückelt und unter den Staaten Türkei, Iran, Syrien und Irak aufgeteilt wurde.

In Die Kurden. Volk ohne Staat analysiert der Publizist und Nah-Ost-Experte Günther Deschner Gründe und Zusammenhänge für die Unterdrückung eines Volkes, dessen Ziel es einzig ist, sein politisches, wirtschaftliches, kulturelles und soziales Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Herausgekommen ist dabei eine ebenso fundierte wie spannend geschriebene politisch-historische Darstellung des Kurdenproblems - unter Bezugnahme aktueller Entwicklungen im Irak-Konflikt. Nicht zuletzt setzt die vorliegende Monographie Maßstäbe für spätere Arbeiten zum Thema Kurden und Kurdistan.

Deschner versteht sich expressis verbis als Anwalt der Kurden. Seit 1972 hat er Kurdistan mehrfach bereist, den Kampf der Kurden um Unabhängigkeit hautnah mitverfolgt und Gespräche geführt mit wichtigen Kurdenführern wie dem kurdischen Mythos Mustafa Barsani, dem Chef der Patriotischen Union Kurdistan(PUK)Dschalal Talabani sowie dem gescheiterten PKK-Führer Abdullah Öczalan. Stets wurden und werden, so seine nüchterne Bilanz, die Kurden als Bauern auf dem Schachbrett der regionalen wie auch internationalen Machtpolitik hin- und hergeschoben.

Detail- und faktenreich schildert der Autor anhand einer Fülle von Beispielen, wie Verträge, die den Kurden das Recht auf Unabhängigkeit versprachen, gebrochen wurden. Dabei spannt das Buch einen weiten Bogen von der ersten Aufteilung Kurdistans zwischen Osmanen und Persern 1639 bis hin zum "Dolchstoß aus Teheran und dem zweifachen Verrat durch Amerika" 1975 und 1991.

Vor allem die neuere Geschichte der Kurden ist reich an Aufständen und Befreiungskriegen, in denen die Kurden sich gegen Umsiedlung, Assimilierung und Vernichtung wehren und für ihre geschichtliche und politische Identität kämpfen. Deschner spricht hier von einem bis in unsere Zeit in wechselnder Intensität anhaltenden Völkermord, von der Welt kaum registriert und kritisiert. Erst die Aufhebung des Ausnahmezustands Ende 2002 bedeutete für das kurdische Südostanatolien das Ende eines 15jährigen, blutigen Bürgerkriegs. Zwar hat das türkische Parlament auf Drängen der Europäischen Union eine Reihe von Reformen wie auch kulturelle Erleichterungen für die Kurden eingeleitet. Der Widerstand der alten Machtstrukturen gegen den neuen Kurs der Regierung Erdogan ist jedoch hartnäckig, vor allem seitens des vom Militär beherrschten Nationalen Sicherheitsrat. Da wird jedes Zugeständnis an die kurdische Minderheit als Gefahr für die territoriale Integrität der Türkei angesehen. So harren noch viele Gesetze ihrer administrativen Umsetzung. Gleichwohl hat das staatliche Fernsehen vor kurzem damit begonnen, Programme in kurdischer Sprache auszustrahlen - ein zaghafter Anfang von staatlicher Seite, die Existenz einer kurdischen Minderheit anzuerkennen.

Geradezu sensationell unterdes war die Freilassung der kurdischen Politikerin und Bürgerrechtlerin Leyla Zana und drei weiterer Abgeordneter der kurdischen demokratische Partei (DEP) vor einigen Wochen, die 1994 zu 15 Jahren Haft verurteilt wurden, nur weil sie sich 1991 in der Nationalversammlung in ihrer Muttersprache auszudrücken wagten. Noch Ende April 2004 hatte ein Staatssicherheitsgericht in Ankara die 15-jährige Haft bestätigt. Ob ihre Freilassung tatsächlich Ausdruck einer grundsätzlichen Bereitschaft der Regierung ist, ernsthafte Schritte in der Kurdenfrage einzuleiten, das werden die kommenden Monate und Jahre zeigen. Sicherlich ausschlaggebend für diese überraschende Kehrtwende war einerseits Zanas Auszeichnung mit dem Sacharow-Preis für geistige Freiheit durch das Europaparlament. Zum anderen war die Freilassung Zanas eine Bedingung der EU für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei im Dezember dieses Jahres. Allein, die jüngst wieder aufflammende Gewalt in Ostanatolien sowie der von Kongra-Gel (Volkskongress) aufgekündigte Waffenstillstand mit der Türkei dürfte den traditionell mächtigen Einfluss der Generäle auf die Politik wieder verstärken.

