Angemessene Reaktion

Corona-Krise In diesem Spätherbst und Winter wird sich entscheiden, ob die westlichen Gesellschaften angesichts einer Krise zusammenhalten können.

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Stabile Kontrolle

Große Teile der Politik, der Justiz, der Ärzteschaft und der Wissenschaft haben verstanden, dass man der zweiten Covid-19-Welle nicht so begegnen kann, wie man der ersten Welle begegnet ist. Anders als im März findet eine öffentliche, kontroverse Diskussion über die angemessene Reaktion statt. Selbst zwischen den etablierten politischen Parteien werden wieder Unterschiede sichtbar. Vorerst führt das jedoch eher zu Verwirrung als zu einer angemessenen Reaktion. In Deutschland werden Risse sogar zwischen der Kanzlerin und den Ministerpräsidenten der Bundesländer sichtbar – in einem Gremium übrigens, das im Grundgesetz gar nicht vorgesehen ist, schon gar nicht als Entscheidungsträger. Nichts scheint mehr zu gelten und wenn etwas gilt, weiß man in aller Regel nicht, wo gerade was.

Das ist das Gegenteil von stabiler Kontrolle der Situation. Ein Konzept zur stabilen Kontrolle des Infektionsgeschehens ist bereits Ende Juni von einer Expertengruppe um Prof. Dr. med. Matthias Schrappe (Universität Köln) entwickelt worden. Herr Schrappe war 2007-2011 Stellv. Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit und Generalbevollmächtigter des Aufsichtsrates des Klinikums der Universität Frankfurt/Main. Er ist am 9. September 2020 im Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages als Sachverständiger zur Covid-19-Pandemie befragt worden. In der Expertengruppe arbeiten weitere Mediziner, Juristen, ein Politikwissenschaftler und ein Naturwissenschaftler mit, die Erfahrungen aus verschiedenen Gremien und Expertenbeiräten einbringen. Das Thesenpapier zur stabilen Kontrolle ist am 8. Oktober zum letzten Mal aktualisiert worden. Wie aus einer Ad-hoc-Stellungnahme hervorgeht, hatte die Expertengruppe auch eine Quelle bei der Konferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder am 14. Oktober 2020.

Das Konzept ist besser begründet, als alles, was breiter in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Es ist datenbasiert, ohne dass die Schwächen der Daten verschwiegen würden. Epidemiologische, medizinische, gesundheitspolitische und sozialpolitische Aspekte werden gemeinsam betrachtet. Die Gruppe gibt seit dem 5. April Empfehlungen ab, wie eine angemessene Reaktion auf die Pandemie aussehen könnte. Nachdem ich mir die Mühe gemacht hatte, ihre gut geschriebenen und nicht übermäßig langen Thesenpapiere zu lesen, stellt sich mir die Frage, warum die Politik nicht auf solchen professionellen Rat hören will und stattdessen auf Experten vertraut, die im Talkshow-Stil argumentieren.

Ein Schlüsselsatz des Ad-hoc-Papiers vom 14. Oktober ist dieser: „Diese Informationen können nur bedeuten, dass sich die Epidemie in der Bevölkerung trotz aller Einschränkungen praktisch ungehemmt ausbreitet.“ Die Entwicklung seit dem 14. Oktober hat diesen Satz nicht entkräften können – im Gegenteil. Wir befinden uns gegenwärtig nicht in einer Situation stabiler Kontrolle der Epidemie. Im Folgenden diskutiere ich, was das genau bedeutet, aus welchen Gründen die Kontrollansätze wahrscheinlich versagt haben und wie in dieser Situation eine angemessene Reaktion aussehen kann.

Steigt die 2. Welle exponentiell an?

Von Seiten der Politik und sogar einiger Wissenschaftler wird immer wieder gern mit dem bedrohlichen exponentiellen Anstieg der Infektionszahlen argumentiert und es werden Maßnahmen mit exponentiellen Vorhersagen begründet. Es ist daher von Interesse, ob die Zahlen tatsächlich exponentiell steigen. Ich diskutiere das zunächst anhand der Schweizer Daten, die detaillierter sind und auch in konsolidierter Form vorliegen. Wir werden danach sehen, dass der zeitliche Verlauf im Oktober demjenigen in Deutschland stark ähnelt.

