100 Tage und eine Woche

Covid-19 Die reichsten und vorgeblich effizientesten Länder sind am stärksten betroffen.

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Am 12. März hatte die WHO eine Pandemie ausgerufen, vor allem wegen eines starken Anstiegs von Covid-19-Infektionen in Europa . Seitdem sind 100 Tage und eine Woche vergangen. Es ist an der Zeit, unvoreingenommen zu betrachten, wie sich die Situation in verschiedenen Teilen der Welt entwickelt hat.

Dazu benötigen wir kaum Mathematik und keine Modelle. Wir betrachten die die von 208 Staaten international gemeldeten Daten, die tagesaktuell vom Offenen Datenportal der EU heruntergeladen werden können. Zusätzlich verwenden wir Bevölkerungszahlen, welche die Weltbank zur Verfügung stellt. Wo diese bei der Weltbank fehlen, entnehmen wir sie der englischsprachigen Wikipedia. Daten zum Bruttosozialprodukt (GDP) pro Kopf (per capita) beziehen wir auch von der Weltbank, außer für Taiwan, wo wir auf Daten von Trading Economics zurückgreifen.

Im Datenportal sind auch Überseeterritorien größerer Staaten sowie Zwergstaaten aufgeführt. Wir betrachten hier nur die 183 Länder mit mindestens 500’000 Einwohnern. Von diesen haben 27 keine Todesfälle gemeldet. Wie ich mehrfach dargelegt habe, kann allein aus der Zahl positiver Tests nichts Zuverlässiges über den Epidemieverlauf geschlossen werden. Wir haben also nur für 156 Staaten auswertbare Daten.

Die Gesamtzahl der bis zum 26. Juni gemeldeten, Covid-19 zugeordneten Todesfälle teilen wir durch die Einwohnerzahl und multiplizieren mit 100’000. Diese Zahl der Todesfälle je 100’000 Einwohner (Todesrate) ist eine Größe, mit der man die Schwere der Epidemie in verschiedenen Ländern seriös vergleichen kann. Etwas Vorsicht erfordert die Interpretation dieser Zahl dennoch und darauf gehe ich weiter unten ein.

Des Weiteren betrachten wir den Anteil (in Prozent) an positiv getesteten Personen, die dann gestorben sind und deren Tod Covid-19 zugeordnet wurde. Diese Zahl sagt etwas darüber aus, wie das Gesundheitswesen eines Staates mit der Epidemie bisher zurechtgekommen ist. Auch hier ist etwas Vorsicht bei der Interpretation vonnöten.

Schließlich stellen wir die Frage, ob die Todesrate mit dem Bruttosozialprodukt pro Kopf korreliert. Normalerweise würde man eine Antikorrelation erwarten, also einen geringeren Anteil an Todesfällen in reicheren Ländern. Man würde das deshalb annehmen, weil solche Länder in der Regel mehr für ihr Gesundheitswesen ausgeben und weil sie zumeist besser organisierte Institutionen haben, die bei der Abmilderung einer Epidemie von Vorteil sein sollten.

Einen Punkt müssen wir noch berücksichtigen. Die Epidemie befindet sich in verschiedenen Ländern in verschiedenen Stadien. In einigen Ländern ist die Welle vorbei und eine zweite Welle ist bei den Sterbefällen nicht auszumachen – bei den positiven Tests mitunter schon. In anderen Ländern steigt die Zahl der täglichen Todesfälle noch an oder hat den Höhepunkt gerade erst überschritten. Wir tragen dem Rechnung, indem wir die Daten gegen den mittleren Zeitpunkt der bisherigen Sterbefälle auftragen. Für Länder, die in dieser Darstellung weit rechts liegen, ist in den nächsten Wochen eine stärkere Zunahme der Gesamtzahl der Todesfälle zu erwarten als für diejenigen, die links liegen.

Ein westeuropäisches Problem

In Abbildung 1 ist die bisherige Todesrate gegen den mittleren Zeitpunkt der Sterbefälle aufgetragen., wobei die Kontinente farbkodiert sind. Fett gedruckt sind die Namen von Ländern, bei denen EUROMOMO eine signifikante Übersterblichkeitswelle durch Covid-19 findet. Kursiv gedruckt sind Länder, bei denen das nicht der Fall ist. In einer späteren Grafik wird auch Deutschland kursiv bezeichnet, weil in den Daten des Statistischen Bundesamts für ganz Deutschland und über alle Altersgruppen hinweg ebenfalls keine Übersterblichkeitswelle sichtbar ist. Die Namen aller anderen auf EUROMOMO nicht vertretenen Länder sind normal gedruckt.

