Fast 60 Interessenten hatten sich für das Streitschlichterseminar im Leipziger Schulmuseum angemeldet. "Das sind zu viele, um vernünftig miteinander arbeiten zu können", befand Seminarleiter Wildfeuer. Also wurde schnell ein zweiter Seminartermin festgelegt und die Hälfte der Angemeldeten auf Anfang März vertröstet.
An vielen Schulen wurde das Potential zur Konfliktbewältigung, das in den Schülern selbst steckt, schon erkannt. Den meisten jedoch fehlt es noch am Know How. Das kann Dr. Wolfgang Wildfeuer von der Sächsischen Akademie für Lehrerfortbildung Meißen vermitteln. Der 48-jährige Pädagoge trainiert seit acht Jahren Lehrer in Kommunikation; seit drei Jahren beschäftigt er sich mit Schüler-Schlichter-Modellen un
odellen und leitet entsprechende Seminare, reist in der ganzen Bundesrepublik herum, um sich die verschiedenen Ansätze in der Praxis anzuschauen.Das Förderprogramm wird unterstützt durch die Theodor-Heuss-Stiftung, das Bundesministerium für Bildung und Forschung, einige Kultusministerien der Länder, auch des Sächsischen Kultusministeriums. Die kreativsten Projekte werden zu einer viertägigen bundesweiten "Lernstatt Demokratie" eingeladen, in der sich die Initiatoren gegenseitig ihre Modelle vorstellen, verteidigen, aufgetretene Schwierigkeiten beraten, mit Politikern diskutieren und in themenübergreifenden Workshops arbeiten.Für viele Schüler ist die Teilnahme an der Lernstatt ein Ziel und eine Motivation mehr, sich kreativ mit Konfliktlösungsmodellen an der Schule zu beschäftigen.Mit 25 Schülern und fünf Lehrern von zwei Leipziger Gymnasien und einer Mittelschule startet das ganztägige Seminar. Die meisten der Schüler zwischen elf und 18 Jahren wissen nicht, was sie erwartet; auch die Lehrer sind relativ ahnungslos. Viele haben von Wildfeuers Seminaren gehört oder schon einmal etwas über Schlichtermodelle an Schulen gelesen - doch wie die Konfliktlösung durch die Schüler selbst funktionieren soll, kann sich keiner so recht vorstellen.Gespannt sitzen alle in einem großen Stuhlkreis. Wildfeuer stellt sich kurz vor und wirft dann einen kleinen Ball in die Runde: "Was fällt Euch zur Schülerschlichtung ein?" Wer den Ball fängt, ist dran. Nur wenige wissen etwas zu sagen. "Gespräche", sagt ein Mädchen, "Streit" ein anderes, "Frieden an der Schule" eine Lehrerin, "Schlägereien" ein Junge.Danach sollen sich die Teilnehmer zu kleinen Gruppen formieren und ihre Erwartungen und Befürchtungen auf kleine Kärtchen schreiben. Noch zaghaft tauscht man sich aus. Je ein Vertreter der Gruppe erläutert die Stichworte und klebt sie auf die große Fläche aus Packpapier an der Stirnseite des Raumes. Die meisten erwarten natürlich Streitlösungen, aber auch Meinungs- und Erfahrungsaustausch, methodische Hilfen und neue Freundschaften. Die größte Befürchtung ist, dass das Modell nicht funktionieren könnte. Die Schüler sehen eine Gefahr in der Übermacht der Lehrer und mangelnder Autorität der Schlichter. "Das Interesse könnte abflauen, wenn Probleme auftauchen", schildert eine Lehrerin ihre Ängste.Wildfeuer lässt positive und negative Erwartungen im Raum stehen, schlägt statt dessen vor, eine Gruppenregel für den Seminartag aufzustellen: "Jeder ist für den Erfolg, für sich und die Gruppe mit verantwortlich." Alle stimmen sofort zu, erklären, was sie darunter verstehen: Ehrlich zueinander sein, Missverständnisse klären, Diskussionsdisziplin einhalten, Meinungen tolerieren, positive Kritik üben.Als nächste Aufgabe steht an, Konflikte an der Schule zu benennen. Sofort wird der Austausch in den Grüppchen lebhafter. Die Stichworte reichen vom Rauchen unter 16 über Gewalt und Gruppenzwang, Fehlverhalten von Lehrern bis hin zum Generationskonflikt. Einer sagt: "Man muss halt miteinander reden." Hier setzt Wildfeuer methodisch an: "Wenn ihr euch mit einem Konflikt beschäftigen wollt, müsst ihr euch zuerst fragen: Ist es mein Problem oder nicht? Diese Entscheidung muss jeder für sich treffen." Genau da liege nämlich der Unterschied