Der rasante Anstieg der Zahl positiver Tests begann sowohl in der Schweiz als auch in Deutschland etwa Anfang Oktober. Ich habe die letzten 6 Septembertage in die Auswertung einbezogen und betrachte die seit dem 25. September aufsummierten Daten, was zulässig ist, weil das Integral einer Exponentialfunktion wieder eine Exponentialfunktion mit dem gleichen Anstieg ist. Wie die linke obere Grafik in Abbildung 1 zeigt, wächst die Zahl positiver Tests derzeit stark an, wie die rechte obere Grafik zeigt, allerdings schwächer als exponentiell. Zudem sieht man, dass der starke Anstieg schon Ende September begann, dort aber wegen der niedrigen absoluten Zahlen psychologisch weniger auffiel.

Eigentlich muss man aber berücksichtigen, dass in dieser Zeit auch die Zahl der täglich unternommenen Tests angestiegen ist. Normiert man auf diese, so sieht man in den einzelnen Wochen im Rahmen der Streuung der Daten exponentielle Anstiege (Abbildung 1, linke untere Grafik). Die Rate dieser Anstiege nimmt jedoch von Woche zu Woche ab. Relevanter ist der Anstieg in der Zahl der Hospitalisierungen (rechte untere Grafik). Auch dieser ist subexponentiell. Hier ist der starke Anstieg Ende September/Anfang Oktober noch deutlicher als bei den positiven Tests. Die wahrscheinlichste Erklärung dafür findet sich bei Schrappe und Kollegen. Sie konstatieren einen Übergang von einem dominant herdförmigen zu einem dominant sporadischen Ausbreitungstyp. Der sporadische Ausbreitungstyp ist für Risikogruppen gefährlicher, weil sie sich dagegen schlechter absichern können. Ferner sieht man noch, dass der Rückgang der Wachstumsrate gegenüber derjenigen vom 4.-10.10. bei den Hospitalisierungen später einzutreten scheint. Auch das ist nicht unerwartet. Die Hospitalisierungen sind gegenüber den positiven Tests im Mittel etwas verzögert.

Für Deutschland existieren weder konsolidierte Daten, noch tagesgenaue Gesamtzahlen der Tests noch tagesgenaue Hospitalisierungszahlen. Ich kann daher nur das Äquivalent der rechten oberen Grafik in Abbildung 1 anbieten. Dieses ist in Abbildung 2 gezeigt. Der zeitliche Verlauf ähnelt demjenigen in der Schweiz verblüffend. Das war nicht zu erwarten, weil in der Schweiz die Zahl der positiven Tests pro Einwohner im gesamten Zeitraum deutlich höher war als in Deutschland, die Gesamtzahl der Tests je Einwohner jedoch geringer, so dass der Anteil positiver Tests um einen Faktor 3-5 höher ausfällt.

Zuletzt sei noch bemerkt, dass selbst die Dynamik des Anteils positiver Tests (Abbildung 1, linke untere Grafik) die tatsächliche Dynamik noch überschätzt. Die Tests haben sich nämlich in diesem Zeitraum stärker auf symptomatische Personen verlagert, was bedeutet, dass die Verdünnung durch Gelegenheitstests an asymptomatischen Personen, die zum Teil nicht einmal Verdachtsfälle waren, sondern nur verreisen wollten, in diesem Zeitraum deutlich abgenommen hat. Dadurch sollte der Anteil positiver Tests stärker angestiegen sein als die Covid-19-Prävalenz in der Bevölkerung und das in zunehmenden Maße, je knapper die Testkapazitäten wurden.

Helfen strenge Maßnahmen?

Auch ein weniger als exponentielles Wachstum kann bedrohlich sein. Bereits weiter oben hatte ich bemerkt, dass das Ausbreitungsgeschehen derzeit nicht unter Kontrolle ist. Man könnte allerdings einwenden, dass unkontrollierte Ausbreitung geradezu das Wesen einer Epidemie ist. In diesem Sinne gab es zwischen Anfang Juni und Ende September keine epidemische Situation in der Schweiz und in Deutschland. Es gab viel Zeit für eine Manöverkritik des Handelns während der ersten Welle, dafür, die Datenerhebung in Ordnung zu bringen und vernünftige Kennzahlen zu definieren, sowie für repräsentative Untersuchungen des Immunstatus und für die Aufstellung repräsentativer Kohorten. Diese Zeit wurde vertan.

