Die Schultoilette ist stets ein Ort mit Aussagekraft. Wenn im niedersächsischen Hameln die Schülerinnen und Schüler der Elisabeth-Selbert-Berufsschule in der Pause diesen Ort aufsuchen, betreten sie einfache, aber saubere Sanitärräume. Keine demolierten Spülkästen, keine Kritzeleien an den Wänden, offensichtlich hat es hier niemand nötig, in unbeobachteten Momenten seine Wut mit Gewalt auszuagieren. Denn vieles an dieser Berufsschule mit knapp 2.000 Schülern läuft besser. Schülern, die an anderen Schulen scheiterten, gelingen hier oft erstaunliche Erfolge. Wie schafft diese Schule das?
Berufsschulen sind ein Sammelbecken, das Angebot der Bildungswege ist umfangreich. Zu den Berufsfeldern der Elisabeth-Selbert-Berufsschule gehö
gehören Hauswirtschaft und Ernährung, Agrarwirtschaft, Sozialpädagogik, Gesundheit und Pflege. Hier lernen nicht nur angehende Bäcker und Friseurinnen ihr Handwerk oder Hotelfachfrauen und Ergotherapeuten ihren Beruf, es gibt viele verschiedene Bildungsgänge: vom Hauptschulabschluss, den man nachholen kann, bis zum Abitur. Vom Erwerb grundlegender Kenntnisse in der deutschen Sprache bis zur Ausbildung in modernen, von Digitalisierung geprägten Handwerks- und Dienstleistungsberufen.Schüler bewerten Lehrer„Wir haben Rahmenbedingungen wie jede andere deutsche Schule auch. Wir haben wegen Lehrermangel eine grottenschlechte Unterrichtsversorgung, und die räumliche Situation ist katastrophal“, sagt Gisela Grimme, die Rektorin der Elisabeth-Selbert-Berufsschule.Es sind die Berufsschulen, die einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass jungen Menschen aus Milieus mit niedrigem sozialen Status, mit Migrationshintergrund oder Fluchterfahrung der Anschluss in unserer Gesellschaft oft doch noch gelingt. Die Klientel hat kaum eine Lobby, trotz der Fülle an Aufgaben sind Berufsschulen häufig besonders schlecht ausgestattet. Aber die Elisabeth-Selbert-Berufsschule wurde mit dem Deutschen Schulpreis der Robert Bosch Stiftung ausgezeichnet für hervorragenden Umgang mit Vielfalt, passgenaue Förderung und Fürsorge und konsequente Schulentwicklung. Seitdem kommen viele Besucherdelegationen zu Rektorin Grimme in das alte, direkt an der Weser gelegene Schulgebäude. Die Schulleiterin, blond, schwarze Hornbrille, kann man als Schlüsselfigur des Erfolges bezeichnen. Die „konsequent betriebene, systematische Qualitätsentwicklung von Schule und Unterricht“ sei das entscheidende Instrument für den Erfolg, erzählt sie. Das Qualitätsmanagement, zu dem viele Schulen sowieso verpflichtet sind, nutzt man hier offensiv. Von Unterrichts- und Schulgewohnheiten, die nicht mehr stimmig sind, verabschiedet man sich und findet bessere Lösungen.Da ist zum Beispiel die Sprachlernklasse. Für die 14 jungen Frauen und Männer hier ist die wichtigste Aufgabe, Deutsch zu lernen. Heute sind die unregelmäßigen Verben dran. „Frieren“, sagt Lehrerin Birgit Roick-Graf, die die Sprachlernklassen vor einiger Zeit zusammen mit Lehrerkollegen gründete, „wie heißt das Präsens von ‚frieren‘?“ „Ich friere“, sagt Sara Khaleel, eine 19-Jährige, die mit ihrer Familie aus dem Irak floh. Sie lächelt erleichtert, als sie merkt, dass die Antwort richtig ist. „Und die Vergangenheitsform?“ Da kommt Unsicherheit auf, schließlich traut sich eine Mitschülerin, die wie Sara Khaleel aus dem Irak kommt. „Ich bin gefroren.“ „Ja, aus ie wird im Perfekt o“, sagt Roick-Graf und gibt zuerst Anerkennung für das, was an der Antwort richtig ist. „Aber ‚frieren‘ geht im Perfekt mit ‚haben‘, es heißt also: ‚Ich habe gefroren.‘“ Die Schüler wiederholen: „Ich habe gefroren“, und schreiben den Satz in ihre Hefte.Aus 34 Nationen kommen die Schülerinnen und Schüler an der Elisabeth-Selbert-Schule. „Die Schüler im Fokus, die Lehrer im Blick“ – so lautet das interne Motto, das die Richtschnur des Handelns vorgibt. Dafür gibt es ein starkes Instrument: Die Schüler bewerten den Unterricht ihrer Lehrer. Das geschieht zweimal jährlich, und jeder Lehrer trifft auch zweimal im Jahr mit den ausgefüllten Fragebogen die Rektorin zum Mitarbeitergespräch. „Es gab natürlich auch Widerstand dagegen, als wir das eingeführt haben“, beschreibt Schulleiterin Grimme nüchtern die Anfänge. „Aber wir machen auch die Erfahrung, dass viele positive Rückmeldungen von den Schülern kommen.