An Krisen mangelt es uns nicht, zumindest wenn wir uns auf die Diagnosen verlassen, die aus Feuilletons, Sachbüchern und sonstigen Hörrohren der Gegenwart kommen. Die häufigste und hartnäckigste Erscheinung davon ist sicherlich die "Krise der Arbeitsgesellschaft". Sie ist zu einem geflügelten Wort geworden, das ohne weiteres Nachdenken angewandt wird. Jedoch ist die Relevanz des Ausdrucks alles andere als selbstverständlich. Im ursprünglichen Sinne ist ja eine Krise das "entscheidende Moment" einer Krankheit, das entweder zum Tod oder zur Heilung führt, jedenfalls das Gegenteil eines stationären Zustands. Also scheint der Begriff eher unangebracht zu sein, um ein Phänomen wie die Massenarbeitslosigkeit zu erfassen, die bereits über ein Vierteljahrhundert andauert. Zumal in absehbarer Zukunft weder mit einem Ende noch mit einer Lösung zu rechnen ist. Es ist übrigens nicht die Tatsache selbst, sondern die Unfähigkeit, mit ihr umzugehen, die meistens als krisenhaft beschrieben wird. Zum Beispiel die Neigung, in den Kategorien von 1930 zu denken, als Arbeitslosigkeit tatsächlich das Ergebnis einer Krise, eines plötzlichen Wirtschaftsabsturzes war. Offensichtlich ist die gegenwärtige Situation eine ganz andere. Man muss nur die Aktienkurven und Gewinne der letzten Jahre anschauen. Global players erleben keine Krise. Und alle wissen es doch: Die Tatsache, dass die Bedingungen der arbeitenden Bevölkerung sich verschlechtern und dass Millionen als überflüssige Masse behandelt werden, ist keinem temporären Ausnahmezustand zuzuschreiben, sondern die Folge einer strukturellen Entwicklung. Es ist ein langes Ach ohne Krach.
Diese Situation bedingt die Kritik auf eine doppelte Weise. Da die Kritiker im Gegensatz zu 1930 keinen baldigen Zusammenbruch des Kapitalismus prophezeien können, müssen sie sich mit bescheidenen Lösungsvorschlägen begnügen. Derweil stehen die klassenlose Gesellschaft und die Abschaffung des Geldes nicht zur Verfügung. Andererseits werden sie von der Kluft zwischen Wirtschaft und Gesellschaft, die immer tiefer und offensichtlicher wird, zu radikalen Konzepten gezwungen. Für belanglose Reformen sorgt bereits die etablierte Politik. Bescheidenheit und Radikalität werden zu einem entsprechend ambivalenten Cocktail vermischt, welcher je nach politischer Ausrichtung als soziales Grundeinkommen, Existenzgeld oder Bürgergeld in Umlauf gebracht wird. Jedenfalls stammen alle Nuancen aus derselben logischen Überlegung: Wenn immer mehr Gewinne mit immer weniger Arbeitskräften erzeugt werden, dann soll doch Einkommen von Arbeit getrennt werden. Jeder Bürger sollte einen Teil des Geldkuchens automatisch bekommen, um die Waren kaufen zu können, die ohne sein Zutun hergestellt wurden, und um sich außerdem selbst zu verwirklichen.
Um es gleich klarzustellen: Ich habe nichts gegen die Vorstellung einer gesicherten Geldeinnahme an sich, zumal ich sie persönlich gut gebrauchen könnte. Ohnehin ist es nicht so wichtig, ob einer dafür oder dagegen ist, weil eine Umsetzung der Agenda der real existierenden Politik ferner denn je steht. Zwar hat sich der Bundespräsident neulich für ein gesellschaftliches Grundeinkommen ausgesprochen, allerdings "nach dem Vorbild der USA", was die Empfehlung sofort weniger schmackhaft macht. Auch durch das aktuelle Programm der FDP geistert ein "Bürgergeld", doch wohl nicht bedingungslos, sondern damit "die Fleißigen vor den Faulen geschützt werden". In der Linkspartei/PDS ist der Versuch eines "losen Netzwerkes", die Idee mehrheitsfähig zu machen, bisher erfolglos geblieben. Also selbst wenn eine links-gelbe Koalition die absolute Mehrheit im Bundestag ergattern würde, eine Entkoppelung von Arbeit und Einkommen wäre nicht gewonnen. Damit nicht genug: Angenommen, eine völlig erneuerte politische Klasse hätte die Aufrichtigkeit und den Mut, ihre Versprechen wahr zu machen und den Konflikt mit den Wirtschaftslobbies zu wagen, angenommen, das Experiment würde nicht gleich von gekauften Medienmachern torpediert und angenommen, die hiesigen Unternehmer würden aus Gerechtigkeitsliebe auf höhere Gewinne verzichten, wie könnte dann die Bürgergeldgesellschaft gegen Wachstumsdruck und billige Konkurrenz aus der übrigen globalen Welt standhalten? Kurz gesagt, so bescheiden und logisch sie auch sein mag, unter den gegebenen Zuständen ist die Idee radikal genug, um utopisch zu bleiben. Trotzdem (und vielleicht deswegen) scheint sie immer beliebter zu werden.