All diese Dinge sind von verschiedener Seite eingefordert worden, ohne dass sich die Verantwortlichen auch nur bemüßigt fühlten, darauf zu antworten. Jetzt ist die zweite Welle da und unsere Windschutzscheibe ist noch fast genauso blind wie in der ersten. Deshalb besteht die Gefahr, dass wieder in die gleichen Muster strenger Einschränkungen verfallen wird, wie das in Nachbarländern bereits zu beobachten ist. Es ist deshalb angebracht zu untersuchen, ob es Evidenz für die Wirksamkeit dieser Maßnahmen gibt.

Dazu untersuche ich zuerst einen Vergleich, den die deutschen Journalisten im Sommer liebten und nun nicht mehr ziehen. Es ist derjenige zwischen Brasilien und Argentinien (Abbildung 3). Das Narrativ ging so: Argentinien hat eine verantwortungsvolle Regierung, Brasilien hat Bolsonaro, der Covid-19 nicht ernst nimmt. Entsprechend verläuft die Epidemie in Brasilien viel schwerer als in Argentinien und es gibt viel mehr Tote. Schaute man im Juni bis August auf die Daten nur dieser beiden Länder, so erschien die Hypothese plausibel. Sie ging allerdings schon damals zum Teufel, wenn man Peru einbezog, das ähnlich strikt war wie Argentinien und ähnlich schwer betroffen wie Brasilien. Mittlerweile ist Peru (bis auf San Marino, dessen Daten bei nur 33‘785 Einwohnern statistisch nicht aussagekräftig sind) das weltweit am stärksten betroffene Land. Gleichzeitig ist es das im Mittel viertstrengste bei den Regierungsmaßnahmen, nur ganz knapp hinter Honduras und Oman, die sich Platz 2 und 3 teilen. Argentinien ist das weltweit strengste.

Tatsächlich ist Argentinien (64.3 Todesfälle/100‘000 Einwohner) immer noch etwas weniger betroffen als Brasilien (74.9), aber das wird sich voraussichtlich bald umkehren. Die Sterberate pro Einwohner ist derzeit in Argentinien mehr als dreimal so hoch wie in Brasilien und sie steigt noch, während sie in Brasilien sinkt. Währenddessen hat der lange Lockdown die argentinische Wirtschaft ruiniert. Auch die Mär vom laxen Brasilien ist Unsinn und ist das immer gewesen, wie die linke untere Grafik in Abbildung 3 zeigt. Brasilien war nie signifikant laxer als Deutschland und blieb im Sommer und bis jetzt auf dem Niveau des deutschen Lockdowns.

Aus dem Beispiel lassen sich drei Lehren ziehen. Erstens: Wer seine Information unreflektiert aus den Medien bezieht, auch aus öffentlich-rechtlichen, hat ein systematisch verzerrtes Bild der Lage. Diese Erkenntnis ist nicht sonderlich neu, aber nicht sehr weit verbreitet. Zweitens: Die relative Betroffenheit von Ländern durch Covid-19 kann sich im Laufe der Zeit stark ändern, auch bei Nachbarländern. Eine Verzögerung der Ausbreitung ist kein Wert an sich. Frühestens nach dem vollen Pandemiezyklus werden wir sicher wissen, welche Auswirkungen bestimmte Vorgehensweisen hatten. Drittens: Strenge Einschränkungen sind kein Wundermittel gegen Covid-19, nicht einmal dann, wenn sie sieben Monate auf sehr hohem Niveau aufrechterhalten werden.

All diese Schlussfolgerungen sind sicher, obwohl es sich zunächst nur um ein anekdotisches Beispiel handelt. Die mangelnde Effektivität strenger Maßnahmen wird aber auch von einer umfassenden Auswertung belegt, die alle 139 Länder einbezieht, die mehr als 2 Millionen Einwohner haben und für die vom 25. März (zwei Wochen nach Deklaration von Covid-19 als Pandemie durch die WHO) bis zum 8. Oktober (spätere Änderungen sollten die Zahl der Todesfälle bis zum 23 Oktober kaum beeinflusst haben) Daten des Oxford-Strenge-Index vorliegen (untere rechte Grafik in Abbildung 3). Der mittlere Oxford-Strenge-Index ist durchaus mit der Pro-Kopf-Zahl der Todesfälle korreliert, wenn auch nur relativ schwach (Korrelationskoeffizient 0.419). Nur ist diese Korrelation eben positiv – strengere Maßnahmen, mehr Tote. Die Kausation dürfte umgekehrt sein. Je schwerer die Epidemie, desto strenger die Maßnahmen, die getroffen werden. Zu den Schäden der Epidemie kommen dann noch die Kollateralschäden der Maßnahmen dazu. Wie in Argentinien dürften in vielen Ländern die Kollateralschäden die schwereren sein.