“ Ist das nicht der Fall, hilft das Mitarbeitergespräch, Probleme frühzeitig zu erkennen und Lösungen zu finden. „Mittlerweile haben wir eine Rückmeldekultur, die nicht mehr angstbesetzt ist.“Die Lehrerinnen und Lehrer der Berufsschule bilden immer häufiger Teams, die den Unterricht gemeinsam vorbereiten und entwickeln. So müssen sie die Herausforderungen des Schulalltags nicht mehr allein stemmen, sondern können sich unterstützen. Deshalb bekommt jeder Lehrer zweimal jährlich in seinem Unterricht Besuch von einem Kollegen, zur „Hospitation“. Anfangs wurden solche Hospitationen oft als unzulässige Einmischung von außen abgelehnt. Aber mittlerweile haben fast alle die Vorteile dieser Supervision unter Kollegen erkannt: „Das bringt für die Lehrer Entlastung und mehr Kreativität“, so Schulrektorin Grimme.„Das Besondere an dieser Schule ist, dass die Schüler aus so vielen verschiedenen Kulturen und Nationen alle miteinander klarkommen“, sagt Umar Schabasov. Der schmale, blonde junge Mann macht das Abitur an der Elisabeth-Selbert-Schule. Auf dem Gymnasium, das er zuvor besuchte, stand er kurz vor dem Scheitern. Umar Schabasov stammt aus Tschetschenien und wurde zum Mobbing-Opfer. Die Lehrer, die er damals um Hilfe bat, wiegelten aber ab, als er sich über rassistische Äußerungen beklagte.An der Elisabeth-Selbert-Schule wäre ihm das nicht passiert, da ist er sicher: „Die Lehrer hier lassen die Schüler nicht im Stich.“ Seine Mitschülerin Jamie Lee Röpke pflichtet ihm bei: „Die Lehrer hier sehen dich als Mensch. Sie sprechen dich an, wenn sie sehen, dass es dir schlecht geht.“ Selbstverständlich sind gute Noten auch an dieser Schule wichtig. Die Schülerinnen und Schüler der Elisabeth-Selbert-Schule schneiden in Leistungsvergleichen sogar überdurchschnittlich ab. Aber Zensuren sind nicht alles. Gerät hier jemand in eine Krise, kommt Hilfe.Zwei Beratungslehrerinnen, zwei Schulsozialarbeiter, zwei Schulpastorinnen und ein Schuldiakon bilden das Beratungsteam. Mit sieben Personen gibt es damit doppelt so viele professionelle Beraterinnen und Berater wie an vergleichbar großen Schulen. Wie geht das? Eine kurze Phase in der Bildungspolitik des Landes Niedersachsen, als Schulen selbstständig über die Einstellung von Personal entscheiden konnten, nutzte Schulleiterin Gisela Grimm für eine geschickte Lösung: Die Pastorinnen und der Diakon sind Lehrer für Religion, mit einem Drittel ihrer Stelle arbeiten sie im Bereich Beratung. Michael Frey, kurze graue Haare, sportlicher Typ, ist Schuldiakon. „Bei Mobbing gehen wir sofort dazwischen“, sagt er. Weil es vor allem in den sogenannten sozialen Medien stattfindet, setzt man hier den Hebel an. Kommt es zu Mobbing, verbietet der Lehrer nach Absprache mit dem Berater für alle in der Klasse die Nutzung von Facebook und Whatsapp für Klassenthemen oder Äußerungen über Mitschüler. In Berufsschulen ist der Lehrer immer auch Vorgesetzter des Schülers. Hält sich ein Schüler nicht an das Verbot, bekommt er vom Lehrer prompt eine schriftliche Abmahnung in seine Personalakte. „Das machen wir seit zwei Jahren so, es hat eine hervorragende Wirkung“, sagt der Diakon.Ein Blatt mit Foto, Name und Handynummer jedes Mitglieds des Beratungsteams hängt in jedem Unterrichtsraum. Hilfe ist so schnell möglich, auch bei Problemen in der Familie oder mit dem Freundeskreis. Aber nicht nur Schüler, auch die Lehrer und die Schulrektorin kämen, berichtet der Diakon. Schließlich bräuchten auch sie immer wieder Beratung und Unterstützung. An der Elisabeth-Selbert-Schule hat man verstanden, dass es in jeder, besonders aber in der Berufsschule um mehr als die Vermittlung von Lernstoff geht. Und handelt auch so: Gut lernen lässt es sich nur in einem guten Leben.Placeholder authorbio-1
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