Vor lauter Faschismus-Geschrei wird das Hauptergebnis übersehen: 18 Millionen Italiener haben gewählt, nicht zu wählen. Der historische Rekord kommt nicht überraschend, er bestätigt einen langfristigen Trend, der sich zumindest in Südeuropa immer mehr verstärkt: Wird einmal berücksichtigt, dass auch Trägheit eine Kraft ist, werden die Nichtwähler zur größten politischen Kraft. Nach den jüngsten Urnengängen zu urteilen ist ihr Anteil in Italien einen Tick größer als in Spanien, dafür niedriger als in Griechenland. Auch in Frankreich haben bei der letzten Präsidentenwahl 17 Millionen nicht oder ungültig gewählt, obwohl auch dort die faschistische Gefahr an die Wand gemalt worden war.
So gesehen
So gesehen lässt sich der Rechtsruck etwas relativieren: Nur einer von sechs Wahlberechtigten hat für Fratelli d’Italia gestimmt. Siegerin ist die Partei, weil die anderen noch schlechter abgeschnitten haben. An die Macht kann sie kommen, weil, anders als in Frankreich, zwei angeschlagene Parteien willig sind, mit ihr zu koalieren. Ähnlich wie vor vier Jahren die Eintagsfliege Cinque Stelle ist Meloni vor allem aus einem Grund gewählt worden: Sie war die einzige, die die eigene Korrumpiertheit noch nicht unter Beweis stellen durfte – Le Pen hat das bereits hinter sich. Gerade deshalb nehmen viele Italiener die Ergebnisse gelassen: Sie rechnen damit, dass die neue Mannschaft wie die vorherigen nur so lange an der Macht bleibt, bis sie lukrative Posten an ihre Freunde verteilt, eine Klientel aufgebaut und sich genug Geld in die Taschen gesteckt hat. Die vertraute Commedia der Politik.Hundert Jahre nach dem Marsch auf Rom ist kein erneuter Ansturm der Schwarzhemden zu befürchten. Mit Mussolini verbindet Meloni so viel wie Rosa Luxemburg mit Bodo Ramelow, nämlich kaum mehr als ein nostalgisches Zitat.Die tatsächliche Toxizität der europäischen Rechten besteht in etwas anderem. Sie halten den Bürgern einen Zerrspiegel der realen Missstände vor, die Jahrzehnte des neoliberalen Regierens verursacht haben. Wo doch die Prekarisierung eine massive Auswanderung der italienischen Jugend verursacht, wird Einwanderung als Grundübel dargestellt. Während zusammen mit der Wirtschaftskraft die Geburtenrate dramatisch sinkt und die Bevölkerung vergreist, soll das Recht auf Abtreibung eingeschränkt werden. Und es ist eine böse Ironie, dass die antifeministischen Rechten dort erfolgreich sind, wo sie von einer Frau geführt werden.Allseits wird der Begriff „postfaschistisch“ verwendet, ein bedeutungsfreies Wort, das nur eines bestätigt: Wir befinden uns längst in einer postpolitischen Zeit, wo althergebrachte Kategorien nicht mehr taugen. Die Zäsur fand bereits vor dreißig Jahren statt, als Silvio Berlusconi das Land in einem Schlamm aus Zynismus, vulgärer Unterhaltung, gefälschten Fakten und Prostitution ertränkte. Postpolitik wird dann zur Notwendigkeit, wenn dem Wirtschaftsliberalismus jedes rationale Argument ausgeht. Sowohl die Wahl nationalistischer Parteien als auch die massive Wahlenthaltung haben einen gemeinsamen Ursprung: Die Überzeugung, dass die Regierungen das Sagen sowieso nicht mehr haben, weil sie von EU und den Finanzmärkten bevormundet werden. Ein Gefühl, das durch die paternalistischen Reaktionen deutscher Stimmen zur Wahl – „Nach all dem, was wir für sie getan haben!“ – nur verstärkt werden kann. Heute, kommentiert der italienische linke Theoretiker Franco Berardi, sei die einzige Alternative zum Faschismus die Finanzdiktatur. „Post“ ist der Faschismus deswegen, weil er sich (von Syriza- wie Brexit-Desaster instruiert) davor hüten wird, EU und Finanzmärkte herauszufordern.Offensichtlich bestätigt das italienische Beispiel die Diskreditierung linker Kräfte. Was die Partito Democratico wie ihre sozialliberalen Entsprechungen in Nachbarländern betrifft, kommt das nicht überraschend. Waren sie doch für die Prekarisierung aller Lebensverhältnisse maßgeblich mitverantwortlich. Gefangen im Strudel der Postpolitik sind ebenfalls die sich gegenseitig zerfleischenden Postsozialisten und Postkommunisten, unfähig, eine zeitgemäße, kohärente Alternative glaubhaft darzustellen. An der Herkunft der Nichtwähler lässt sich ablesen, welche Schichten die Regierungslinke aufgegeben hat: Niedrigverdiener, junge Menschen, Bewohner des Südens und der Peripherien.Dabei darf nicht übersehen werden, dass ausgerechnet in den wahlmüden Ländern Südeuropas emanzipatorische Basisbewegungen eine Dynamik vorweisen, von der Deutsche nur träumen können. Angesichts der sich anbahnenden Vertiefung der Wirtschaftskrise dürfte sich die Opposition viel mehr auf der Straße als im Parlament abspielen. „Niemand kann das Chaos regieren“, schreibt Berardi, „und Chaos wird im kommenden Winter König sein“. Geschätzt wird, dass ein Drittel der Italiener die Strom- und Gasrechnung nicht zahlen können wird. Vorige Woche war auf römischen Wänden die Parole zu lesen: „Wählen bringt nichts, Nichtwählen reicht nicht.“Placeholder infobox-1