Bewaffnete Hilflosigkeit

Berlin Dumm und mit Initiative – diese Dilettantenvariante ist die gefährlichste für militante Unternehmungen. (Irmtraud Morgner, Amanda. Ein Hexenroman)

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Innerhalb von weniger als einer Woche hat die Bundesregierung – wie wir sehen werden unter Missachtung des Völkerrechts und der Verfassung – ein deutsches militärisches Eingreifen in Syrien beschlossen und durch den Bundestag absegnen lassen. Selbst die Journalisten öffentlich-rechtlicher Sender waren sichtlich ungehalten. Der Aktion liegt offensichtlich keine Lageanalyse, keine strategische Planung und kein politisches Konzept zugrunde. Dieser Artikel analysiert, warum die Bundesregierung diese Dummheit begeht und wohin das vermutlich führen wird. Dazu müssen wir als erstes rekapitulieren, wie die gegenwärtige Situation in Syrien entstanden ist.

Kurze Geschichte des syrischen Bürgerkriegs

In den vier Jahrzehnten bis 2011 war in vielen arabischen Ländern die Bevölkerung viel schneller gewachsen als die Wirtschaftskraft und Infrastruktur, in Syrien in besonderem Maße. Die resultierenden sozialen Spannungen führten zur Unzufriedenheit mit den Regierungen jedweder Couleur und entluden sich schließlich im Arabischen Frühling. Der Westen, die Türkei und die Golfstaaten erkannten ihre Chance, eine syrische Regierung loszuwerden, die nicht ihr Verbündeter war, sondern derjenige des Iran, Russlands und der Hisbollah-Milizen im Libanon. Sie riefen sofort zum Regimewechsel auf. Das führte wunschgemäß zu einer schnellen Eskalation des Konflikts. Einheiten der syrischen Armee desertierten, bezeichneten sich als Freie Syrische Armee (FSA) und griffen andere Einheiten der syrischen Armee an. Die Gegner al-Assads im Ausland unterstützten die FSA propagandistisch und materiell. Bis Ende 2012 entwickelte sich die militärische Lage zugunsten dieser Gegner.

Nach zähen Verhandlungen mit der zerstrittenen Opposition gegen al-Assad (und vermutlich auch untereinander) gelang es dem Westen, der Türkei und den Golfstaaten im November 2012 den Anschein einer Exilregierung zu installieren. Diese Regierung war formell als säkular angelegt und sollte Vertreter aller Religionen und Volksgruppen enthalten, wobei sich allerdings kein kurdischer Politiker bereitgefunden hatte, an dem Projekt teilzunehmen. Diese säkulare und inklusive Anlage kann weder im Interesse der Golfstaaten noch in demjenigen der Türkei gewesen sein, war aber für die US-Regierung unabdingbar, weil nur so Mittel freigemacht werden konnten, mit denen die CIA FSA-Kämpfer trainieren und der FSA „nichttödliche“ Ausrüstung bereitstellen konnte. Zu diesem Zweck wurde die FSA auch kurzerhand als Armee der Exilregierung deklariert. Auch Israel hat die FSA mit Waffen und durch medizinische Behandlung ihrer Kämpfer unterstützt, wie im August 2014 bekannt wurde.

Die ausländischen Regierungen gingen zu diesem Zeitpunkt davon aus, das die al-Assad-Regierung innerhalb weniger Monate fallen würde oder ließen diese Ansicht doch zumindest durch ihre Propagandaapparate verbreiten. Bis zum 13. Dezember 2012 gelang es, 88 Staaten dazu zu bringen, diese Regierung als „legitime“ oder „einzig legitime“ Vertretung des syrischen Volkes anzuerkennen (die UNO hatte zu diesem Zeitpunkt etwa 190 Mitglieder). Im März 2013 kam noch Malta dazu, das mit der Anerkennung der Regierung wenigstens gewartet hatte, bis auch ein Premierminister ernannt wurde.

