August 1999. Westeregeln in Sachsen-Anhalt, knapp 30 Kilometer südwestlich von Magdeburg. Der 20-jährige Jens Stolze, Metallbauer im 4. Lehrjahr, stromert mit ein paar Freunden durch Wald und Wiesen. Von seinen Großeltern weiß er, dass hier in Kriegszeiten Flugzeugteile hergestellt worden waren. Am Eingang eines alten Stollens findet er zwischen Steinen und Moos ein altes Feuerzeug. Er nimmt es mit in seinen Ausbildungsbetrieb nach Aschersleben.
Mai 2000. Berufliches Bildungs- und Rehabilitationszentrum (BBRZ e.V.) in Aschersleben. In der überbetrieblichen Ausbildungsstätte bekommen sozial benachteiligte Jugendliche eine fundierte Ausbildung in verschiedenen Berufen. Sven Raymann (17), Norman Ringel (19) und Mathias Reuß (17) gehören zu den rund 100 a
46;ren zu den rund 100 angehenden Metallbauern, die derzeit in Aschersleben ihre Lehre absolvieren. Neben dem Schweißen, Schmieden und Drehen haben sie sich in den letzten Monaten im Recherchieren geübt.Sven, Norman und Mathias sitzen verlegen lächelnd um den Tisch herum. Wie sollen sie einem Außenstehenden nur vermitteln, was in ihnen vorgeht, wenn sie an das alte Feuerzeug denken? Zu ergreifend waren die Erlebnisse der letzten Monate. Ihr Lehrmeister, der 42-jährige Ingenieurpädagoge Lutz Bandtke, überbrückt die beklommene Stille: "Als Jens im letzten Jahr das alte Feuerzeug angeschleppt brachte, hatten wir erst mal keine Ahnung, was er da für einen Fund gemacht hatte." Aufregung schwingt in seiner Stimme, auch er kann die wieder aufkommenden Gefühle nicht verbergen. Das Feuerzeug sei mit einer dicken Oxidschicht überzogen gewesen, wie es für Aluminium typisch sei. Deshalb polierten es die Azubis und legten dabei Gravuren auf der Oberfläche frei. Als das Stück blitzblank war, konnte man sie deutlich lesen: "Buchenwald 11312", darunter "Schönebeck 5/VII-43" und als letztes "Auschwitz, ein auf der Spitze stehendes Dreieck mit einem P und die Zahlen 72/31"; auf der anderen Seite die Initialen "A. R." und "Per aspera ad astra"."Ich bekam eine Gänsehaut, als ich die Gravuren zum ersten Mal las. Und wenn ich nur an diesen Moment denke, ist sie wieder da", sagt Lutz Bandtke. Ihm sei in diesem Augenblick klar geworden, dass der Fund aus der finstersten Epoche der deutschen Geschichte stammen müsse. Und damit sei auch logisch gewesen, dass die Zahlen neben den Ortsbezeichnungen von ehemaligen Konzentrations- und Arbeitslagern nur Häftlingsnummern oder ähnliche personenbezogene Daten sein könnten.Ausbilder und Azubis berieten. Was nun? Wem mag das Feuerzeug gehört haben? Können wir seinen Besitzer finden? Wie stellen wir das an? Jens, der Finder des Stücks, hatte wenig Zeit, sich an den Recherchen zu beteiligen. Er steckte mitten in den Prüfungsvorbereitungen zum Abschluss seiner Lehre. Sven, Norman und Mathias waren neugierig geworden und wollten gemeinsam mit ihrem Ausbilder versuchen, die Geschichte des Feuerzeugs herauszufinden. "Wir haben an Gott und die Welt geschrieben", sagt Lutz Bandtke, "im Internet gefahndet, E-Mails geschickt an die Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager, an Botschaften, Interessenverbände und telefoniert." Die Jungs lasen in Büchern nach und fanden dabei heraus, dass im Oktober 1944 das Schönebecker Außenlager der Junkers Flugzeug- und Motorenwerke nach Westeregeln verlegt worden war. Dieser Verlagerungsaktion hatten die Nazis den Decknamen "Maulwurf" verpasst.Während mehrerer Monate fieberhaften Forschens fügte sich ein Mosaikstein zum anderen. Die Deutschen hatten über ihre Grausamkeiten akribisch Buch geführt und das half am Ende den Metallbauern: Dr. Harry Stein, der Kustos der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, fand die zur Buchenwalder Häftlingsnummer 11312 passende Eintragung "Adam Romaniuk, Pole". Und der Erste Sekretär der polnischen Botschaft, Jacek Barylak, übermittelte den Ascherslebener Lehrlingen wenig später die Nachricht: "Herr Romaniuk lebt, und zwar in Stary Sacz in der Nähe von