Sinn und Unsinn der Kontaktverfolgung

Eine Maßnahme, die noch relativ geringe Kollateralschäden verursacht, ist die Kontaktverfolgung (contact tracing) mit anschließender Quarantäne für ermittelte Erstkontakte. Das kostet Geld, auch durch die Quarantäne, aber es zerstört in der Regel keine Existenzen und die Einschränkungen sind zeitlich eng begrenzt. Kontaktverfolgung hat sich bei Ebola als hochwirksames Mittel erwiesen. Allerdings war Ebola wegen der Geschwindigkeit des Krankheitsverlaufs eine Epidemie, die sich wieder „einfangen“ ließ. Das trifft auf Covid-19 offensichtlich in den meisten Ländern der Welt nicht zu. Außer in China und eventuell Taiwan scheint das nirgends gelungen zu sein. Die Durchdringung ist mittlerweile überall sonst so hoch, dass ein Wiedereinfangen völlig unrealistisch ist – und jede und jeder weiß das auch.

Kontaktverfolgung kann dann nur der Verringerung der Ausbreitungsgeschwindigkeit dienen. Das kann immerhin noch sinnvoll sein, um eine Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern. Ganz offensichtlich ist die Kontaktverfolgung aber bezüglich der Ausbreitungsgeschwindigkeit in Europa gescheitert und zwar auch in hochorganisierten Ländern mit starken und gut ausgestatteten Institutionen, wie Deutschland und der Schweiz.

Hinterher ist man immer schlauer. Die Kontaktverfolgung war ein brauchbares Mittel, solange der Herdausbreitungstyp dominierte. Die zweite Welle setzte durch eine Verstärkung sporadischer Ausbreitung ein. In dieser Situation hätte die Kontaktverfolgung sehr schnell sein müssen, wenn sie überhaupt eine Chance haben sollte. Das war sie nicht. In der Schweiz bekamen in den letzten zwei Wochen viele Leute den Brief mit der Quarantäneanordnung wenige Tage vor Ablauf der Quarantäne, einige sogar am letzten Tag oder einen Tag danach. Ich kenne die Abläufe nicht, vermute aber stark, dass ein Mangel an Priorisierung die Ausbreitung begünstigt hat.

Um das zu erklären, wähle ich ausnahmsweise ein militärisches Beispiel aus der Luftabwehr. Ein Luftverteidigungssystem hat eine gewisse Zahl von Zielkanälen, die gleichzeitig Ziele verfolgen und bekämpfen können. So lange weniger Flugzeuge angreifen als es Zielkanäle gibt, ist die Aufgabe nicht ungefährlich, aber intellektuell einfach. Sind es mehr, dann muss man priorisieren, das heißt, die gefährlichsten Angreifer zuerst bekämpfen. Dazu muss man die Gefährlichkeit nach einfachen Kriterien abschätzen – man hat ja weder viel Zeit noch vollständige Information. Bei dieser Abschätzung kommt es zu Fehlern. Es ist aber immer noch besser, fehlerbehaftet zu priorisieren als gar nicht.

Im Fall der Kontaktverfolgung von Covid-19 müsste man doppelt priorisieren, bezüglich der Infektiosität der positiv Getesteten und bezüglich der Weiterverbreitungswahrscheinlichkeit durch die Kontakte. Bezüglich beider Kriterien könnte man Information haben. Die Tests sind PCR-Tests und man weiß nicht nur, ob sie positiv oder negativ waren, sondern auch bei welcher Zyklenzahl das positive Ergebnis detektiert wurde (Ct-Wert). Generell gilt: je niedriger der Ct-Wert des gleichen Tests bei gleicher Durchführung, desto höher die zu erwartende Infektiosität. Es würde helfen, wenn man Daten über den Zusammenhang von Infektiosität und Ct-Wert für alle verwendeten Tests hätte, aber mittelmäßig gute Information ist auch hier besser als gar keine. Die Kontaktverfolger müssen den Ct-Wert mitgeteilt bekommen und der nächste freie Kontaktverfolger bearbeitet den bis dato unbearbeiteten Fall mit dem geringsten Ct-Wert.

