Nicht gedenken, weitermachen

Frankreich Die Proteste gegen die neoliberalen Reformen des Präsidenten treffen nicht zufällig mit dem Jubiläum von 1968 zusammen
Um die Streikkassen zu füllen, haben Künstler und Intellektuelle eine Crowdfunding-Aktion gestartet
Um die Streikkassen zu füllen, haben Künstler und Intellektuelle eine Crowdfunding-Aktion gestartet

Foto: Gerard Julien/AFP

Ein Jahr nach seiner Wahl dürfte jedem klargeworden sein, dass Emmanuel Macrons angekündigter „radikaler Bruch“ mit der herkömmlichen französischen Politik nichts als eine PR-Floskel war. Darüber freuen sich die Bürgerlichen, die die Fortsetzung der wirtschaftsliberalen Transformation des Landes begrüßen. Und darüber ärgern sich die Linken, die zumindest einen anderen Führungsstil erhofft hatten.

Jetzt bricht ein Frühling der sozialen Proteste an, auf den der junge Staatschef nicht weniger arrogant als seine Vorgänger reagiert. So erklärt er dem Pflegepersonal, das gegen den desolaten Zustand öffentlicher Krankenhäuser streikt: „Geld wird nicht durch Magie geschöpft“ – kurz davor wurden Spitzenverdienenden Steuergeschenke in Milliardenhöhe beschert. Vergangenes Jahr hatte Macron nur deswegen die Mehrheit bekommen, damit Le Pen verhindert werden konnte. Doch im ersten Urnengang hatten nur 18 Prozent der Bürger sein Programm gewählt. Nun beruft er sich auf sein Mandat, um dieses Programm kompromisslos durchzusetzen. Fest entschlossen, die staatliche Bahn SNCF „nach Vorbild der Deutschen Bahn zu reformieren“, gibt er sich unnachgiebig gegenüber den kampflustigen Eisenbahnern, die derzeit jeden fünften Tag 48 Stunden streiken.

Weil die „Reform“ auch die Schließung angeblich unrentabler Strecken vorsieht, genießt die Bewegung trotz aller Unannehmlichkeiten für die Pendler eine ziemlich breite Unterstützung. Um die Streikkassen zu füllen, haben Künstler und Intellektuelle eine Crowdfunding-Aktion im Netz gestartet. Besetzt und blockiert wird ebenfalls seit Wochen an mehreren Universitäten. Dort protestieren die Studierenden gegen verschärfte Aufnahmekriterien. Auch sie fühlen sich von Macrons Bemerkung herabwürdigt, es werde „keine Schoko-Diplome geben“. Vergangene Woche wurde zum ersten Mal seit dem Mai 1968 die besetzte Pariser Sorbonne von der Polizei geräumt.

Überhaupt trifft das 50. Jubiläum des großen Aufstandes mit dem aktuellen sozialen Zorn wunderbar zusammen. Nicht zufällig fand der erste gewerkschaftliche Protesttag am 22. März statt (die "Bewegung 22. März" war damals die bekannteste Studentengruppe). Am letzten Wochenende demonstrierten Tausende in mehreren Städten Frankreichs für einen „Zusammenlauf aller Kämpfe“; für Mai sind bereits mehrere Aktionstage geplant. Die Erinnerung an den wilden Generalstreik von 1968 wird durch zahlreiche Sendungen und Bücher wachgerufen, derweil wird auf der Straße nach „Neuanfang statt Gedenkfeier“ gerufen.

Insbesondere in der „zu verteidigende Zone“ von Notre-Dame-des-Landes spitzt sich die Konfrontation zu. Seit einem Jahrzehnt hatten sich dutzende Menschen dort angesiedelt, um den geplanten (inzwischen aufgegebenen) Bau eines Großflughafens zu verhindern. Jetzt werden die ungenehmigten Landbesetzungen geräumt. Die Bilder von 2.500 Robocops machen die Runde, die gegen ein paar Dutzend junger Schäfer und Ökofreaks Blendgranaten schießen und die Behausungen ihrer alternativen Projekte zerstören.

Von einem Journalisten gefragt, ob das sein Beitrag zur 68er Gedenkfeier sei, antwortete Macron, es ginge da um nichts Geringeres als die „Wiederherstellung staatlicher Autorität“. Am 15. April strömten hingegen Junge und Alte, Familien und Aktivisten, Träumer und Kämpfer in das besetzte Gebiet, um zu helfen, die nichtstaatliche Utopie wiederaufzubauen.

Nein, Geschichte wiederholt sich nicht. Aber anscheinend glimmt sie noch.

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