zwischen dem agieren als "Schüleraufsicht" oder als Schlichter (Mediator). "Wer schlichten will, muss sich selbst von dem Problem distanzieren, sollte selbst nicht betroffen sein." Der Mediator ergreift also nicht Partei für einen der Streitenden, er schlägt keine Lösungen vor, droht erst recht keine Sanktionen an. Er hilft den Betroffenen, selbst Lösungen zu finden. "Nur wenn die Betroffenen selbst eine Einigung wollen, ist Schlichtung möglich." Ratlosigkeit, Verwunderung, Verwirrung steht in den Gesichtern der Teilnehmer. Unbeirrt und mit stoischer Ruhe macht der Seminarleiter weiter. Jetzt erklärt er, wie ein Schlichtergespräch ablaufen sollte und kündigt ein Video an. Doch dann entscheidet er sich anders: "Wir machen jetzt ein Rollenspiel. Ich brauche zwei Streithähne und zwei Schlichter."Als Schlichterinnen erklären sich Jasmin* und Katja* bereit. Eine Problemskizze wird entworfen, zwei Streitende sind schnell gefunden. Die vier setzen sich gegenüber in die Mitte des Stuhlkreises. Gespannte Erwartung herrscht im Rund. Das Spiel beginnt. Jasmin und Katja stellen sich kurz vor und leiten das Gespräch ein. Sie erläutern das Ziel der Schlichtung, sichern absolute Vertraulichkeit zu und stellen die Gesprächsregeln auf: "Wer den Stift hat, darf reden. Keiner wird unterbrochen, Kraftausdrücke und Beleidigungen sind verboten." Der Stift geht nacheinander an die beiden Streitenden. Jeder schildert das Problem aus seiner Sicht. Katja und Jasmin spiegeln abwechselnd die sachlichen und emotionalen Bezüge der Betroffenen wider. Wie beim Federmappenstreit zwischen Saskia und Tom (siehe Randspalte) erarbeiten sich die Streitenden Schritt für Schritt ihren Lösungsansatz, immer unterstützt durch die einfühlsamen Fragen der Schlichterinnen. Am Ende wird eine Vereinbarung getroffen und schriftlich fixiert. Katja und Jasmin atmen tief durch: "Vor so vielen Zuschauern haben wir das noch nie gemacht. Sonst sind wir immer allein miteinander."Die ist irgendwie doofSaskia hält den Stein ganz fest in ihrer Hand. Jetzt ist sie dran. Sie holt tief Luft, dann sprudelt es aus der Zwölfjährigen heraus: "Der Tom, der nimmt mir immer meine Federmappe weg und schmeißt sie dann im Klassenzimmer rum. Schon ein paar Mal sind dabei Stifte kaputt gegangen und einmal war die Mappe ganz weg. Das geht jetzt schon seit Beginn des Schuljahres. Ich weiß nicht, warum er das macht. Der soll endlich damit aufhören!" Saskia gibt den Stein zurück an Katja, die ganz ruhig sagt: "Du bist also empört, dass Tom deine Mappe herum schmeißt." Saskia nickt. Katja wendet sich an Tom: "Erzähl doch mal, wie es dazu gekommen ist." Nun liegt der Stein in der Hand des quirligen Jungen, dessen Haare wie kleine Stacheln um seinen Kopf herum stehen. Der 13-jährige Tom bleibt cool: "Ich kann die eben nicht leiden. Die ist irgendwie doof. Deshalb mache ich das." Trotzig gibt er den Stein zurück, diesmal antwortet Jasmin: "Du findest richtig, was du machst." Tom: "Hmm." Jasmin: "Wann hat das denn angefangen? Hattest du Streit mit Saskia?" Tom beginnt, nun schon etwas engagierter, seinen Konflikt mit der immer so ordentlichen und vorbildlichen Mitschülerin zu schildern.Mit behutsamen Fragen gehen Katja und Jasmin der Sache auf den Grund, bleiben selbst distanziert und ergreifen für keinen der beiden Streithähne Partei. Der Stein macht etliche Runden. Nach einer guten halben Stunde ist der Streit geschlichtet. - Am Ende des Gesprächs stellte sich heraus, dass sich Tom und Saskia eigentlich ganz gern mögen und alles mit einer Neckerei begann. Nun haben sie vereinbart, sich erst einmal aus dem Weg zu gehen. Dieses Abkommen wurde wie ein Vertrag schriftlich festgehalten und von Saskia und Tom unterschrieben. Die beiden 15-jährigen Schlichterinnen Katja und Jasmin haben es mal wieder geschafft. Zumindest für den Moment.Katja und Jasmin haben schon eine gute Portion Erfahrung, das merkt man. Sie haben Seminare besucht, bei denen sie lernen konnten, wie man anderen dabei hilft, ihre