Die zweite Information erhält man vom Getesteten selbst, den man ja ohnehin nach den Kontakten befragt. Die höchste Priorität unter den Kontakten haben Mitarbeiter in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Danach kommen Leute, die anderweitig beruflich Kontakt mit vielen Menschen haben. Darunter geht es nach Familiengröße der Kontakte.

Wenn man Kontaktverfolgung betreibt, dann sollte man sie in dieser oder einer ähnlichen Weise doppelt priorisieren. Die Blavatnik School of Government hat übrigens Kontaktverfolgung in ihren Index aufgenommen. Auch hier ist es so, dass mehr Todesfälle im Mittel in den Ländern auftreten, die mehr Kontaktverfolgung betreiben. Die Korrelation ist aber nur schwach mit einem Korrelationskoeffizienten von 0.296.

Was tun? Что де́лать?

Der Mensch neigt dazu, irgendetwas zu tun, wenn er sich bedroht fühlt – es muss keinen Sinn haben. Eine schöne Beschreibung finden Sie im dritten Band der Trisolaris-Trilogie von Cixin Liu, als es zu einem Fehlalarm bezüglich eine Photoid-Angriffs auf das Sonnensystem kommt. Leute wollen panikartig die Erde verlassen, obwohl es praktisch (und theoretisch) gar keine Chance des Entkommens gibt. Die gleiche Szene behandelt übrigens ein besonders schmerzhaft gestelltes Triage-Problem. Die Anwendbarkeit der Trisolaris-Trilogie auf die Corona-Krise ist wirklich verblüffend.

Derartiger Handlungszwang dürfte ein Gutteil der Erklärung für das sein, was die Politik in der ersten Welle getan hat und im Begriff ist, wieder zu tun. Wie einige der Protagonisten bei Cixin Liu, die mit ihren Fusionstriebwerken auf dem Parkplatz inmitten anderer Raumfähren und Menschen abheben, nimmt man da auch schon mal Kollateralschäden in Kauf, um die eigene Haut zu retten.

Es gibt aber tatsächlich einige Dinge, die sinnvoll wären. Niemand von uns möchte ein überlastetes Gesundheitssystem und Triage erleben, wenn sich das irgendwie vermeiden lässt. Jeder von uns möchte die Zahl der Todesfälle so gering wie möglich halten. Und die meisten von uns möchten, dass die gesellschaftliche Ordnung stabil bleibt – und die Länder regierbar bleiben. Daraus ergeben sich einige Vorschläge, die umsetzbar wären.

1. Patientenverteilung

Kapazitätsprobleme sind lokal und temporär, mindestens, wenn man die ganze Europäische Union betrachtet – und die Schweiz würde in dieser Hinsicht sicher bilateral mitarbeiten. Die sauberste und effizienteste Lösung ist subsidiär. In Deutschland sollte jeder Landkreis, in der Schweiz jeder Kanton Verteilungspläne haben. Deren Grundprinzipien sind kürzest mögliche Transportwege und eine Inkraftsetzung bereits deutlich vor Erreichen der Kapazitätsgrenze einzelner Spitäler. Auf Landkreisebene wird auch die Gesamtkapazität im Auge behalten. Nähert man sich dieser zu stark, tritt das gleiche Prinzip auf Bundeslandebene in Kraft. Wird es dort oder in einem Kanton eng, geht es auf Bundesebene. Sollte es auch dort noch eng werden, auf EU-Ebene. Die EU-Kommission könnte hier endlich mal beweisen, dass sie nicht nur ein Schönwetterbetrieb ist, sondern auch in der gegenwärtigen Krise etwas beitragen kann. Natürlich muss man die Regierungschefs gewinnen, aber am Ende kann es jedes Land treffen und alle haben ein gemeinsames Interesse. Es muss nur jemand die Initiative ergreifen, um sie zusammenzubringen. Das Verteilsystem sollte übrigens zwei Stränge haben, einen für Intensivpatienten und einen für mittelschwere Fälle. Auch bei den letzteren möchte man kein Kapazitätsproblem bekommen.

