„Klimaneutralität gibt es nur auf dem Papier“

Interview Eva Rechsteiner warnt davor, das Schönrechnen von CO2-Emissionen für Klimapolitik zu halten
Ausgabe 04/2021
„Klimaneutralität gibt es nur auf dem Papier“

Foto: Thomas Pirot für der Freitag

Im Juni 2020 hat das UN-Klimasekretariat die internationale Kampagne „Race to Zero“ ausgerufen. Ihr Ziel: die CO2-Emissionen bis 2050 auf Netto-Null zu senken, also Klimaneutralität zu erreichen. Dem haben sich zahlreiche Unternehmen, Investoren, Städte und Regionen angeschlossen. Insgesamt decken sie fast ein Viertel der globalen CO2-Emissionen und über die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts ab. Doch was heißt Klimaneutralität? Netto-Null meint ja eben nicht null Emissionen, sondern nur den Ausgleich von Emissionen durch „negative Emissionen“, durch Zertifikatehandel und Kompensation. Ist dieser Ansatz der „Klimaneutralität“ dann überhaupt ein taugliches Klimaschutz-Instrument? Eva Rechsteiner hat gehörige Zweifel.

der Freitag: Frau Rechsteiner, die Begriffe „klimaneutral“ und „Klimaneutralität“ sind seit einiger Zeit allgegenwärtig. Man kann klimaneutral bei Shell tanken, klimaneutrale Milch im Supermarkt kaufen, und fast täglich bekennt sich ein weiterer Staat, ein Unternehmen oder eine Stadt dazu, in wenigen Jahrzehnten klimaneutral zu werden. Wird Klimapolitik jetzt endlich ernst genommen?

Eva Rechsteiner: Nein, das sind nur Versprechungen für eine ferne Zukunft. Wenn die EU und China in 30 beziehungsweise 40 Jahren wirklich keine CO2-Emissionen mehr ausstoßen möchten, müssten sie jetzt schon ambitionierte Klimaschutzmaßnahmen ergreifen. Das passiert aber nicht.

Also wäre es besser, die Klimaneutralität oder die „Netto-Null-Emission“ schon bis 2025 beziehungsweise bis 2035 zu erreichen, wie das die neuen klimapolitischen Bewegungen Extinction Rebellion beziehungsweise Fridays for Future fordern?

Die Forderungen nach vorgezogenen Zielen sind gut, da sie den Druck auf die Politik erhöhen, reichen aber auch nicht. Denn das Problem ist das Ziel Klimaneutralität an sich. Es baut darauf auf, dass Treibhausgase Priorität haben vor Biodiversität, sauberer Luft und Wasser, Lärmschutz und Gesundheit. Andere Indikatoren wie Geschlechtergerechtigkeit und Ressourcenschonung werden zu „co-benefits“ heruntergestuft.

Was ist schlecht daran, wenn das Tanken mit einem Beitrag verbunden ist, der die Aufforstung von Wäldern in Peru oder Indonesien finanziert, wodurch Emissionen ausgeglichen werden?

Es besteht die Gefahr, dass die Emissionen zwar bilanziell, sprich: auf dem Papier gesenkt werden, ohne aber in der Realität weniger geworden zu sein. Nehmen wir das Beispiel Aufforstung. Hier stellt sich die Frage der Dauerhaftigkeit. Wenn der Wald zyklisch abgeholzt und wieder neu aufgeforstet wird, ist der Wert der Bilanz null. Außerdem ist ein aufgeforsteter Wald anfälliger für Waldbrände, Dürre und Schädlinge als ein langsamer und natürlich gewachsener Wald. Dadurch besteht die Gefahr, dass der Wald schnell wieder zerstört und das gebundene CO2 wieder frei wird. Eine Senkenwirkung ist damit immer nur temporär. Und es kommt noch etwas anderes hinzu: Es gibt viele Beispiele dafür, dass Aufforstungsprojekte von Unternehmen oder Staaten im Globalen Norden Landnutzungsrechte von indigenen Völkern in Frage stellen. Teils werden sie vertrieben.

