Querkopferte

Protest in München Ganz München ist von der Schickeria besetzt. Ganz? Nein! Seit Jahrzehnten hinweg leisten Münchner Widerstand. Ein A-Z des Protests in Bayerns Landeshauptstadt

Die Münchner sind Revoluzzer? Es gibt jedenfalls Querköpfe. Der Historiker Günther Gerstenberg hat im Rahmen der Veranstaltungsreihe und Ausstellung zum Themenkomplex "Protest in München seit 1945" und im Auftrag des Kulturreferats Münchens die städtische Protestgeschichte seit 1945 recherchiert. Das Ergebnis sind rund 3.000 Artikel, zusammengetragen im Online-Lexikon sub-bavaria. Eine kleine Auswahl der Texte daraus finden Sie, zudem gekürzt, in diesem A–Z.

Wenn es nach Gerstenberg geht, hat übrigens bald jede Stadt solch ein Online-Protestarchiv. Es sei "nicht schwierig und auch sehr sinnvoll, so ein Projekt anzugehen", sagt er, und wertvoll, um "etwas wie Identität zu erfahren". Also dann.


Asylpolitik, 1994 und 2009

Im Mai 1994 entsteht das erste Büro für Refugio München. "Refugio" heißt "Schutzraum". Flüchtlinge vor Verfolgung, Folter, Gewalt und Krieg erfahren hier Hilfe und Betreuung, etwa durch Psychotherapeuten und Sozialarbeiter. Und es gelingt Refugio immer wieder, Asylsuchende vor drohenden Abschiebungen zu bewahren.

2009 ist Bayern immer noch das Bundesland mit der rigorosesten Behandlung Asylsuchender. Am 22. April übergibt der Bayerische Flüchtlingsrat der Sozialministerin 3.292 Unterschriften von Einzelpersonen und Organisationen mit der Forderung nach Abschaffung der bestehenden Flüchtlingslager. Experten fordern die Aufhebung des menschenunwürdigen Asylbewerberleistungsgesetzes. Im Juni veranstaltet das Netzwerk "Deutschland Lagerland" am Stachus eine Dauerkundgebung und fordert die Abschaffung der Lagerpflicht für Flüchtlinge und ihre Unterbringung in Wohnungen.

Demonstrationsverbot, 2002

Nach den Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua 2001 kündigt das Kreisverwaltungsreferat an, die Proteste anlässlich der in München stattfindenden Nato-Sicherheitskonferenz zu verbieten.

Am Freitag, 1. Februar, versammeln sich trotzdem etwa 2.000 Menschen auf dem Marienplatz. Viele tragen Pflaster auf dem Mund, einige verteilen leere Blätter, man sieht Schilder: "Ich bin kein Demon­strant". Zum Zeitpunkt der ursprünglich geplanten Demonstration sammeln sich Menschen auf dem Marienplatz. Als die Polizei die etwa 8.000 friedlichen Demonstranten vom Platz vertreibt, bilden sie einen Demonstrationszug. 10.000 (nach Angaben des Bayerischen Rundfunks) demonstrieren trotz Verbots friedlich durch die Innenstadt, bis die Polizei Teile einkesselt und mit Gewalt auseinandertreibt (vgl. auch ➝Weltwirtschaftsgipfel, 1992). 2003 stellt das Verwaltungsgericht München im Hauptsacheverfahren fest, dass das totale Versammlungsverbot rechtswi­drig war.

Die Verbote der Demonstrationen erreichen das Gegenteil dessen, was sie vorgeblich anstreben: Erst der Maulkorb zieht die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Sicherheitskonferenz. 2003 gehen etwa 35.000 Menschen gegen die Nato-Konferenz auf der Straße. Bei massivem Polizeiaufgebot, aber ohne Verbot.

Franz Josef Strauß, 1979

Franz Josef Strauß (CSU) wird am 2. Juli zum Kanzlerkandidaten nominiert. Am 28. August gründen Jugendliche die Initiative "Rock gegen Strauß". Die will, so ein Vermerk im Stadtarchiv, "Jugendliche gegen einen Mann mobilisieren (...), der zur Symbolfigur für aggressive und reaktionäre Politik in unserem Land wurde".

Kastanie, 1997

Eine 130 Jahre alte Rosskastanie in der Maxvorstadt soll gefällt werden. Die Baumbeauftragte des Bezirks-ausschusses legt ein einseitiges Gutachten der Firma Schön vor, dem zufolge der Baum eh bald umfallen würde. Äste könnten Schulkinder erschlagen, heißt es.

Anwohnerin Helga Asenbaum ist nicht einverstanden. Sie sammelt Spenden, von denen ein anderer Gutachter bezahlt wird, der in Zusammenarbeit mit drei Leuten und einer Windsimulationsmaschine in einem 25-seitigen Papier feststellt: Die Kastanie könne gut und gerne noch zehn Jahre weiterleben.