Ich werde hier also nicht zum erneuten Male das Für und Wider des Bürgergelds abwägen und auch nicht andere Alternativen zur Arbeitsgesellschaft entwerfen. Wir haben jetzt genug davon und die Vorschläge, die ich machen könnte, wären genauso wenig überprüfbar wie diejenigen, die bereits kursieren. Die Fragen, die mich interessieren, sind eher diese: Auf welcher Ebene des öffentlichen Diskurses wird ein solcher Vorschlag gemacht? Außerdem: Gibt es nicht eine andere Perspektive, woraus er betrachtet werden könnte? Und überhaupt: Kann uns der Staat vor der Arbeit retten?
Von einem politischen Standpunkt aus gesehen ist das Seltsame am Grundeinkommen, dass diese Forderung nach verstärktem Eingreifen des Staates aus Ecken kommt, die sich ansonsten als antistaatlich behaupten, nämlich von Liberalen und Linksradikalen. Einer der ersten Befürworter war ja Milton Friedman, der geistige Anstifter des Neoliberalismus. Man darf vermuten, dass hier die unausgesprochene Botschaft lautet: Wir lassen die armen Schlucker, die wir nicht gebrauchen können, in Ruhe dahinvegetieren, um uns aufs Geschäft konzentrieren zu können. Ein bisschen Staat muss doch sein, um die Überflüssigen zu regulieren - immerhin ein Fortschritt im Vergleich zum großen Nationalökonom Malthus, der die "ungeladenen Gäste zum Festmahl des Lebens" einfach krepieren lassen wollte. Zeitgleich mit Friedman, doch aus der entgegengesetzten Ecke, forderten italienische Autonome, die im gleichen Atemzug dem Staat den Kampf angesagt hatten, einen "garantierten Soziallohn". Erneut verdeutlichte sich, dass an eine mögliche Umsetzung nicht ernsthaft geglaubt wurde. Es ging allein darum, die Widersprüche der Macht zu entlarven und sich populär zu machen. Seitdem hat die "emanzipatorische Linke" das Existenzgeld in ihren Wunschkatalog fest eingeschrieben und man wundert sich über die Staatsform, die das Ding gewährleisten sollte. Hingegen sträuben sich die noch existenten Befürworter des Wohlfahrtsstaates gegen bezahlte Nichtarbeit. Das ist nicht weiter erstaunlich: Traditionell geht Staatsglaube mit Arbeitsfetischismus einher.