Konzerne und Staaten rechnen sich ihre Klimabilanz also einfach schön, ohne dass Emissionen tatsächlich verringert werden?

Ja, diese Gefahr besteht. Das Hauptproblem der Klimaneutralität ist, dass Staaten oder Unternehmen mit ihr ein Instrument gefunden haben, mit dem sie Emissionen vor Ort nicht oder nicht relevant senken müssen, sondern sie durch eine vermeintliche Reduktion in anderen Ländern – meist im Globalen Süden – „neutralisieren“ können. So setzen Unternehmen wie Daimler oder Audi zur Erreichung der Klimaneutralität größtenteils auf eine Verrechnung der Kohlendioxid-Emissionen mit Ausgleichszertifikaten oder Ökostrom. Bilanziell führt dies zu „Netto-Null“-Emissionen, während vor Ort immer noch genauso viel Kohlendioxid ausgestoßen wird. Die CO2-Einsparung durch sogenannte Kompensationsprojekte in anderen Ländern ist zudem deutlich geringer, als suggeriert oder berechnet wird.

Zur Person

Eva Rechsteiner hat Politikwissenschaft in Passau sowie Umwelt- und Energiemanagement an der Universität Twente in den Niederlanden studiert. Sie arbeitet seit 2014 am Institut für Energie- und Umweltforschung in Heidelberg, im Bereich „Kommunaler Klimaschutz“. Ihr Schwerpunkt sind die Energie- und CO2-Bilanzierung von Städten und die Umsetzung von lokalen Klimaschutzkonzepten. Sie engagiert sich in der Klimagerechtigkeitsbewegung und berät Fridays for Future

Kritik an den sogenannten Kompensationsprojekten oder am Offsetting gibt es schon länger.

Allerdings. Immer wieder zeigen Studien, dass viele Projekte auch ohne Kompensationsinvestitionen umgesetzt worden wären. Die Kompensationsmaßnahmen erfüllen also selten das Kriterium der Zusätzlichkeit. Manche Projekte wurden bereits vor Jahren umgesetzt und im Nachhinein angerechnet, oder Emissionen wurden im Vorfeld künstlich nach oben getrieben. Kompensationsprojekte führen somit selten dazu, dass Emissionen eingespart werden, aber häufig dazu, dass Menschen im Globalen Süden von Industrieländern weiter bevormundet werden.

Aber es gibt doch auch zertifizierte Kompensationsprojekte, die genau das ausschließen wollen.

Die gibt es. Der Goldstandard ist zum Beispiel eine Zertifizierung, die den Ausschluss von Großprojekten wie Staudämmen, Aufforstungs- oder Industriegasprojekten und die Forderung nach Zusatznutzen wie Einkommenssteigerung oder Biodiversität beinhaltet. Aber auch bei Projekten mit hohem Standard liegt der CO2-Preis pro eingesparter Tonne laut Umweltbundesamt nur bei zwei bis 23 Euro pro Tonne. Um die tatsächlichen Umweltfolgekosten zu internalisieren, ist dies viel zu niedrig. Das Umweltbundesamt empfiehlt 195 Euro pro Tonne. Und hinzu kommt: NGOs wie Friends of the Earth, Climate Justice Now oder das World Rainforest Movement kritisieren auch zertifizierte Kompensationsprojekte als „Feigenblatt im Kohlenstoffmarkt“. Sie würden eingefahrene Muster des Kapitalismus, Kolonialismus und des Patriarchats aufrechterhalten.

Verstehe ich Sie richtig? Klimaneutralität ist nur Greenwashing und ein besonders raffinierter Mechanismus, um die Ausbeutung des Globalen Südens durch den Globalen Norden aufrechtzuerhalten?