Ladenschlusskrieg, 1953

Die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft (DAG) und die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) rufen am 13. Juni zur Kundgebung auf: für den Ladenschluss am Samstagnachmittag. Unter den Klängen des "Hohenfriedberger Marsches" setzen sich etwa 10.000 Demonstranten in Bewegung. Sprechchöre werden laut: "Wir werfen faule Eier auf Brenninkmeyer!" Die Firma C Brenninkmeyer ist gegen den freien Samstagnachmittag ihrer Angestellten. Leitende Angestellte der Firma werden erkannt und verprügelt.

Am Samstag, dem 20. Juni, halten C sowie Salamander ihre Geschäfte trotz der üblichen Ladenschlusszeit – am Samstag um 14 Uhr – bis 17 Uhr offen. Mit Karabinern und Stahlhelmen ausgerüstete Beamte liefern sich Straßenschlachten mit den Massen, die die Innenstadt blockieren. Die Demonstranten skandieren: "SS marschiert". Von den Dächern der Häuser aus wird die Polizei mit Latten, Ziegeln, Schornstein- und Dachrinnenteilen beworfen. Zuletzt erscheinen vier vollmotorisierte Hundertschaften der bayerischen Bereitschaftspolizei; die Innenstadt gleicht einem Trümmerfeld.

Den sogenannten Ladenschlusskrieg führten Gewerkschafter, deren Verbitterung über die nach 1945 eigentlich undenkbare Restauration des Kapitalismus in Militanz umschlug.

Nolympia, 2011

Die Initiative "Nolympia" listet 18 Gründe gegen Olympische Winterspiele 2018 in München und Umgebung auf (➝Olympische Spiele, 1972). Umwelt- und Naturschutz gehören ebenso dazu wie die Intransparenz des Internationalen Olympischen Komitees. Zudem wird kritisiert, dass das Hauptrisiko der Finanzlast bei den Kommunen liege. Die hochverschuldete Stadt hafte als Gesamtschuldner, wenn der Spiele-Etat ins Minus rutsche.

Es gibt zahlreiche Protestaktionen, die Initiative bekommt viel Aufmerksamkeit. Zur Demonstration am 1. März kommen allerdings nur etwa 200 Menschen.

Olympische Spiele, 1972

Die Bayerische Staatsregierung will während der Olympischen Sommerspiele in München 1972 eine Ausnahmeregelung von den gesetzlichen Ladenschlusszeiten (➝Ladenschlusskrieg, 1953) erlassen. Am 21. März protestieren mehr als 1.000 Beschäftigte im Einzelhandel dagegen. Im Mai kommt es zu ersten Protesten gegen den Einsatz der Bundeswehr bei den Spielen. Am 7. Juli erlassen die Bayerischen Staatsministerien für Arbeit und Sozialordnung sowie für Wirtschaft und Verkehr die geplanten Ausnahmegenehmigungen. Betriebsräte verhindern in einigen Geschäften die Umsetzung des Erlasses.

Die Zeitschrift Europäische Gemeinschaft fasst im Unterschied zur eher kritiklos begeisterten Lokalpresse zusammen, was eine mit der Zeit steigende Anzahl von Münchnern an der Ausrichtung der Olympischen Spielen auszusetzen hat (➝Nolympia, 2011). Es gibt etwa folgende Kritikpunkte:

Die Spiele würden die Steuerzahler mit 686 Millionen Mark belasten.

Der völkerverbindende Anspruch der Spiele kehre sich in der Realität in sein Gegenteil – im olympischen Dorf lebten die nationalen Mannschaften isoliert voneinander.

Die Spiele seien "ein Mittel für die Repräsentation politischer Strukturen, ein nützliches Vehikel für die umsatzbesorgte Wirtschaft."

Und: Das System sei undemokratisch. "Das Leben und Denken des Sportlers werden geprägt durch Fremdbestimmung: Regeln, diktatorische Trainer, Obleute, Schiedsrichter, Tatsachenentscheidungen. Widerspruch ist nicht erlaubt."

Osterdemonstrationen, 1968

Am 11. April, dem Gründonnerstag, schießt in Berlin der Münchner Arbeiter Josef Bachmann den SDS-Studenten Rudi Dutschke nieder. Vor dem "schwarzen Riesen", dem Hertie-Hochhaus an der Leopoldstraße in Schwabing, sammeln sich Hunderte. Ihr spontaner Protestzug geht zum Münchner Buchgewerbehaus, in dem die Bild-Zeitung produziert wird. Um Mitternacht wird die Bild-Redaktion von etwa 200 Demonstranten gestürmt. Die Polizei trifft erst um 1 Uhr ein.

