Erdoğan gegen Sezen Aksu: Papa don’t preach

Türkei Der Präsident gibt die angesehene Sängerin nach einem Freitagsgebet zum Abschuss frei. Mit dieser Attacke greift er nicht nur die Kunstfreiheit an – es geht um sehr viel mehr
Ausgabe 05/2022
Die Musik von Sezen Aksu (hier bei einem Auftritt 2010) bewies schon immer ein feines Sensorium für die Bedürfnisse der Türkei
Die Musik von Sezen Aksu (hier bei einem Auftritt 2010) bewies schon immer ein feines Sensorium für die Bedürfnisse der Türkei

Foto: Imago/Rau

Nach einer wochenlangen Treibjagd ihrer Gegner:innen gab der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Sängerin Sezen Aksu am 21. Januar nach dem Freitagsgebet förmlich zum Abschuss frei. Ein Lied von 2017 galt plötzlich als blasphemisch, in dem Aksu singt: „Grüßt mir die unwissenden Eva und Adam [SeIam söyIeyin o cahiI / Havva iIe Âdeme]“. Aus der Gebetsnische der größten Moschee des Landes wetterte Erdoğan, niemand dürfe „die Zunge nach seiner Heiligkeit Adam strecken“ (was sinngemäß „verleumden“ bedeutet). Und weiter: „Es ist unsere Pflicht, wenn die Zeit hierfür reif ist, solche Zungen herauszureißen.“ So spricht kein moderner Staatschef, sondern ein Geistlicher, der vorzeitliche „Spiegelstrafen“ androht: Bei Diebstahl wird Schuldigen die Hand abgehackt – und bei Prophetenbeleidigung die Zunge herausgerissen. Er meint sie. Streitet dies aber später ab.

Angriffe auf Frauen nach dem Freitagsgebet sind bei Erdoğan Programm. Vergangenes Jahr ging er vor einer anderen Istanbuler Moschee die Professorin Ayşe Buğra der renommierten Boğaziçi-Universität an – auch in diesem Fall, ohne sie beim Namen zu nennen, sondern indem er ihre Stellung innerhalb der patriarchalen Familienstrukturen benannte („Die Frau der Person, die Osman Kavala genannt wird…“).

Erdoğans misogynes Beuteschema sieht so aus: Eine von der Mehrheit hochangesehene Frau und Vertreterin der laizistischen Türkei, mit großen, auch sozialen Verdiensten, wird vor der religiösen Gemeinde, aber an die gesamte Öffentlichkeit gewandt, diskreditiert und stigmatisiert. Auf diese Weise enthemmt Erdoğan seine Gefolgschaft und fordert sie auf, sich ähnlich respektlos zu verhalten. Beide von ihm angegriffenen Frauen sind mutig, eloquent und auch wachsam genug, um sich von dem Staatsoberhaupt nicht einschüchtern zu lassen, sich aber zugleich auch nicht weiteren Gefahren, wie etwa der Willkür der Justiz, auszusetzen.

Sezen Aksu steht für liberale Grundwerte

Aksu antwortet auf den Angriff als Sängerin, mit zwei neuen Liedtexten. Einer trägt den Titel Der Jäger. Darin schreibt sie: „Du kannst mich nicht aufspüren [im Türkischen spielt das Hauptverb auf ihren Vornamen an] / Du kannst meine Zunge nicht zerquetschen.“ In der letzten Zeile lässt sie wissen, dass sie bloß eine Stellvertreterin für „alle“ anderen zum Schweigen gebrachten sei. Damit bestärkt sie ihre Botschaft: Es geht um das Land, nicht um sie.

Die Regierung und ihre Anhänger:innen attackieren nicht nur die Kunstfreiheit, sondern die liberalen Grundwerte insgesamt. In den 47 Jahren ihrer Karriere verkörperte Sezen Aksu diese Werte. Ihre Musik bewies ein feines Sensorium für die Bedürfnisse ihres Landes. Die Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen schreibt in ihren Ausführungen zur Figur des Stars: „Wir haben immer schon Figuren gebraucht, die wir aufgrund ihrer Persönlichkeit, ihrer Leistungen und ihrer öffentlichen Wirksamkeit bewundern können, um somit die Wunden zu heilen und die Mängel zu glätten, die sich in jeder kulturellen Gemeinschaft ergeben.“

Sezen Aksus Musik wollte Wunden des Landes heilen. Beispielhaft sind ihr Album Işık doğudan yükselir / Ex oriente lux von 1995 und daraus die Single Ne ağlarsın („Weshalb weinst du?“). Es ist ein alevitisches Volkslied, das sie mit dem Bağlama-Virtuosen Arif Sağ sang. Sağ ist ein Überlebender des Attentats vom 2. Juli 1993 in Sivas. Während eines Festivals im Madımak-Hotel verübten konservative Sunnit:innen einen pogromartigen Angriff auf die alevitische Community, bekannten sich aber nicht dazu. 37 Menschen kamen ums Leben. Später wurden selbst ihre Gräber in Ankara geschändet. Sezen Aksu solidarisierte sich über die Musik mit ihnen.

Der britische Musikwissenschaftler Martin Stokes hebt in seinem Buch The Republic of Love (2010) den anatolischen Kosmopolitismus des Albums hervor. In den Diskursen über die Türkei zirkulierte damals die Metapher des Mosaiks. Das militante Narrativ von der Nation als einem homogenen Block wird von der Vorstellung abgelöst, dass sie sich aus vielen kleinen Steinen zusammensetzt. Anatolien, als Begriff, wird diesen komplexen Historien gerecht, die über die Einfriedungen der türkischen Nation hinausreichen. Zu einem Zeitpunkt als die kurdische Sprache umstritten bis strafbar war, sang Sezen Aksu aus Solidarität auf kurdisch.

Versteht Erdoğan die Türkei überhaupt noch?

Für die Postmigrant:innen in Deutschland verwirklicht sie eine ideale Türkei. Ihre Single Hadi bakalım („Los geht’s“) erzielt 1992 auch in Deutschland einen beachtlichen Erfolg. Fatih Akıns Dokumentarfilm Crossing The Bridge – The Sound of Istanbul (2005) entsteht im Geiste des Mosaikprinzips. Aksus Gesicht füllt am Ende des Films das Bild, als stünde es für die Stadt.

Sezen Aksu repräsentiert ein polyphones Land. Treffend schreibt Orhan Pamuk, als er sich verteidigend an ihre Seite stellt, dass sie der Stolz der Nation sei. Versteht Erdoğan überhaupt noch das Land, wenn er einer lebenden Legende der Türkei ein Schandmal zufügen will? Vielleicht ist es Zeit, dass er die Bühne räumt und Platz macht für die unvergleichliche Sezen Aksu.

Gürsoy Doğtaş forscht an der Universität für angewandte Kunst in Wien über strukturellen Rassismus im Kunstbetrieb

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