Katowice." Gemeinsam schrieben die Ascherslebener einen Brief an den Mann, den sie längst tot geglaubt hatten: Sie berichteten über ihren Fund und wie sie an die Adresse gelangt sind. Der wichtigste Satz in dem kurzen Brief: "Wir möchten Ihnen Ihren Besitz gern persönlich zurückgeben." Binnen kurzer Frist erhielten sie Antwort aus Polen: "Sie sind willkommen", stand in deutscher Sprache in dem Brief.Ein knappes halbes Jahr nach dem überraschenden Fund war es soweit: Das ganze BBRZ stand hinter dem Projekt, viele Partnerunternehmen und Praktikumbetriebe engagierten sich mit Geld- oder Sachspenden, ein ortsansässiges Autohaus stellte einen Van für die Fahrt zur Verfügung, die Sparkasse legte einen Tausender in die Kasse. Ein geeigneter Reisetermin war gefunden und so machte sich Lutz Bandtke mit seinen Lehrlingen am 27. April 2000 auf den Weg nach Stary Sacz im Bezirk Katowice, Polen - rund 850 Kilometer entfernt von Aschersleben in Sachsen-Anhalt, Deutschland.Keine 30 Kilometer vor ihrem Ziel passierten sie Auschwitz. Der Anblick des ehemaligen Konzentrationslagers berührte die Jungs zutiefst. "Die Hauptstraße führt zwischen den beiden Geländeteilen mitten hindurch. Auf der einen Seite das ehemalige KZ, auf der anderen Seite die Vernichtungsanlagen", erzählt Norman. Lutz Bandtke: "Keiner traute sich ein Wort zu sprechen, es war eine wirkliche Totenstille um uns herum." Nach 16-stündiger Fahrt kamen die Deutschen am kleinen Haus von Adam Romaniuk und seiner Frau an. Mit weichen Knien traten sie dem 82-jährigen entgegen - gespannt und voller Vorfreude, aber auch unsicher und verlegen ... Der Pole drückte jeden ganz lange. Und als er sein Feuerzeug wieder in der Hand hielt, da liefen ihm Tränen über die Wangen. In seiner Stube saßen sie alle eng zusammen, tranken gemeinsam Kaffee und aßen Kuchen. Drei Stunden lang lauschten die Deutschen den Erinnerungen des Alten, der den Holocaust überlebte. Während der kleine, drahtige Mann sein altes Feuerzeug in den Händen drehte und wendete, erzählte er seinen Gästen: "Ich bekam das Feuerzeug als Geschenk, von meinen Kollegen. Es gab von dieser Sorte viele, deshalb die Initialen." Und dann erklärte er die Gravuren: "Erst war Auschwitz, danach Buchenwald und Schönebeck am Ende. Das waren meine Häftlingsnummern, bei Schönebeck ist das der Tag meiner Verlegung dorthin. Alles stimmt, alles ist richtig. Bis zum Grab wird das ein Erinnerungsstück sein!" Der lateinische Schriftzug "Per aspera ad astra" heißt "Auf rauen Wegen zu den Sternen" - für den Polen bedeutet er heute Leben, Überleben.Im Laufe der nächsten Stunden erfuhren die Jungen die ganze Geschichte: Adam Romaniuk war von den Deutschen 1942 im Bahnhof von Krakau wegen "unerlaubten Handelns" verhaftet worden, weil in seinem Rucksack Lebensmittel waren. Erst wurde er in ein Sammellager nahe Krakau gebracht, sechs Wochen später nach Auschwitz, Block 8. Er habe schon sein Schicksal besiegelt gesehen, denn "Auschwitz verlässt man nur durch den Schornstein", wusste der Pole von seinen Mitgefangenen. "Auschwitz war die Hölle", sagte er zu den Jungs. Nur ein Kartenleger habe ihm noch Überlebensmut gegeben.Sieben Monate überlebte der damals 25-jährige diese Hölle. Abgemagert auf 40 Kilogramm konnte er im April 1943 Auschwitz verlassen und wurde in das KZ Buchenwald gebracht. Dort musste er bei der Schienenverlegung arbeiten. In Buchenwald seien die Deutschen etwas menschlicher zu ihm gewesen, wahrscheinlich weil er deutsch sprechen konnte und ein besonders guter Schlosser war. Auch sein "arisches" Aussehen war sicherlich ein Grund dafür. Wie er von seinen Bewachern gewarnt worden war, konnte Romaniuk noch in deutscher Sprache wiedergeben: "Nicht weiter gehen. Ich muss schießen. Zurück!"Wenige Zeit später wurde der Pole in das Außenlager Schönebeck verlegt. "Alles war nur Glück", ist heute seine Vermutung. Für die Herstellung der Flugzeugteile in Schönebeck wurden Schlosser gebraucht, die sehr präzise drehen konnten. Genau das