Von Karfreitag bis Ostermontag finden gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten und der Polizei statt. Am Ostermontag werden 120 Demonstranten festgenommen. Der Fotoreporter Klaus Frings wird durch einen Steinwurf ins Gesicht so schwer verletzt, dass er zwei Tage später stirbt. Ein zweites Todesopfer ist der Student Rüdiger Schreck, der an den Folgen einer Schädelfraktur stirbt. Die Polizei schiebt die Schuld auf die Demonstranten, viele Zeugenaussagen und ein Film lassen jedoch Zweifel über die Todesursache aufkommen. Die Staatsanwaltschaft stellt 1969 die Ermittlungen ein.

Schwabinger Krawalle, 1962

Am 5. Juni soll ein Jazzkonzert um 22 Uhr beendet sein. Etwa 2.000 Studierende machen ihrem Unmut Luft und demolieren vor der Universität Fenster und Türen. Am 21. Juni spielen gegen 22 Uhr fünf Männer in Schwabing Banjos und Gitarren. Als die Polizei anrückt, gibt es Protest. Zur Verstärkung treffen zwölf Funkstreifen ein. Gegen 23 Uhr werden wahllos Anwesende verhaftet. Um Mitternacht singen und tanzen 150 Menschen auf dem Wedekindplatz. Der Polizei schallt es "Vopo, Nazistaat, Polizeistaat" entgegen. In den folgenden fünf Nächten aber liefern sich etwa 1.000 Beamte Auseinandersetzungen mit mehreren tausend (laut Polizei 30.000) Jugendlichen und Studenten. 199 Menschen werden festgenommen, unter ihnen Andreas Baader. 237 "Störer" werden angezeigt, 68 verurteilt. Gegen Polizeibeamte laufen 140 Anzeigen. Rechtskräftig verurteilt wird ein Beamter.

Die Schwabinger Krawalle zeigen, wie sehr sich Modernisierung und Strukturen gegenüber stehen. Politische Führung und Exekutive wollen Ruhe und Ordnung, die jüngere Generation ist der Reglementierungen überdrüssig.

Schwulenrepressionen, 1985

Bis Anfang der 80er Jahre ist München bei Schwulen und Lesben eine der beliebtesten europäischen Städte. Das ändert sich mit der "bayerischen Art" der AIDS-Politik. Kreisverwaltungsreferent Peter Gauweiler (CSU) entwickelt einen ersten Maßnahmenkatalog, der von der Absonderung HIV-Positiver bis zu Zwangstests reicht. Er lässt Lokale schließen, Einzelkabinen in Saunen verbieten. Nachts fahren Polizeiautos mit aufgeblendeten Scheinwerfern durch den Englischen Garten, Hunde bellen, und Schwule flüchten durchs Unterholz, um einer Razzia zu entgehen.

Schwul sein bedeutet für viele Heimlichkeit. Viele fürchten, durch ein Outing um ihre berufliche und private Existenz gebracht zu werden. Viele Schwule verlassen die Stadt. In monatlichen Treffen fangen die Schwulengruppen schließlich an, sich zu vernetzen.

Weltwirtschaftsgipfel, 1992

Im Juli ist München Tagungsort des Weltwirtschaftsgipfels der G7 (Regierungschefs und Finanzminister der sieben wichtigsten Industriestaaten). Daher findet auch der "Internationale Kongress gegen den Weltwirtschaftsgipfel 1992" statt. Bei einer Großdemonstration werden Globalisierungskritiker mit Schlagstöcken geschlagen, 500 bis 1.000 werden eingekesselt, es gibt 400 Ermittlungsverfahren. Der auch von Bürgermeister Christian Ude wahrgenommene "Münchner Kessel" geht in die Geschichte ein (vgl. auch ➝Demonstrationsverbot, 2002).

Die Eingekesselten müssen freigelassen werden, da sie keine strafbaren Handlungen begangen haben. Das von Innenminister Stoiber und Polizeipräsident angeordnete rücksichtslose Vorgehen der Polizei rechtfertigt Ministerpräsident Max Streibl so: "Wenn einer glaubt, er muss sich mit Bayern unbedingt anlegen und er muss stören, dass wir dann etwas härter durchgreifen und hinlangen, das ist auch bayerische Art. (...) Jeder muss wissen, wenn er nach Bayern kommt, dass er es eben mit Bayern zu tun bekommt."

Zensur, 1982

Am 14. Dezember wird Nummer 11 des Spion beschlagnahmt, einer Zeitschrift für München, die vor allem von Jugendlichen gelesen wird. Grund ist ein "jugendgefährdender Beitrag", in dem die Institution der Kleinfamilie kritisiert wird: Der Spion schlägt vor, mit 12 Jahren in Wohngemeinschaften zu ziehen und Liebesbeziehungen einzugehen.

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