In ein Geschichtsbuch hat Friedrich Merz es schon geschafft: Aber es ist keine rühmliche Erwähnung, die ihm in dem Buch Der Aufsteiger des Heidelberger Zeithistorikers Edgar Wolfrum zuteil wird. In seiner Geschichte Deutschlands von 1990 bis heute kommt der derzeit als heißer Kandidat für den CDU-Vorsitz gehandelte Politiker in dem Kapitel über den Aufstieg der Rechtspopulisten vor.
Der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende im Bundestag war es, der mit seiner Attacke gegen die rot-grüne Bundesregierung und ihre Reform des Staatsbürgerrechts den Streit um die „deutsche Leitkultur“ anstieß – und das mit ordentlich Polemik, wie sein Beitrag in der Welt von Ende Oktober 2000 zeigt: „Schweinebraten statt Döner, Deutschtümelei,
tatt Döner, Deutschtümelei, Biedermeier, fünfziger Jahre – Rassismus! Kein Vorwurf aus dem wohlbekannten Arsenal der political correctness und der Gutmenschen in diesem Land, der nicht erhoben wird.“Wolfrum wertet die Leitkultur-Debatte der frühen 2000er-Jahre der Berliner Republik als Faktor, der den Aufstieg der Rechten im Allgemeinen und der AfD im Besonderen ermöglicht hat. Er zitiert Stimmen wie die des ehemaligen Präsidenten des Goethe-Instituts, Hilmar Hoffmann, der den Leitkultur-Begriff als verheerend bezeichnete und davor warnte, dass damit der rechten Klientel das Feld bereitet werde. Oder Paul Spiegel, seinerzeit Vorsitzender des Zentralrats der Juden, der die Politiker aus der Union dazu mahnte, ihre „populistische“ Sprache zu zügeln.Zwar verpuffte die Leitkultur-Debatte nach dem Ende der rot-grünen Koalition 2005 rasch. Aber, so Wolfrum: „Die Ruhe erwies sich ... als trügerisch, denn die extreme politische Rechte bemächtigte sich des Begriffs ‚Leitkultur‘, versah ihn mit dem Ruf nach Zucht und Ordnung und reicherte ihn um rassistische und antisemitische Elemente an.“Keine ganz neue Erkenntnis. Aber man freut sich, sie auf diese Weise im ersten historischen Abriss der letzten drei Jahrzehnte der Berliner Republik vorzufinden. Zumal Wolfrum noch weitere Faktoren für die „populistische Revolte“ – etwa die „dreißigjährige radikalliberale Politik“ – mit dem nüchternen Blick des Historikers herausstellt, der jenseits der Hektik der Tagespolitik in der Retrospektive die langen Linien des Geschichtsverlaufs herauszuarbeiten vermag.Das gelingt Wolfrum in den meisten seiner zwölf Kapitel auch. In diesen geht es unter anderem um den von einigen Staaten mit Furcht beobachteten Aufstieg Deutschlands zum „europäischen Hegemon“, um die Rückkehr des Krieges, die innere Einheit, die Finanzkrise von 2008, die Expansion der EU sowie um die so genannte Flüchtlingskrise, um den Klimawandel und die Digitalisierung. Einigen Ausführungen Wolfrums, zu Big Data etwa, kann man indes als aufmerksamer Zeitungsleser nicht viel Neues abgewinnen.Öl ins jugoslawische FeuerBei den anderen Themen macht es aber gerade den Reiz dieses Buches aus, Ereignisse wie den Kosovo-Krieg oder die Agenda 2010, die viele Leser seinerzeit als Zeitgenossen aktiv verfolgt haben dürften, nun in der Rückschau eines Historikers dargestellt zu bekommen. Insbesondere dann, wenn der Autor dies so gut geschrieben und abwägend zu präsentieren weiß wie Wolfrum.Meist referiert er pointiert verschiedene Ansichten zu umstrittenen Themen. Ein Beispiel sind die Sicherheitspakete, die als Reaktion auf 9/11 verabschiedet