Es gibt Ausnahmen. Zum Beispiel Wolfgang Engler, dessen Buch Bürger, ohne Arbeit zugleich Plädoyer für das Bürgergeld als auch Anklage gegen Staatshetze von rechts und links ist. Eine Zivilisierung der Marktwirtschaft könne nur mit den politischen Mitteln des Sozialstaates erfolgen, daher seien alle Vorstellungen, die von nichtstaatlichen Instanzen ausgehen, entweder untauglich oder zynisch. Um so ratloser kommt dann seine sich auf die real existierende Politik beziehende Schlussbemerkung daher: "Vom Staat ist nichts zu hoffen." Hier nun werden die "vielen Einzelnen" aufgerufen, "sich miteinander zu verbünden." Wie und mit welchem Ziel wird nicht erläutert. Aber es wäre natürlich unfair, Engler die Ratlosigkeit vorzuwerfen, die wir alle teilen. Interessanter sind die Überlegungen, die ihn zum Bürgergeld leiten. Das bedingungslose Grundeinkommen betrachtet er als ein Mittel, sogar als das Mittel zur "radikalen Neugestaltung der Gesellschaft." Vordergründig ist die Argumentation eine politisch-philosophische. Irgendwann sei das Projekt der politischen Aufklärung auf halber Strecke steckengeblieben. Mit Vorliebe werden Staatsdenker und -lenker des Ancien Régime erwähnt, einer Zeit also, in der eine aufgeklärte Elite sich gerade über Gesellschaftsgestaltung leidenschaftlich stritt. Es ginge also heute darum, das emanzipatorische Ideal zu reaktivieren und zu vervollkommnen. Denn während individuelle und politische Rechte für alle Bürger bedingungslos gelten, würden soziale Rechte nur unter einer Bedingung anerkannt: der Teilnahme am Arbeitsprozess. Allein die Einführung des Bürgergeldes würde diesen ästhetischen Fehler im Gesellschaftsvertrag beseitigen und uns alle als universelle Rechtssubjekte konstituieren. "Die kapitalistische Industriegesellschaft benötigte mehr als ein Säkulum, um den Arbeiter zum Bürger zu emanzipieren, wieviel Zeit muss vergehen, um den nächsten Schritt zu wagen, die Emanzipation des Bürgers vom Arbeiter?"
Mit dieser Argumentation kann ich mich nicht abfinden. Zum einen, weil ich im Sozialstaat groß geworden bin und ihm mit bestem Willen nicht nachtrauern kann. Dass er bessere Lebensbedingungen garantierte als die jetzige Abzockergesellschaft, ist unstrittig. Aber das ist noch kein Grund, ihn als verlorenes Paradies anzusehen. Das beste, was ich dem Sozialstaat nachsagen kann, ist, dass er es einfach machte, gegen ihn zu rebellieren. Zweitens ist mir die Sichtweise mit Kategorien der politischen Philosophie zu abstrakt. Irgendwie stehen wir immer noch bei dem alten Gegensatz zwischen den Sozialisten mutualistischer und staatlicher Prägung. Lange Zeit wurden die ursprünglichen Strömungen, die sich als sozialistisch bezeichneten, als unwissenschaftlich und unausgereift eingestuft. Erst seit dem Untergang des Staatssozialismus lebten sie von Neuem auf, und ihre Haltung mag ein anderes Licht auf unsere Gegenwart werfen.
Was ich in Einklang mit ihnen bezweifle, ist überhaupt die Möglichkeit, die Gesellschaft zu gestalten, sprich von außen her, wie der Bildhauer die Materie mit seinem Meißel modelliert, oder wie der Architekt ein Gebäude entwirft, in dem sich dann die Menschen frei bewegen werden. Die Gegenüberstellung: hier die Gesellschaft, da das Individuum, ist ein lästiges Erbe der Aufklärungsphilosophie. Um es mit dem Philosophen Alain Caillé zu sagen: "Am Anfang, das heißt immerfort, gibt es weder Individuen, noch Gesellschaften, sondern die Interaktion konkreter Menschen, die zugleich ihre Individualität, ihre Gemeinschaft und die sozialen Bedingungen ihrer Rivalitäten konstruieren". Solidargemeinschaften hatten sich selbst konstituiert, abseits von Staat und Markt. Die ersten Ansätze einer sozialen Sicherung wurden nicht von aufgeklärten Staatsmännern, sondern von Arbeitervereinigungen ins Leben gerufen. 1827 gründen die Lyoner Weber, deren Aufstand als Auftakt der Arbeiterbewegung gilt, die erste Gesellschaft zur gegenseitigen Unterstützung. Da kann natürlich erwidert werden, sie seien zur Selbstorganisation gezwungen worden, weil es eben keine staatliche Fürsorge gab. Solche Notlösungen seien dann in sozialdemokratischen Zeiten vorteilhaft ersetzt worden. Dazu eine kleine Gegendarstellung.