Um die Daten einschätzen zu können, sollten wir die gesamte Sterberate kennen. Die Epidemie hat in verschiedenen Ländern verschieden lange gedauert. Wir beziehen uns auf einen mittleren Zeitraum von 2 Monaten. Weltweit sterben in diesem Zeitraum zwischen 25 (Katar) und 248 (Lesotho) von 100‘000 Einwohnern, wenn man das CIA Factbook heranzieht. In Deutschland sind es 193. Eine andere Vergleichszahl sind die 22‘425 Todesfälle durch Infektion der unteren Atemwege, die in einer 2018 in Lancet veröffentlichen weltweiten Studie für Deustchland im Jahr 2016 ermittelt wurden. Bis zum 26. Juni 2020 wurden laut Robert-Koch-Institut 8948 Todesfälle Covid-19 zugeordnet, also etwa 40% der in einem Jahr in Deutschland durch Atemwegsinfektionen zu erwartenden Todesfälle. Das Jahr ist fast zur Hälfte vergangen. Weltweit gab es 2016 laut der Lancet-Studie 2‘377‘697 Todesfälle durch Infektionen der unteren Atemwege. Der Covid-19-Pandemie wurden bisher weltweit knapp 500‘000 zugeordnet.

Beim Blick auf die Abbildung fällt auf, dass es im oberen Teil nur grüne Punkte gibt, also europäische Länder. Genauer gesagt sind es westeuropäische Länder. Das am stärksten betroffene ehemalige Ostblockland ist Moldawien und dieses ist weniger betroffen als die Schweiz. Die Schweiz ist ein wichtiger Bezugspunkt, weil die Übersterblichkeit durch Covid-19 hier ziemlich genau derjenigen durch die Grippewelle 2016/17 entspricht, sie war sogar etwas niedriger. Alle Länder, deren Punkte unterhalb desjenigen der Schweiz liegen, sind bisher weniger stark betroffen als durch Grippewellen, die in dieser Intensität alle zwei bis drei Jahre aufzutreten pflegen.

Oberhalb dieses Grippeniveaus liegen bisher außer westeuropäischen Ländern in der Reihenfolge steigender Todesraten Kanada, Ekuador, Brasilien und Chile, Peru und die USA. Mexico wird diese Schwelle demnächst überschreiten. Ob das in Panama, dem Iran und Armenien irgendwann geschehen wird, ist unklar. Die Zahl der stark betroffenen Länder ist weltweit überschaubar. Allerdings sind einige westeuropäische Länder zwischen doppelt und vierfach so stark betroffen wie bei einer Grippewelle.

Die auffällige Stärke der Epidemie in westeuropäischen Ländern kann verschiedene Gründe haben. Zunächst einmal sind diese Gesellschaften sehr stark vernetzt. Die Epidemiewelle ist hier schneller angestiegen als anderswo (außer Wuhan) und könnte damit schneller gewesen sein, als die nötige Reorganisation von Vorgehensweisen in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Im weltweiten Vergleich ist die westeuropäische Bevölkerung zudem im Mittel älter. Die Zahl der Covid-19-Todesfälle konzentriert sich sehr stark auf Menschen im Alter der mittleren Lebenserwartung.

Wir können aber auch nicht ausschließen, dass das Gesundheitswesen der westeuropäischen Länder, Kanadas und der USA schlecht mit solchen Situationen umgehen kann. Darauf komme ich weiter unten zu sprechen.

Noch ein westeuropäisches Problem

Eine Möglichkeit, etwas über die Leistung des Gesundheitssystems zu erfahren, ist in Abbildung 2 gezeigt. Hier ist - wieder gegen den mittleren Zeitpunkt der Epidemiewelle - der prozentuale Anteil der Sterbefälle an den positiven Tests aufgetragen. Auch diese Daten können durch einen schnelleren Anstieg der Welle und durch einen höheren Anteil bereits geschwächter Personen in der Gesamtbevölkerung beeinflusst sein. Die Wichtung der Leistung des Gesundheitssystems ist jetzt aber stärker. Hohe prozentuale Sterbeanteile erwartet man vor allem dann, wenn nur die schwersten Fälle getestet wurden, also die Testzahl nicht schnell genug erhöht werden konnte oder wenn die Behandlung weniger erfolgreich war als in anderen Ländern.