Wir wissen bis heute nicht, ob die Geheimdienste damals die Situation schön färbten, ob die Regierungen unangenehme Warnungen in den Wind schlugen, oder ob sie die Öffentlichkeit und andere Staaten gezielt desinformierten. Sicher ist hingegen, dass die FSA nie als Armee mit einer zentralen Kommandostruktur existierte. Die regionalen und lokalen oppositionellen Einheiten kämpften unter diesem Markennamen, um materielle Unterstützung zu erhalten, legten aber ihre Taktik und politische Ausrichtung selbst fest. Die wenigsten erkannten die Exilregierung an und vor allem agierten sie alle kurzfristig, taktisch und regional statt langfristig, strategisch und national. Zudem konnten sie in den von ihnen beherrschten Territorien die öffentliche Ordnung nicht aufrechterhalten und keine sozialen Dienste bereitstellen. Diese wurden alsbald von islamischen und islamistischen Gruppen organisiert. Dagegen neigten FAS-Kämpfer zur Repression der Bevölkerung.

Im April 2013 wendete sich das Blatt. Der erste Präsident der Exilregierung trat bereits am 24. März 2013 zurück und nachdem die Koalition den Rücktritt abgelehnt hatte, bekräftigte er diesen noch einmal am 21. April. Die Regierungstruppen traten mit Unterstützung von Hisbollah-Einheiten zu einer Gegenoffensive an, die angesichts der Zersplitterung der FSA und ihres fehlenden Rückhalts in der Bevölkerung erfolgreich war. Im Juni 2013 zeichnete sich ab, dass ein Regimewechsel nicht mehr zu erwarten war, wenn die militärische Situation nicht grundlegend verändert werden konnte.

Den Falken in den Sicherheitsstrukturen der USA gelang es zunächst, eine solche Veränderung vorzubereiten. Obama hatte zuvor gesagt, ein Einsatz von Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung durch al-Assad sei eine „rote Linie“. Am 21. August 2013 kam es zu einem Chemiewaffenangriff auf einen Vorort von Damaskus, der von Oppositionskräften gehalten wurde. Obama willigte schließlich in Luftschläge gegen die syrischen Regierungstruppen ein, gab aber bekannt, er werde zuvor den Kongress konsultieren. Wir wissen auch nicht, wer die Washington Post dazu brachte, im Vorfeld der bereits angesetzten Abstimmungen die Abgeordneten zu befragen und praktisch täglich eine Projektion des Abstimmungsergebnisses zu veröffentlichen. Wir wissen, was diese Projektion aussagte. Je näher die Abstimmung kam, desto stärker zeichnete sich eine deutliche Ablehnung durch das Repräsentantenhaus ab und desto wahrscheinlicher wurde eine Ablehnung auch durch den Senat. Das britische Parlament hatte eine Beteiligung bereits abgelehnt. In dieser Situation waren Obama und sein Außenminister Kerry gezwungen, auf einen halbwegs gesichtswahrenden Vermittlungsvorschlag Russlands zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen einzugehen.

An diesem Punkt löste sich der westliche Einfluss auf die Vorgänge in Syrien praktisch in Luft auf. Die Exilregierung wurde irrelevant, die FSA verlor große Mengen ihrer Kämpfer an die sunnitisch-islamischen und islamistischen Verbände, die nun das Mittel der Wahl der Golfstaaten und wohl teilweise auch der Türkei waren. Innerhalb weniger Monate bildeten sie sich zum militärischen Hauptgegner der syrischen Regierungstruppen heraus. Sowohl zwischen der FSA und diesen Gruppen als auch unter diesen Gruppen gab es immer wieder interoppositionelle Kämpfe. Koalitionen wechselten schnell und nach lokal taktischen Gesichtspunkten.