beherrschte Romaniuk, bald wurde er Vorarbeiter. Er war beliebt bei den ihm unterstellten Mitgefangenen. So beliebt, dass sie ihm das selbst gravierte Feuerzeug schenkten. Wenig später, Anfang 1945, als die Front immer näher rückte und die Befreiung durch die Amerikaner unmittelbar bevorstand, flüchteten die Gefangenen aus dem Lager in die Wälder um Westeregeln. Dabei ging das Feuerzeug wahrscheinlich verloren.Nach der Befreiung landete Romaniuk in einem Sammellager in der Nähe von Osnabrück, lebte dann bis 1949 bei verschiedenen Familien und arbeitete bei einem Bauern. Sein Fleiß brachte ihm die Achtung und Anerkennung der Deutschen ein. Mehr noch: Er bekam eines Tages sogar einen "Hackenwärmer", ein Fahrrad mit Motorantrieb, geschenkt. Dennoch plagte ihn das Heimweh und als sich die Möglichkeit ergab, in die Heimat zurückzukehren, nutzte er sie. "Nach zwei Wochen zu Hause wollte ich nie wieder weg." Seitdem sind über 50 Jahre vergangen und bis zum Tage dieses Besuches aus Deutschland hatte Adam Romaniuk kein Wort Deutsch mehr gesprochen.Die Jungs begannen zu verstehen, warum Adam Romaniuk in Tränen ausgebrochen war, als er nach mehr als 50 Jahren sein Feuerzeug wiederbekam. Sie waren glücklich, dass sie sich auf die Reise gemacht hatten. Sie rannten schnell nach draußen, holten noch eine große Kiste mit Kaffee und Süßigkeiten aus dem Kofferraum und brachten sie in die kleine Stube. Am Ende überreichten sie dem Rentner einen Umschlag mit 300 DM. Das Geld hatten sie privat zusammengelegt, jeder soviel er eben konnte. Der Abschied war kurz und herzlich; Adam Romaniuk winkte dem Van aus Aschersleben noch hinterher. Auf der Rückfahrt war die ganze Besatzung aufgekratzt und zufrieden.Im BBRZ ist längst wieder Alltag eingekehrt. Sven und Norman absolvieren gerade ein Praktikum, Jens Stolze hat seine Lehre erfolgreich abgeschlossen und einen Arbeitsvertrag unterschrieben, Mathias hat Unterricht. Keiner von ihnen denkt mehr jede Minute an das Feuerzeug, wie das vor wenigen Wochen noch war. Und doch ist nichts wie vorher: "Irgendwie bin ich wacher geworden. Ich bekomme zum Beispiel eher mit, wenn Dokumentarfilme über den Zweiten Weltkrieg im Fernsehen laufen. Da habe ich jetzt mehr Interesse", meint Mathias. "Ich habe Auschwitz gesehen, ich habe die Geschichte des alten Polen gehört - jetzt verstehe ich erst, wie schrecklich die vielen Lügen sind", so Norman. Und Sven, der Jüngste der drei, ist erstaunt, wie ein Mensch so etwas überhaupt überleben kann. Sein Ausbilder ist froh, dass der Zufall ihm die Auseinandersetzung mit diesem Kapitel der deutschen Geschichte jetzt leichter macht. Mathias ist der einzige der drei Jungs, der ausdrücken kann, was der Feuerzeugfund für ihn bedeutet: "Da passiert einfach was und du begreifst, was du sonst wahrscheinlich nie richtig begriffen hättest. Und das ändert einfach dein Leben, was du denkst und fühlst und so."Für die Ascherslebener ist die Geschichte noch längst nicht zu Ende: Adam Romaniuk hatte bei ihrem Treffen den Wunsch geäußert, noch einmal nach Deutschland zu kommen und sich Buchenwald anzusehen. "Wir wollen den alten Mann gern selbst empfangen und unterbringen, für eine schöne und bequeme Anreise sorgen", sagen die Jungs. Die Realisierung dieses neuen Plans kostet weiteres Organisationstalent und Geld. Sie hoffen auf Unterstützung.Der 82-jährige Adam Romaniuk lebt heute mit seiner Frau in einem bescheidenen Häuschen. Er bezieht eine Invalidenrente von 1.650 Zloty (rund 800 DM), medizinische Versorgung und öffentliche Verkehrsmittel kann er kostenlos nutzen, weil er bei der polnischen Armee war.Eine Entschädigung für seine Zeit als Zwangsarbeiter in Deutschland hat er bis heute nicht bekommen. Wie eine Anfrage ergab, weiß man von der Geschichte des Polen Adam Romaniuk weder bei Junkers-Bosch in Magdeburg noch in der Firmenzentrale in Wernau bei Stuttgart.Telefonkontakt zum BBRZ e. V. Aschersleben: 03473/807075
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