Konflikte zu lösen. Welche Position man als Schlichter einnehmen muss, welche Gesprächstechniken man anwenden kann, welche Regeln aufgestellt werden müssen. Inzwischen haben die beiden Mädchen schon einige Streitfälle an ihrer Schule, dem Leipziger Humboldt-Gymnasium, geschlichtet. Bei ihren Mitschülern genießen sie eine gewisse Autorität, denn sie schaffen, was kaum ein Lehrer schafft: Zerstrittene Leute kommen mit ihrem Problem freiwillig zu ihnen und begraben meistens nach den Gesprächen das Kriegsbeil. Manche werden sogar Freunde.Im Plenum herrscht immer noch Stille. Doch aus den Gesichtern ist die anfängliche Ratlosigkeit einer Bewunderung für die beiden umsichtigen Mädchen gewichen. "Das war jetzt der Aha-Effekt", flüstert eine Lehrerin ihrer Kollegin zu. Ein Junge aus der sechsten Klasse der Mittelschule platzt raus: "Mann, das ist bestimmt irre schwer zu lernen. Also, immer so ruhig bleiben und sich nicht in den Streit reinziehen lassen." - "Stimmt", sagt Wolfgang Wildfeuer. "Das müssen die angehenden Schlichter gründlich trainieren." Katja nickt: "Wir haben wirklich lange geübt. Es klappt auch noch nicht immer. Aber man muss sich das ganz bewusst machen und auch während des Gesprächs immer darauf achten. Dann wird's mit der Zeit immer besser."An ihrem Gymnasium gibt es inzwischen ein Schlichtermodell, bei dem Schüler der achten und neunten Klasse als "Konfliktlotsen" ausgebildet werden, um die Streitfälle vor allem in der fünften und sechsten Klasse schlichten zu helfen. "Wir haben gemerkt, dass dadurch die Kleinen schnell lernen, anders miteinander umzugehen. Wenn sie dann später zu den Größeren gehören, sind sie meist in der Lage, ihre Streitfälle selbst im Gespräch zu lösen", sagt die Initatorin des Modells am Humboldt-Gymnasium, die Mathematiklehrerin Christine Löser.In der Mittagspause suchen viele Teilnehmer das Gespräch mit Katja, Jasmin und Christine Löser. Der Nachmittag vergeht mit Rollenspielen und dem Training im emphatischen Gesprächsverhalten. "Ziel des Gesprächs muss immer sein, dass alle Beteiligten dabei gewinnen", erklärt Wolfgang Wildfeuer. Deshalb müsse man die eigenen Positionen nicht aufgeben, aber Verständnis für andere Meinungen aufbringen und versuchen, dieses auch beim Gegenüber zu wecken. Auf diese Weise könnten Kompromisse und damit Lösungsansätze in Konflikten gefunden werden.Den Lehrern legt Wildfeuer nahe, vor der Einführung eines Schlichtermodells an ihrer Schule das Einverständnis des Kollegiums und auch der Schülerschaft einzuholen, weil ohne das gemeinsame Wollen nichts geht. Er gibt Literaturtipps, erläutert Trainingsmöglichkeiten. Als Wolfgang Wildfeuer das Seminar beendet, sind noch viele Fragen offen. Aber der Grundgedanke ist klar - den haben wohl alle durch die Demonstration von Jasmin und Katja begriffen."Ich will auch Schlichter werden", sagt ein Siebtklässler entschlossen. Wie er es schaffen soll, in jeder Situation cool zu bleiben, weiß er noch nicht. "Haste doch gesehen - ist alles eine Frage des Trainings", meint er und macht sich mit seinen Kumpels auf den Heimweg. Die Erwachsenen sind viel skeptischer. Sie bezweifeln, ob es zu schaffen ist, genügend Mitstreiter für ein Schlichtermodell an ihrer Schule zu finden, ganz abgesehen von dem langen Prozess, bis das Ganze funktioniert. Doch im Kollegium zur Diskussion stellen wollen es alle.* Namen der Schüler geändertLiteraturDulabaum, Nina: Mediation: Das ABC, Beltz Verlag, 2000;Faller, Kurt: Konflikte selber lösen, Verlag an der Ruhr, 1996;Aggression und Gewalt. 45 Fragen und Projekte zur Gewaltprävention, Sächsische Landeszentrale für politische Bildung;Streit-Schlichtung. Schülerinnen und Schüler übernehmen Verantwortung für Konfliktlösung in der Schule, Video mit Begleitmaterial, Verlag für Schule und Weiterbildung, PF 1150, 59193 Bönen (Best.-Nr. 4116);im Frühjahr erscheint: Wildfeuer, Wolfgang: Gedanken und Erfahrungen zur Schülerschlichtung, Raabe-Verlag
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