2. Blindflug beenden

Es ist inzwischen hinreichend klar, dass die Daten nichts taugen, weder zum Verständnis der Pandemie noch zur Steuerung. Was immer andere Länder glauben tun zu müssen, die Schweiz und Deutschland sollten ihre Datenerfassung in Ordnung bringen. Jeder positive Test kostet viel Geld (die negativen muss man ja mitrechnen). Man sollte daher alle sinnvolle und verfügbare Information speichern. Das sind der Ct-Wert (bei mehreren Genabschnitten eventuell auch mehrere), die getesteten Genabschnitte, das verwendete Testkit und ob der Fall Teil eines Herdausbruchs ist, sofern das bekannt ist. Es ist kein Hexenwerk, eine Datenbank zu unterhalten, die all diese Information speichert. Es ist auch kein Hexenwerk, digital zu übermitteln, aber nicht einmal die Schweiz scheint das zu können.

Damit sind die Daten immer noch nicht zwischen Regionen und Ländern und zu verschiedenen Zeitpunkten vergleichbar. Dazu braucht es eine einheitliche und konstante Teststrategie, die allen Tests zugrunde liegt, die in diese Datenbank eingehen. Die Gesamtzahl dieser Tests pro Labor und Tag ist mit zu erfassen. Man kann durchaus aus praktischen Gründen zusätzliche Tests durchführen, nach Mustern, die je nach regionalen und temporären Erfordernissen variieren. Nur gehören diese Tests und deren Ergebnisse nicht in die gleiche Datenbank. Wenn die WHO und die Johns Hopkins University etwas Anderes wollen, lasst sie heulen. Man muss es professionell machen und nicht, wie die es wollen.

Zusätzlich zu den PCR-Tests braucht es Antikörper-Tests und zwar von repräsentativ ausgewählten und hinreichend großen Kohorten. Die Antikörper-Tests sind weniger zeitkritisch, müssen nicht an infizierten Personen durchgeführt werden und sind übrigens auch billiger. Wichtig sind sie, um den Immunstatus der Bevölkerung und dessen zeitliche Entwicklung zu erfassen. Das sollte schnell etabliert werden, weil die zweite Welle bereits läuft.

Zusätzlich sollte man wissenschaftliche Projekte vergeben, die systematisch den Zusammenhang zwischen dem Ct-Wert von PCR-Tests, und der Vermehrungsfähigkeit von Viren aus dem gleichen Abstrich untersuchen. Diesen Zusammenhang muss man zur Einschätzung der PCR-Ergebnisse kennen.

3. Effekt von Maßnahmen kontrollieren

Zunächst einmal sind nur Maßnahmen zu ergreifen, die auch plausibel sind. Wer Restaurants ab 22 oder 23 Uhr schließen will, sollte eine Studie haben, die zeigt, dass unter Restaurantbesuchern nach 22 oder 23 Uhr besonders viele Infektionen übertragen werden. Ich kann keinen Grund für diese Annahme erkennen und das geht auch einem ehemaligen Präsidenten des deutschen Bundesverfassungsgerichts so.

Auch plausible Maßnahmen müssen nicht notwendigerweise effektiv sein. Für fast keine nichtpharmazeutische Maßnahme (Ausnahme: Quarantäne) gibt es starke Evidenz ihrer Wirksamkeit – zumindest nicht unter den Bedingungen, unter denen sie im Kontext von Covid-19 umgesetzt werden. Es fallen so viele Daten an, dass man nach solcher Evidenz – oder ihrer Abwesenheit – suchen kann. Dafür sind alle Daten (anonymisiert natürlich) öffentlich zu machen, einschließlich einer genauen Beschreibung, wie sie erhoben wurden. So etwas wäre bei einer eventuellen dritten Welle hilfreich, je nach Entwicklung der Situation auch schon zu einem späteren Zeitpunkt in der zweiten Welle.

Maßnahmen zu treffen, nur um den Anschein einer staatlichen Fürsorge zu erwecken, kann eine Weile funktionieren, so lange es nicht durchschaut wird. Es kann sogar legitim sein, wenn es darum geht, eine Panik zu verhindern. Aber gleichzeitig Panik zu erzeugen und dann Scheinmaßnahmen genen das Problem zu ergreifen, ist nicht besser als das Verhalten eines Dealers.

Fazit

Die zweite Covid-19-Welle ist da. Wir sind aus ideologischen Gründen schlecht darauf vorbereitet. Die Sache sollte endlich aus der Hand derjenigen Experten genommen werden, die entweder aus eigenem Antrieb Propaganda betreiben oder sich für solche einspannen lassen. Sie sollte in die Hand derjenigen Experten gelegt werden, die sauber die Situation analysieren und sauber argumentieren. Es gibt sie. Professor Schrappe und seine Kollegen sind nicht einmal die Einzigen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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