Bereits im April 2013, als die syrische Armee und die FSA- Einheiten in schwere Kämpfe verwickelt waren, begann sich der IS (oder Da-esh) herauszubilden und zunächst Gebiete zu besetzen, um die sich die anderen Kräfte aus logistischen oder strategischen Gründen nicht kümmern konnten. Bekannt ist, dass hochrangige IS-Vertreter zumindest in der Anfangsphase Kontakt mit türkischen Offiziellen hatten. Im Sommer 2014 beherrschte der IS bereits ein Drittel des syrischen Territoriums und fast die gesamte syrische Öl- und Gasproduktion. An diesem Punkt fiel den USA, vor allem auch wegen spektakulärer militärischer Erfolge des IS im Irak auf, dass hier ein Gegner des Westens entstand, der gefährlicher werden konnte, als es al-Assad je gewesen war. Am 23. Oktober 2014 begann die US Air Force, den IS auch in Syrien aus der Luft anzugreifen. Im Oktober 2014 bis Februar 2015 besiegte eine Koalition der islamistischen al-Nusra-Front mit IS-Unterstützung im Norden sowohl die Regierungstruppen als auch die dortigen Truppen der FSA. Trotz der Luftschläge der USA führte der IS auch allein im Mai bis September 2015 eine erfolgreiche Offensive in Syrien durch, welche durch die Einnahme von Palmyra auch im Westen bekannt wurde. Nach einem Jahr von US-Luftschlägen beherrscht der IS inzwischen nicht mehr etwa ein Drittel sondern etwa 60% des syrischen Territoriums.

Ab August 2015 begann Russland, seine Präsenz in Syrien auszubauen und ab dem 30. Oktober 2015 führte Russland auf Bitten al-Assads Luftschläge gegen verschiedene Gegner seiner Regierung aus, darunter den IS und die FSA. Damit verringerte sich der potentielle Einfluss des Westens auf die Lage in Syrien noch einmal drastisch. Hätten die USA das Problem mit dem IS und der al-Nusra-Front irgendwie in den Griff bekommen, so hätten sie in der Folge ihre schon in Syrien eingesetzten Luftstreitkräfte doch noch gegen al-Assads Truppen und zur Unterstützung der restlichen FSA-Verbände einsetzen können. Mit der Präsenz der russischen Luftwaffe in Syrien schied diese Option aus. Angesichts der Kräfteverhältnisse und des russischen strategischen Vorteils einer eigenen Basis mit Marinehafen in Syrien, muss sich der Westen in irgendeiner Form mit Russland arrangieren. Der Preis dieses Arrangements wird stark durch das militärische Kräfteverhältnis zwischen Russland und dem Westen auf dem Kriegsschauplatz bestimmt. Hier und nicht in den Anschlägen von Paris ist der Grund für das französische, britische und deutsche Eingreifen in Syrien zu suchen.

So was kommt von so was

Das Eingreifen gegen den IS wird wieder einmal als „Krieg gegen den Terror“ bezeichnet. Gegen den Terror kann man aber keinen Krieg führen, er ist nur eine gegnerische Taktik. Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Luftkrieg gegen den IS in Syrien die Terrorgefahr verringern wird?

Zunächst einmal waren die bekannten Attentäter von Paris EU-Bürger mit französischen oder belgischen Pässen. Die Verbindung zum IS ist nach allem, was wir sicher wissen, keine organisatorische, sondern wieder nur ein Frage des Markennamens, so wie wir das von vielen Al-Kaida-Anschlägen kennen. Für islamistisch geprägte Attentäter ist derzeit die Assoziation mit dem IS attraktiv, für den IS ist jedes Attentat, das er sich auf seine Fahnen schreiben kann, eine gelungene Machtdemonstration, die seine Marke und deren Attraktivität unter anderen Islamisten stärkt. Wir nützen dem IS, wenn wir diese Propaganda selbst verbreiten.

Nachdem ein mittlerweile einjähriger Einsatz der stärksten Luftwaffe der Welt eine weitere Ausbreitung des IS in Syrien nicht hat verhindern können, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit dass ein zusätzlicher Beitrag Frankreichs und Großbritanniens, unterstützt durch eine Fregatte und einige Aufklärungs-Tornados aus Deutschland den IS vernichtet? Wenn sie ihn aber nicht vernichtet, wird er durch diese Angriffe eher mehr oder eher weniger Anhänger gewinnen? Werden sich eher mehr oder eher weniger Islamisten in Westeuropa und den USA zu Anschlägen animiert fühlen? Ich denke, diese Fragen sind rein rhetorischer Natur. Niemand, der noch bei klarem Verstand ist, kann annehmen, dass derartige Luftschläge geeignet sind, die Terrorgefahr in Europa und den USA zu verringern. Seltsamerweise begreifen das sogar deutsche Journalisten und sprechen es aus – wenn es um die russischen Luftschläge in Syrien und die daraus resultierende Terrorgefahr in Russland geht.