Außer dem von einem Bürgerkrieg betroffenen Jemen, Mexiko und Ungarn sind die Zahlen auch hier in einigen westeuropäischen Ländern am höchsten. Darunter sind mit Frankreich, Italien und Spanien gerade diejenigen, die am stärksten auf „social distancing“ bis hin zu drakonischen Ausgangssperren gesetzt hatten. Auffällig ist auch, dass China hier viel besser abschneidet, obwohl es als erstes Land betrofen war und der Anstieg zumindest in Wuhan ebenfalls sehr schnell war. Japan (nicht bezeichnet) liegt direkt bei den USA (ebenfalls nicht bezeichnet) und etwa auf dem gleichen Niveau wie China. Das ist deshalb von Interesse, weil Japan wie Westeuropa eine im Mittel sehr alte Bevölkerung hat. Bei Grippewellen ist die Seniorensterblichkeit in Japan höher als in den USA.

Effizient ist nicht effektiv

Der vielleicht erstaunlichste Befund ergibt sich in der Auftragung der Todesrate gegen das Bruttosozialprodukt pro Kopf (Abbildung 3). Die neun am stärksten betroffenen Länder sind reich. Acht davon liegen in Westeuropa, hinzu kommen die USA. Zu erwarten ist, dass Peru, Brasilien, Chile und Ekuador (hier nicht angeschrieben) im weiteren Verlauf in diese Gruppe gelangen, möglicherweise auch Mexiko. Bei den wirklich armen Ländern ist das aber in keinem Fall wahrscheinlich.

Dementsprechend korreliert die Covid-19-Todesrate positiv mit dem Bruttosozialprodukt pro Kopf. Der Korrelationskoeffizient ist mit 0,464 nicht sehr hoch. Er ist aber immer noch größer als die meisten Korrelationen von Regierungsmaßnahmen mit dem Epidemieverlauf, die ebenfalls mehrheitlich in die unerwartete Richtung gehen. In irgendeinem Sinne ist Covid-19 eine Krankheit der Reichen. Allein aus der Korrelation können wir aber nicht herleiten, in welchem Sinne.

Allerdings haben wir an diesem Punkt bereits drei Hinweise darauf, dass in den westeuropäischen Ländern, den USA und Kanada das Gesundheitswesen nicht so effektiv war, wie man hätte erwarten können, wenn man sein im Weltvergleich hohes Niveau berücksichtigt. In der Anfangsphase der Epidemie wurde in der Schweiz und in Deutschland viel über die Ausstattung mit Intensivbetten und Beatmungstechnik geredet. Diese Charakteristika sollten in Westeuropa und Nordamerika deutlich besser sein als anderswo. Zudem wurden auch noch erhebliche Reservekapazitäten freigehalten. Geholfen hat das offenbar nicht.

Die Gesundheitssysteme dieser Länder sind bekanntlich hocheffizient. Die Kosten sind jahrelang, wenn nicht jahrzehntelang gedrückt worden. Die Arbeitsintensität des Personals ist viel höher als in ärmeren Ländern. Der Auslastungsgrad der Einrichtungen wurde optimiert und ist in westlichen Ländern höher als in den ärmeren Ländern des Südens oder auch Osteuropas. Ausweislich der Lebenserwartung schien das (außer in den USA, die keine sehr beeindruckend hohe haben) lange vernünftig zu sein. Während einer heftigen Epidemiewelle ist es wohl aber nicht effektiv.

Nachtrag (28.6., 18:30 Uhr)

Normierung auf erwartete Todesfälle durch Atemwegsinfektionen

Eine weitere Darstellung können wir erhalten, indem wir die normalerweise infolgen von Atemwegsinfektionen erwarteten Todesfälle berücksichtigen. Die nötigen Daten sind im oben bereits zitierten Artikel der GBD 2016 Lower Respiratory Infections Collaborators in The Lancet Infectious Diseases verfügbar und zwar in Tabelle 12 des ergänzenden Anhangs. Für Kosovo und Westsahara liegen dort keine Daten vor, so dass diese Analyse für insgesamt 154 Länder durchgeführt werden kann. Die Daten beziehen sich auf 2016, sind aber für die Diskussion im Folgenden zuverlässig genug.