Am 6. September 1867 versammelten sich feierlich im großen Casinosaal von Lausanne um die hundert Männer (keine Frau war dabei), die aus allen damaligen Industrienationen gekommen waren. Die Internationale Arbeiterassoziation tagte. Zu diesem Zeitpunkt verband sie bereits Zehntausende Mitglieder, genug, um alle Regierungen Europas zu beunruhigen. Und sie war noch nicht den dogmatischen Grabenkämpfen verfallen, die zu ihrer Auflösung führen sollten. Die Frage, die auf der Tagesordnung dieser einen Sitzung stand, lautete: "Wie können die arbeitenden Klassen den Kredit, den sie Bourgeoisie und Regierungen geben, für ihre eigene Emanzipation verwenden?" Wie üblich verlief die Diskussion sehr lebhaft. Irgendwann empörte sich ein Londoner Schneider: "Es wird nichts Praktisches gesagt. Man hat das Gefühl, bei einer Versammlung deutscher Professoren zu sein, die sich in den Wolken der Abstraktion verloren hätten. Wir reden aber nicht von Theorien hier. Die englischen Arbeiter haben die enorme Summe von 25 Millionen Pfund in den Kassen der Bourgeoisie hinterlegt. Nehmen wir dieses Geld aus den Händen der Bourgeoisie zurück, so bekommen die Arbeiter eine Waffe mehr und die Bourgeoisie eine weniger." Also wurde man konkreter. Beschlossen wurde die Förderung von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit und Institutionen des zinslosen Kredits. Zwar vertraten manche Delegierte die Meinung, nur der künftige Arbeiterstaat werde das Problem lösen können, doch die große Mehrheit gab ihr äußerstes Mißtrauen staatlichen Institutionen gegenüber bekannt. Lessner, ebenfalls Londoner Schneider, behauptete, dass der Arbeiter durch die Beiträge, die er an den Staat zahlt, "konservativ wird, er bekommt Angst, die Regierung zu stürzen, die seine Ersparnisse bewahrt." Dazu machte der Pariser Vermessungsrevisor Chémalé eine der schönsten staatskritischen Äußerungen, die ich kenne: "Kredit bedeutet Vertrauen und Vertrauen lässt sich nicht zentralisieren."
Ich zitiere diese Episode, weil sie deutlich zeigt, dass diese Menschen nicht aus reinem Mangel an staatlicher Fürsorge handelten. Gewiss ging es primär um Notlösungen, die das industrielle Elend lindern sollten, aber aus der Not wurde eine Tugend gemacht. Die gegenseitige Assoziation war nicht nur Schutzmaßnahme, sondern Kampfmittel. Und dieser Kampf zielte nicht darauf, eine günstigere Position innerhalb des bestehenden Systems zu gewinnen, sondern dem Wirtschaftsegoismus ein anderes Prinzip entgegenzustellen. Mehr noch: Die Zustände, die es zu bekämpfen galt, wurden nicht nur den bösen Kapitalisten zugeschrieben. Ausdrücklich wurde nach der "Selbstregenerierung des eigenen Gewissens" gestrebt. In der gleichen Diskussion erklärte Longuet, der spätere Schwiegersohn von Marx: "Durch die gegenseitige Versicherung vor allen Imponderabilien des Lebens werden wir die Erfahrung machen, dass das Risiko des Einzelnen ebenso das Risiko aller ist. Wir sind der Meinung, dass die Anwendung der Mutualität in all unseren sozialen Beziehungen das Rettungsprinzip gegen die gegenwärtige Unsolidarität darstellt. Heute ist der Krieg allgegenwärtig: in unseren Köpfen, unserem Bewusstsein, unseren Geschäften. Immer stärker wird die wirtschaftliche Praxis von der barbarischen Losung: homo homini lupus geprägt. Menschen gehen lieber pleite und verzichten gar auf ihre Würde, ehe sie die winzige Hoffnung aufgeben, irgendwann opulent zu werden."
Für Menschen des 19. Jahrhunderts war der Ursprung dieser unsolidarischen Entwicklung eindeutig: Es war "der Tag, als die Revolution Freiheit für die Industrie dekretierte, dabei die Körperschaften zerstörte". Bereits während der französischen Revolution widersprach die Freiheit des bourgeois der Gleichheit des citoyen so offensichtlich, dass der Devise der Republik ein drittes Element hinzugefügt werden musste: Brüderlichkeit. Dann kamen die sozialen Kämpfe, um das Versprechen der Brüderlichkeit einzulösen.