Ich will hier trotzdem eine Geschichte erzählen, die mit Bildern beginnt, die gestern in der ARD-Tagesschau liefen. Bei einem ihrer ersten Einsätze in Syrien hatte die britische Royal Air Force (RAF) einen Konvoi von Tanklastwagen in Flammen aufgehen lassen, der nach ARD-Angaben wahrscheinlich, aber nicht sicher ein Öltransport des IS war. Nach den Bildern kann der Fahrer des getroffenen Tanklastwagens diesen Angriff schwerlich überlebt haben. War er ein Terrorist? Waren die Arbeiter Terroristen, die das Öl gefördert haben, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen?

Stellen Sie sich nun vor, Sie seien der 19-jährige, also noch etwas heißblütige jüngere Bruder dieses Lastwagenfahrers. Nicht nur Ihr Bruder ist tot. Das Familienunternehmen, in dem auch Sie gearbeitet haben, gibt es nicht mehr, denn alle Tanklastwagen wurden bei dem Angriff vernichtet und die Ersparnisse reichen nicht für neue. Andere Arbeit gibt es in ihrem Ort auch nicht, so mitten im Bürgerkrieg, außer dass Da-esh (der IS) bereit ist, Ihnen eine Waffe in die Hand zu drücken und Sie für’s Kämpfen zu bezahlen. Von irgendetwas muss die Familie schließlich leben.

Was ist die Alternative? Sie könnten mit dem größten Teil der Ersparnisse versuchen, nach Europa zu kommen und dann die Familie nachzuholen. Wenn das mit dem Nachzug nicht klappt, finden Sie vielleicht eine Arbeit und können Geld nach Hause schicken, auf die Dauer mehr, als ihre Reise nach Europa gekostet hat und vielleicht genug, um irgendwann wieder einen Lastwagen zu kaufen. Wenn auch das nicht klappt, sind Sie immerhin in dem Europa, aus dem die Bomber kamen, die Ihren Bruder getötet und die Existenz Ihrer Familie vernichtet haben.

Ohnmachtdemonstration

Wenn sich jemand unakzeptabel verhält, deute ich zunächst an, dass ich auch ganz anders könnte. Verfängt das nicht, so zeige ich die Instrumente. Wenn auch das nicht reicht, so muss ich wohl ein Exempel statuieren. Jeder, der einmal Macht ausgeübt hat, aus eigenem Antrieb oder weil eine Position ihn dazu zwang, kennt diese Eskalationsstufen. Führung erzeugt mitunter Widerstand und wenn man mit dieser Führung das richtige Ziel verfolgt, ist es mitunter angebracht, diesen Widerstand durch eine angemessene Machtdemonstration zu brechen (mitunter kann man den Widerstand auch ignorieren und das Ziel trotzdem erreichen, aber eben nicht immer). Mit einer gelungenen Machtdemonstration festigt man grundsätzlich seine Führungsposition.

Leider funktioniert das Ganze aber auch andersherum. Wenn man glaubt, Macht demonstrieren zu können und dabei scheitert, so schwächt man seine Führungsposition oder verliert diese sogar. Deshalb wird man die Machtprobe vermeiden, wenn es wahrscheinlich ist, dass man scheitert. Oder, um den alten chinesischen Strategen Sun Tsu zu paraphrasieren: Man nimmt Schlachten nur dann an, wenn man sie ziemlich sicher gewinnen wird.

Aus diesem einfachen strategischen Kalkül heraus ist völlig unverständlich, was nun genau die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands mit ihrem Eingreifen in Syrien bezwecken. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie damit nur ihre Ohnmacht gegen den IS demonstrieren, möglicherweise sogar diejenige gegen Russland. Merke: Es gibt durchaus Fälle, in denen es günstiger ist, eine Niederlage zu akzeptieren und weiter nichts zu tun. Das sind die Fälle, in denen weitere Aktionen die Niederlage nur verschlimmern werden.