Unterdessen hat der Krieg im Irak den jahrzehnte währenden Kampf der Kurden um Freiheit und Unabhängigkeit in den Blickwinkel der internationalen Politik gerückt. Zwar leben die Kurden im Nordirak seit dem Golfkrieg 1991 faktisch unter einem Autonomiestatut, mit eigenem Parlament und internationalen Kontakten - fast ein eigener Staat, wie Deschner feststellt. Allerdings hängt dieser, wie sich jetzt zeigt, am seidenen Faden. Die Kurden erhoffen sich in einem neuen föderalen System eine Ausweitung ihrer Autonomiezone, nicht zuletzt als Belohnung für ihre Koalitionstreue im Kampf gegen Saddam Hussein. Es geht ihnen hierbei auch um ihr historisch angestammtes Recht auf die 3000 Jahre alte - auf Ölfeldern liegende - Stadt Kirkuk, dem "kurdischen Jerusalem", als künftige Hauptstadt Irakisch-Kurdistans. Doch auch diesmal, wie schon so oft in der Vergangenheit, fürchten die Kurden verraten und im Stich gelassen zu werden.

Indes: Der erweiterte Autonomieanspruch der Kurden ist nicht nur den USA ein Dorn im Auge, die ob ihrer jüngst wieder bezeugten strategischen Allianz mit der Türkei für einen ungeteilten Irak eintreten, sondern er weckt auch Ängste in Ankara und Damaskus. Und das, so Deschner, zu Recht. Denn ein erfolgreicher Kurdenstaat im Irak würde zweifelsohne mobilisierend auf die Kurden der angrenzenden Regionen wirken. Ausführlich diskutiert der Autor die grundsätzlich unter den Kurden umstrittene Frage, inwieweit ein föderales, national begrenztes Autonomiekonzept den Menschen zwar etwas mehr Freiheit bringt, letztlich jedoch die Spaltung des kurdischen Volkes zementiert und den Traum eines kurdischen Einheitsstaates in weite Ferne rückt. Für Deschner freilich geht dieser alte, neue Traum an der politischen Realität der dem Nahen Osten immanenten nationalen, religiösen und wirtschaftlichen Spannungen völlig vorbei. Vielmehr appelliert er an die Führer und Politiker der irakischen Kurden, auf dem "gewachsenen kurdischen Potential" aufzubauen, um so zwischen Träumen und Realpolitik, zwischen Geschichte und Hoffnung, die kurdische Realität zu gestalten: Eine Realität von Freiheit und Unabhängigkeit zunächst im Irak, wegbereitend für die Kurden in der Türkei, im Iran und in Syrien.

Fazit: Die komplexe Vielfalt des Themas, Geschichte und Gegenwartsdiagnose des kurdischen Volkes, meistert der Autor in beeindruckender Weise, wobei erzählende und analytische Passagen einander gut ergänzen. Zur Kritik reizt jedoch im Wesentlichen die kategorische nationalistische Position des Autors im Hinblick auf die künftige Rolle des kurdischen Volkes im Nahen Osten. Dem Dilemma zwischen begrenzter Autonomie und Einheitsstaat versucht Deschner indes dadurch zu entkommen, indem er den kurdischen Zug auf ein Gleis setzen will, der Station für Station, Irak-Türkei-Iran-Syrien, in Richtung nationaler Selbstbestimmung fährt, bis zum Erreichen der Endstation kurdischer Einheitsstaat. Dem steht jedoch nicht nur die "kurdische Krankheit" entgegen, die notorische Uneinigkeit zwischen Führern und Stämmen, sondern auch und vor allem die realistische Gefahr eines auf nicht absehbare Zeit andauernden Konfliktherdes mit blutigen Auseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten. Dass die Kurdenfrage auf der Bühne der internationalen Politik angekommen ist, steht außer Zweifel. Freilich, einen Königsweg zu ihrer Lösung gibt es nicht, den kann auch die ebenso fundiert wie engagiert geschriebene Darstellung Deschners nicht aufzeigen. Bei alle dem bleibt, vorerst, das - leicht abgewandelte - Diktum Oscar Wildes: Eine Weltkarte, auf der das Land Kurdistan nicht eingezeichnet ist, verdient keinen Blick.

Günther Deschner: Die Kurden. Volk ohne Staat. Herbig, München 2003, 349 S.,
24,90 EUR


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