In liberalen Gesellschaften erscheint der Mensch als frei – und unterwirft sich doch täglich dem Regime eines Arbeitgebers oder Managers. Dieser zwingt ihn, sexuelle Übergriffe zu erdulden; 90 Prozent der US-Beschäftigten im Gastronomiegewerbe berichten davon. Er zwingt ihn, „sweatshopartige“ Bedingungen in südkalifornischen Bekleidungsfabriken zu ertragen. Er entwürdigt die Beschäftigten, indem er sie dazu bringt, Windeln zu tragen, weil sie keine Zeit haben, die Toilette aufzusuchen. Letzteres belegt eine neuere Studie über die Arbeitsbedingungen in der US-Geflügelindustrie. Beschweren sich die Lohnabhängigen über diese Bedingungen, droht er ihnen mit der Entlassung. Der Arbeitgeber übt mit Lohnkürzungen und Fabrikschließungen Druck auf die Menschen aus, einen politischen Kandidaten zu unterstützen. Sieben Millionen Angestellte seien, so das Resultat einer US-Umfrage, auf diese Weise ihres Rechts auf freie politische Meinungsäußerung beraubt worden.
Diese Beispiele der Demütigungen und Menschenrechtsverletzungen führt die Philosophin Elizabeth Anderson in ihrem neuen Buch Private Regierung an – und sie lassen sie zu einem drastischen Vergleich greifen: Sie bezeichnet die Unternehmer als Diktatoren, mitunter gar als „kommunistische Diktatoren“. Das mag man für gelungen halten – oder auch nicht.
Gelungen ist ohne Zweifel ihre Zeitreise in das England des 17. Jahrhunderts und in den US-amerikanischen Bürgerkrieg. „Als der Markt noch ‚links‘ war“ ist die erste von zwei im Buch dokumentierten Vorlesungen betitelt. Hier legt die an der Universität von Michigan in Ann Arbor Lehrende dar, dass in der frühdemokratischen Bewegung der Levellers der freie Markt als etwas Emanzipatorisches angesehen wurde. Von ihm erhofften sich die Egalitaristen einen Abbau der Hierarchien oder gar des Obrigkeitsstaats, der Leibeigenschaft sowie eine Zerschlagung der Zünfte. Sie zeigt, dass Adam Smith und andere Denker, die heute als Propheten des Laissez-faire-Kapitalismus angesehen werden, auch für die Freiheitsinteressen der Arbeiter empfänglich waren. Von der Marktgesellschaft erhoffte man sich die „Gesellschaft der Gleichen“. Ein jeder sollte Eigentum haben und selbstständig und frei tätig sein.
Freier Markt war mal links
Doch diese hehre Vorstellung übersah, so Andersons Argumentation, entscheidende Rahmenbedingungen. Denn es war abhängig von der patriarchalen Aneignung der Arbeit und des Landraubs an der autochthonen amerikanischen Bevölkerung. Und spätestens mit der Industriellen Revolution war es aus mit dem Traum von der wirtschaftlichen Selbstständigkeit. Großunternehmen fegten die Kleinproduzenten hinweg. Immer mehr Menschen hatten nichts zu verkaufen als ihre Arbeitskraft.
Nichtsdestotrotz: Das Ideal der freien Märkte, einst ein Anliegen der Linken, hat sich bis heute erhalten, gerade in den USA. Dort findet man den Glauben an die Marktgesellschaft kombiniert mit dem Egalitarismus. Viele Manager verstehen sich dort als marktradikale Libertaristen, die erstaunt wären, würde man sie mit einem Diktator vergleichen. Aber diese Ideologie ist ein Überbleibsel, das nichts mehr mit den tatsächlichen sozialen Verhältnissen zu tun hat. Das Ergebnis: Bis heute arbeiten wir mit einem Modell unserer Welt, das die Beziehung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausspart, so Anderson.
Wie dieses Verhältnis aussieht, damit beschäftigt sich Anderson in ihrer zweiten Vorlesung. Hier erläutert sie zunächst, was sie unter „privater Regierung“ versteht. Kurz gesagt: eine willkürliche, nicht rechenschaftspflichtige Autorität. Wichtig ist hierbei, Regierung nicht mit Staat gleichzusetzen. „Regierung existiert überall dort, wo einige in einem oder mehreren Lebensbereichen über die Autorität verfügen, anderen Weisungen zu erteilen, die von Sanktionen gedeckt sind“, stellt Anderson fest. Privat ist die Regierung dann, wenn das Kind, der Lehrling oder der Arbeiter kein Mitspracherecht dabei hat, wie die Regierung, also die Eltern, der Meister oder der Unternehmer, über ihn herrscht.
Andersons Argumentation ist durchaus schlüssig. Wir haben es ohnehin nicht mit neuen Erkenntnissen zu tun, sagt die Autorin selbst. Die Arbeiterbewegung hat stets die Tyrannei der Unternehmer angeprangert, die Gewerkschaftsbewegung sich für Mitbestimmung und Demokratie am Arbeitsplatz eingesetzt. Dass ihre Stimmen heute kaum noch hörbar sind, liegt an der Schwächung dieser Bewegungen. Anderson will ihnen mit ihrem Buch zur Seite springen und dafür sorgen, dass wieder Fragen der Autorität und Kontrolle am Arbeitsplatz auf die Agenda kommen.
Politisch ist ihr Plädoyer zu begrüßen, intellektuell macht sie den ungünstigen politischen Bedingungen allerdings zu viele Zugeständnisse. Möglicherweise, um überhaupt wahrgenommen zu werden. So plädiert sie keineswegs für die Abschaffung privater Regierungen in den Arbeitsverhältnissen, sondern tritt für öffentliche, rechenschaftspflichtige Regierungen ein. Als Beispiel dient ihr das deutsche Mitbestimmungsmodell. Dieses hat indes die Schwächung der Arbeiterbewegung nicht aufhalten können. Im Gegenteil: Es war, so wird argumentiert, als Befriedungsinstrument eine Voraussetzung dafür.
Des Weiteren ist zwar Andersons Kritik richtig, wonach liberale Denker eine Hälfte der Ökonomie nicht wahrnehmen, jene nämlich, die sich jenseits des Marktes abspielt, nachdem der Arbeitsvertrag geschlossen ist. Aber sie geht kaum auf Marx ein, der diesen Aspekt viel tiefgründiger kritisierte. In der Sphäre der Produktion vollzieht sich Marx zufolge die Aneignung von Mehrarbeit und Mehrwert. Die Produktion ist die Sphäre der Ausbeutung. Freiheit und Gerechtigkeit am Arbeitsplatz – diese Fragen sind ohne die der Mehrwertaneignung ungenügend diskutiert.
Info
Private Regierung. Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden) Elizabeth Anderson Karin Wördemann (Übers.), Suhrkamp 2019, 259 S., 28 €
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