Um mich wieder meinem ursprünglichen Thema zu nähern, möchte ich ein paar Jahrzehnte vorrücken und Station bei Marcel Mauss machen. In Deutschland ist von Mauss nur der Gabentausch bekannt, geschrieben 1925. In diesem Buch vertritt er die These, dass alle archaische Gesellschaftsformen ein gemeinsames Merkmal vorweisen: "Austausch und Verträge finden in Form von Geschenken statt, die theoretisch freiwillig sind, in Wirklichkeit jedoch immer gegeben und erwidert werden müssen". Scheinbar ist also von einer Interpretation der fernen Vergangenheit die Rede, doch zum Schluss verrät Mauss seine Absicht, indem er sich auf seine Gegenwart bezieht. Der Gabentausch ist noch aktuell, meint er, denn "zum Glück ist noch nicht alles in Begriffen des Kaufs und Verkaufs klassifiziert." Mehr noch: Er sieht in der modernen Tendenz der Gesellschaft eine Rückkehr zum archaischen Prinzip, obgleich in modernem Gewand. Was er damit meint, wird in seinen politischen Schriften deutlich, die leider auf Deutsch nicht erschienen sind. Er war sein Leben lang ein militanter Sozialist der besonderen Art. Sowohl Bolschewisten als auch Sozialdemokraten warf er "politischen Fetischismus" vor. Für ihn konnte die bloße Regierungsübernahme keinen konstruktiven Einfluß auf die sozialen Verhältnisse haben, denn "Gesetze erschaffen nichts, sie sanktionieren nur". Grundsätzlich käme es nicht auf Verstaatlichungen an, sondern auf direkte, kollektiv bewerkstelligte Kooperation. Dennoch war er kein Anarchist, er glaubte nicht an die sofortige Abschaffung von Staat und Markt, sondern an die progressive Hinzufügung einer dritten Instanz. So wie die Bourgeoisie jahrhundertelang mit dem feudalen System koexistierte, sollte sich der Sozialismus im Schoß der kapitalistischen Gesellschaft graduell durch Lernprozesse und Experimente entwickeln.
Die Vorstellung war nicht bloß ein Luftschloss. Es ist heute fast vergessen, wie verbreitet und dynamisch der kooperative Sektor bis in die dreißiger Jahre war. In allen europäischen Ländern waren Millionen Menschen in Konsumvereinen, Genossenschaften und mutualistischen Körperschaften verbunden, mit dem erklärten Ziel, sich von der Tyrannei des Privaten zu emanzipieren. Sein Leben lang setzte sich Mauss für diese Bewegung persönlich ein. 1900 zum Beispiel engagierte er sich leidenschaftlich für die Errichtung einer Weinkooperative. Diese sollte städtische Arbeiter, "die von bürgerlichen Großhändlern überteuert gefälschte Weine bekommen", mit Winzern verbinden, "die ausgezeichnete Weine herstellen, jedoch in unwürdigen Verhältnissen leben". Eine durchaus aufklärerische Aufgabe: "Allmählich würde sich das Publikum an den genuinen, frischen Wein Frankreichs gewöhnen." Selbst bei dieser pragmatischen Angelegenheit kommen die Motive der von ihm theoretisierten "totalen sozialen Handlung" zutage: "Die Sache ist einfach, schön, nützlich und überaus sozialistisch. Es gibt eine einzige Voraussetzung dafür - Ehrlichkeit."
In vielen Hinsichten beruht diese politische Theorie auf einfachem gesunden Menschenverstand, welcher aber unter modernen Verhältnissen alles andere als selbstverständlich ist. Gastfreundschaft und Großzügigkeit machen nicht nur das Leben süß, sondern versichern auch den Erhalt der Gegenleistung. Gegeben wird nicht, um Selbstlosigkeit zu zeigen, sondern um sich einen guten Namen zu verschaffen. Solche Prinzipien identifiziert Mauss mit einer Wiederherstellung der Urregel. 1924 schreibt er: "So altmodisch und banal es sich anhören mag, wir kehren eindeutig zum antiken Begriff der Caritas zurück, zur notwendigen Empathie, jenem Gemeinschaftssinn, welche das delikate Wesen der Stadt ausmacht."