wurden. Der Autor erwähnt die Kritik von Bürgerrechtsorganisationen, die die Aufkündigung der strikten Trennung von Geheimdiensten und Polizei als elementares Prinzip der Gewaltenteilung befürchteten. Andererseits verweist er aber ebenso auf das so genannte – und umstrittene – Untermaßgebot, wonach der Staat dazu verpflichtet sei, seine Bürger zu schützen, etwa vor Terroranschlägen. Dieses Abwägen kann freilich auch als Nachteil empfunden werden, denn Wolfrum vermeidet mitunter klare Positionen.Augenfällig ist das bei der Bewertung der raschen deutschen Anerkennung von Kroatien und Serbien Anfang der 1990er-Jahre, die Vielen als wichtiger Faktor für den Ausbruch der jugoslawischen Bürgerkriege gilt. Wolfrum erwähnt diese Kritik, lässt aber offen, ob die deutsche Politik sich damit mitschuldig gemacht habe – nur, um einen Satz später zu schreiben, dass die „Internationalisierung der Jugoslawienkrise nicht zur erhofften Befriedung“ führte, sondern so wirkte, „als hätte man Öl ins Feuer gegossen“.Bei der Darstellung des Kosovo-Krieges, des ersten Kriegseinsatzes der Bundesrepublik also und mithin Ende der Nachkriegszeit, folgt Wolfrum zudem zu sehr der Mainstream-Perspektive, wonach die Befürworter mit ihrem Bestreben, ein neues Auschwitz zu verhindern (Joschka Fischer), „das stärkste Argument“ hatten. Das Argument vieler Kritiker, dass die Lage sich kurz vor Beginn des Krieges einigermaßen beruhigt hatte und die NATO-Bomben eine viel größere humanitäre Katastrophe auslösten, wird unterschlagen. Und das, obwohl sich in der umfangreichen Literaturliste ein Buch des damaligen OSZE-Beobachters im Kosovo, General Heinz Loquai, findet, wo man dies im Einzelnen nachlesen kann.Wolfrums Sicht auf die letzten 30 Jahre deutscher Politik ist dennoch oft deutlich kritischer als die meisten Darstellungen. So kritisiert er die sozialen Verwerfungen, die das durch Kanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble durchgesetzte Spardiktat in Europa zur Folge hatte, und moniert die deutsche Exportorientierung ebenfalls als krisenverschärfend. Hart geht er überdies mit der auch von Deutschland maßgeblich mitgetragenen europäischen Migrationspolitik ins Gericht. Jede politische Freude über den Rückgang von Flüchtlingszahlen sei zynisch. „Denn wer zählt die im Mittelmeer, dem größten Friedhof Europas, Ertrunkenen?“Obwohl der Verfasser Sympathien für die rot-grüne Regierungszeit von 1999 bis 2005 hegt, fällt Wolfrums Bilanz der Agenda 2010 gemischt aus. Kritisiert werden die Hartz-IV-Gesetze, weil durch sie ein Niedriglohnsektor geschaffen wurde, ohne Flankierung durch einen Mindestlohn, und weil die Regelsätze keine würdevolle Existenz gewährleisteten. Warum aber übernimmt der Autor unkritisch das neoliberale Gerede vom Reformstau, der der Agenda 2010 vorausging? Und wie ist ein Satz wie dieser hier zu verstehen? „Deutschland wurde fit gemacht für das 21. Jahrhundert.“ Ja, für die Exportwirtschaft mag das gelten, aber für wen noch?Edgar Wolfrum hat bereits ein Buch über die frühere BRD-Geschichte mit dem Titel Die geglückte Demokratie vorgelegt. Auch den Nachfolgeband hat er mit einer optimistischen Grundhaltung verfasst. Doch in seine positive Bewertung mischten sich „zahlreiche Misstöne“, schreibt er. An vielen Stellen hätten diese gerne auch schriller ausfallen können.Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.