Zugespitzt könnte man es so nennen. Auf jeden Fall suggeriert das Erreichen des Klimaneutralitäts-Ziels, dass wir unsere imperiale Lebensweise und unser Konsumniveau fortführen können wie gehabt. Statt sich um CO2-Reduktionen vor Ort zu bemühen, wird bilanziert und kompensiert – oft auf dem Rücken der Menschen im Globalen Süden, die ja schon von den Folgen des Klimawandels ungleich stärker betroffen sind als wir im Norden. Mit den Prinzipien der Klimagerechtigkeit ist die „Klimaneutralität“, wie sie derzeit umgesetzt wird, quasi unvereinbar.

Quasi?

Nun, wenn klare Kriterien aufgestellt werden, die den Missbrauch der Klimaneutralität verhindern, sieht es natürlich etwas anders aus. Ein gutes Beispiel dafür ist der Antrag der örtlichen Fridays-for-Future-Gruppe an den Konstanzer Gemeinderat, der den Ausschluss von Kompensationsprojekten im Globalen Süden und enge territoriale Systemgrenzen vorsieht. Auch die Ortsgruppe in Münster hat bereits Kriterien zur Klimaneutralität aufgestellt.

Wie kommt es, dass der Begriff der Klimaneutralität so selten kritisch hinterfragt wird und sich selbst Fridays for Future und Extinction Rebellion überwiegend positiv auf ihn beziehen?

Oft fehlt das notwendige Hintergrundwissen. Damit man die Schlupflöcher der Klimaneutralität versteht, muss bekannt sein, wie Staaten, Kommunen und Unternehmen ihre Klimabilanz errechnen. Das zeigt auch das Beispiel Ökostrom. Den beziehen viele Bürger*innen und denken, dass es sich um Strom aus erneuerbaren Energien handelt. In Wirklichkeit steckt dahinter ein europäischer Zertifikatehandel, der in keiner Weise den Ausbau erneuerbarer Energien fördert. Und Netto-Null-Emissionen klingt ja auch erst mal so, als würden Emissionen reduziert werden.

Müssten Fridays for Future und Extinction Rebellion also ihre Forderungen umschreiben? Sollten Klimagerechtigkeitsgruppen in Zukunft die Kritik an der Klimaneutralität ins Zentrum ihrer Arbeit rücken?

Die Maßnahmen, für die wir uns entscheiden, orientieren sich an unseren Zielen. Setzen wir das Ziel der Netto-Null-Emissionen, ergreifen wir Maßnahmen, die vornehmlich die CO2-Reduktion anvisieren. Und das läuft derzeit verstärkt auf Kompensation oder Carbon Capture and Storage (CCS), also auf die Entziehung von Treibhausgasen aus der Atmosphäre, hinaus. Wählen wir andere Ziele – etwa das Ziel der Defossilisierung –, würden sich unsere Maßnahmen verstärkt auf die Reduktion von fossilen Energien konzentrieren – ohne Schönrechnerei.

Ist es nicht auch logisch unmöglich, das Prinzip der Klimaneutralität zu verallgemeinern? Man kann doch nicht auf Kosten des Auslands klimaneutral werden, wenn alle Staaten und Konzerne klimaneutral werden müssen.

Wenn alle Staaten über Kompensation klimaneutral werden wollen, braucht es ein Außen. Denn wo sollte das letzte Land, das noch Emissionen hat, seine Emissionen kompensieren? Möglich wäre es nur, wenn Carbon Capture and Storage eingesetzt wird. Dadurch können „negative“ Emissionen angerechnet werden. Allerdings ist CCS ein energieintensives und sehr teures Verfahren, das Kohlendioxid aus Produktionsanlagen abscheidet und es unter hohem Druck unterirdisch ablagert. Neben dem erhöhten Energieaufwand für die Abscheidung, den Transport und die Speicherung entstehen zudem Risiken für das Grundwasser und den Boden, vor allem durch Leckagen von CO2. Und auch hier zeigt sich: Klimaneutralität setzt auf End-of-Pipe-Techniken, bekämpft nur die Symptome und ist damit ein begrenzter Ansatz dafür, das viel größere Problem anzugehen: mit der Verbrennung von fossilen Brennstoffen aufzuhören.

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