Ein solcher Bezug der Covid-19 zugeordneten Todesfälle auf die 2016 beobachteten Todesfälle durch Atemwegsinfektionen hat zwei Vorteile. Der erste ist, dass dadurch die zwischen Ländern verschiedene Häufigkeit und Schwere solcher Infektionen berücksichtigt wird. Diese kann durch den allgemeinen Gesundheitszustand und die Altersstruktur der Bevölkerung aber auch durch klimatische Bedingungen und die normale Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens beeinflusst sein. Medizinisch gesehen ist es die richtige Bezugsgröße, weil bei fast allen Covid-19 zugeordneten Todesfällen eine Infektion der unteren Atemwege ursächlich war, zumeist eine Lungenentzündung. Ähnlich ist das bei Grippeepidemien. Der zweite, etwas subtilere Vorteil ist, dass auch die unterschiedliche Zuordnungspraxis von Todesfällen in verschiedenen Ländern zumindest in gewissem Maße kompensiert wird.

Das hauptsächliche Problem bei dieser Normierung ist, auf welchen Zeitraum man sie bezieht. Ich wähle hier den gesamten Zeitraum der Epidemie vom ersten bis zum letzten vor dem 27. Juni gemeldeten Todesfall. Nehmen wir an, das seien T Tage gewesen und die Zahl der 2016 in einem Land durch Atemwegsinfektionen verursachten Todesfälle sei Z. Als Bezugsgröße verwende ich dann T x Z/366, denn 2016 war ein Schaltjahr. In Abbildung 4 sind die Covid-19 zugeordneten Todesfälle in Prozent dieser Bezugsgröße aufgetragen.

Nicht berücksichtigt sind hier saisonale Schwankungen der Sterbefälle durch Atemwegsinfektionen. Da die meisten davon in Europa in der „Erkältungssaison“ auftreten, die etwas überproportional im Covid-19-Epidemiezeitraum vertreten ist, dürften die Zahlen eher etwas überschätzt sein. Zu beachten ist auch, dass stärkere Grippewellen, wie etwas diejenige 2016/17 in der Schweiz oder 2018 in Deutschland zu Werten weit über 100% führen. Wiederum ist die Schweiz ein geeigneter Bezugspunkt, weil hier die Grippewelle 2016/17 und die Covid-19-Welle etwa zur gleichen Übersterblichkeit geführt haben. Das entspricht etwa 300% der normalerweise erwarteten Sterbefallzahl durch Atemwegserkrankungen.

Als „Nichtereignis“ bezeichne ich die Covid-19-Epidemie in einem Land, wenn der Wert unter 100% liegt (blaue gestrichelte Linie in Abbildung 4). Danach war Covid-19 bislang in 110 der betrachteten 154 Länder ein Nichtereignis (71,4%) - zumeist ganz im Gegensatz zur Corona-Krise. Die anderen 42 Länder sind in der Abbildung vollständig bezeichnet.

Um Auffälligkeiten zu erkennen, ist der Vergleich mit Abbildung 2 am Geeignetsten. Italien und Spanien sind nach der neuen Normierung deutlich stärker betroffen, weil sie normalerweise weniger Todesfälle pro Kopf durch Atemwegsinfektionen verzeichnen, während Belgien und insbesondere Großbritannien viel schwächer betroffen erscheinen. Zudem erscheinen jetzt einige kleine Golfstaaten recht stark betroffen, in denen es sonst kaum solche Todesfälle gibt. Belarus (Weißrussland) erscheint ebenfalls etwas stärker betroffen als in anderen Auftragungen, vermutlich, weil es Todesfälle anders zuordnet als die meisten anderen Länder. Gleichwohl war die Epidemie dort weniger ernst als etwa in der Schweiz und der Wert ist mit 177% nicht sehr auffällig. Im Großen und Ganzen bestätigt auch diese Auftragung den Eindruck, dass Westeuropa, die USA und Kanada besonders stark betroffen sind.

Danksagung

Eine Interviewfrage von Tilo Gräser hat mich dazu gebracht, nach Sterblichkeitsdaten für Atemwegsinfektionen zu suchen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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