Da hat er sich bitter getäuscht, wie wir jeden Tag feststellen müssen. Die Entwicklung, die er vollen Vertrauens kommen sah, wurde abrupt gestoppt. Zunächst von der großen Wirtschaftskrise, was übrigens seine These bestätigte, wonach der soziale Sektor nur im gut funktionierenden Kapitalismus erfolgen kann (Wenn alles zusammenbricht, dann sind die Assoziationen überfordert). Schließlich aber viel wesentlicher von der Entstehung des Sozialstaates. Noch im Nachkriegsdeutschland war "Sozialisierung" ein viel diskutiertes Thema, einige Jahre später war die Sache völlig vergessen. Gewiß florierte das Vereinswesen weiter, es expandierte sogar, aber nicht mehr im widersprüchlichen Verhältnis zu den bestehenden Zuständen.
Beim Staat funktionierte alles effektiver und sicherer. Den Steuerzahlern und Leistungsempfängern wurde der Aufwand der Selbstverwaltung erspart. Was den Bürgern vor allem geschenkt wurde, war die Anonymität. Ich muss nicht die Leute kennen, die von meinen Beiträgen profitieren. In seinem Interview zu Krise und Kritik meint Noam Chomsky: "Soziale Sicherung beruht auf einer gefährlichen Idee, der Idee, dass man für die mittellose Witwe am anderen Ende der Stadt zu sorgen hat." Dem möchte ich widersprechen. Die Haltung, die der Sozialstaat zumindest möglich macht, ist eher: "Warum sollte ich für die Frau sorgen? Der Staat macht das schon." Nur ist dann der Weg zur neoliberalen Haltung nicht mehr weit : "Warum sollte ich mich um sie kümmern? Mir geht´s gut."
Sicherlich war diese Wende ein Fortschritt, indem die soziale Sicherung auf Menschen ausgedehnt wurde, die bisher keiner Vereinigung angehörig waren. Aber was an Ausdehnung gewonnen wurde, wurde mit Abstraktion bezahlt. Gesellschaft bedeutete nicht mehr Herstellungsprozess eines Gewebes aus Vereinigungen und Gemeinschaften, sondern "die Allgemeinheit". Unter dem Blickwinkel des Gegenseitigkeitsprinzips war dieses Moment die Urkatastrophe, die der Neoliberalismus nur vollendete. Das soziale Leben wurde nicht mehr als horizontales Verhältnis, von Mensch zu Mensch begriffen, sondern vertikal von Steuerzahler zu Staat, ein Verlust von Selbständigkeit und Reziprozität, dessen Effekt wir heute zu spüren bekommen. Wie Baudrillard meinte, besteht die Macht in Wirklichkeit "nicht aus Nehmen, sondern aus einseitigen Gaben", welche die Apathie und die Bevormundung der Empfänger gewährleisten (ein Paradebeispiel ist das Bismarcksche Geschenk der Sozialgesetze als Pendant der Sozialistenbekämpfung). Es sei ein Irrtum zu glauben, wir sollten von der Macht etwas zurückholen, was sie uns genommen hat - da kann sie eben erwidern, dass es nichts mehr zu nehmen gibt. Umgekehrt ginge es darum, die einseitige Gabe des Staates durch das Prinzip der gegenseitigen Gabe zu ersetzen, oder, bescheidener, damit zu ergänzen.
Somit kehren wir zum Bürgergeld zurück. Was würde seine Einführung am Leben eines heutigen ALG-II-Empfängers ändern? Er wäre von den Schikanen der Arbeitsämter befreit, und das wäre sicherlich ein Fortschritt. Aber ob er sich deswegen als "universelles Rechtssubjekt" fühlen würde, darf bezweifelt werden. Ernährt man sich, arbeitslos oder nicht, von Aldi und RTL2, kennt keine Freunde und hat die Zeit zum Feind, bemerkt man keine Neugestaltung. Der Bürger des Bürgergeldes bleibt der "von Mitmenschen und vom Gemeinwesen abgesonderte" Bürger, den Marx kritisierte. Schließlich geht es in dieser Debatte um die Grundbedürfnisse. Unter dem Begriff versteht ein Wirtschaftswissenschaftler eine bestimmte Menge von Kartoffelbrei und Winterklamotten. Alle andere wissen, dass noch einiges dazugehört, unter anderem das Bedürfnis nach Anerkennung und Solidarität. Wie dieses heute zu befriedigen sei, dazu habe ich keinen Vorschlag. Aber das hatte ich bereits angekündigt.
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