Völkerrecht und deutsches Recht

Das deutsche Eingreifen verstößt gegen Völkerrecht, das militärischen Aktionen enge Grenzen setzt. Ein UNO-Mandat, das zu einem solchen Vorgehen ermächtigt, gibt es nicht, denn nur der Sicherheitsrat hätte ein solches erteilen können. Deutschland wurde offensichtlich nicht angegriffen, kann sich also auch nicht auf sein Recht auf Selbstverteidigung berufen. Auch kollektive Selbstverteidigung kommt nicht in Betracht und das aus gleich zwei Gründen. Erstens wurde auch Frankreich im völkerrechtlichen Sinne nicht angegriffen und in keinem Sinne aus Syrien heraus. Zweitens gehört Deutschland genau einem Militärbündnis an, nämlich der NATO, und diese hat den Verteidigungsfall nicht ausgerufen. Die Möglichkeit, sich auf einen obskuren Satz in den EU-Verträgen zu beziehen, besteht nicht. Die EU ist kein Verteidigungsbündnis und hat demzufolge auch keinen Mechanismus, um den Verteidigungsfall auszurufen. Der kann ja rechtlich nicht einfach dadurch eintreten, dass sich ein Mitglied von irgendwem angegriffen fühlt und das offen mitteilt.

Wenn Sie glauben, ich sei kein Spezialist für Völkerrecht, dann schauen Sie sich mal an, was Martin Schäfer, Sprecher des Auswärtigen Amts, zu diesem Punkt zu sagen hatte (schon nach 1 Minute im Video): [Wenn es einen Beschluss der Bundesregierung geben wird, ] „dann wird das einer sein, bei dem die Bundesregierung zutiefst davon überzeugt ist, dass er im Einklang mit dem Völkerrecht und dem deutschen Verfassungsrecht steht.“ (an dieser Stelle entgleisen Martin Schäfer kurz die Mundwinkel). Ein Sprecher eines Ministeriums, noch dazu einer, der die diplomatische Ausdrucksweise beherrscht, kann sich kaum deutlicher von der Meinung seiner Regierung distanzieren, als es in diesem Satz geschehen ist. Behauptet wird hier nicht die objektive Übereinstimmung mit dem Recht sondern nur eine subjektive Überzeugung, dass es solch eine Übereinstimmung gäbe. Ersteres wäre auch schwer haltbar gewesen, wie Schäfer offensichtlich wusste. Ein Journalist hat dennoch nachgefragt: „Wie kommen Sie darauf? Es gibt kein UN-Mandat, also wie soll das völkerrechtlich in Ordnung sein.“ An dieser Stelle entgleisen Schäfer die Gesichtszüge stärker und anhaltender. Dann antwortet er, mit nach unten gerichtetem Blick: „Ich glaube, wir lassen es einfach dabei bewenden, was ich gesagt habe.“.

Wenn Sie genau gelesen haben, wissen Sie, dass Schäfer auch Folgendes bewusst war: Der Beschluss bricht das Grundgesetz. Dieses verbietet nämlich die Vorbereitung von Angriffskriegen. Gibt es kein UN-Mandat und keinen Verteidigungsfall, so findet aber genau das gerade statt und laut Strafgesetz wird es mit einer Mindeststrafe von zehn Jahren Freiheitsentzug sanktioniert. Deshalb die offizielle Sprachregelung, nach der es gar kein Krieg ist. Man kann aber wohl schwerlich aus Solidarität mit Frankreich an etwas teilnehmen, das der französische Präsident selbst einen Krieg nennt und dann behaupten, es sei keiner.

Der Bundestagsbeschluss übrigens entlastet die Regierung nicht von einer möglichen strafrechtlichen Verfolgung wenn all das zuerst eskalieren und dann schiefgehen sollte. Vielmehr setzt er potentiell auch diejenigen einer solchen Verfolgung aus, die sich öffentlich für die Annahme der Vorlage eingesetzt haben. Den meisten dürfte das gar nicht bewusst sein.

Freilich hätte der Bundestag eine solche strafrechtliche Verfolgung ausschließen können, aber dazu hätte er zuerst mit Zweidrittelmehrheit den entsprechenden Passus im Grundgesetz ändern und hinterher den Paragraphen aus dem Strafgesetz entfernen müssen, wofür dann eine einfache Mehrheit genügt hätte. Hat er aber nicht, denn erstens wäre es ein Skandal gewesen und zweitens wäre die Zweidrittelmehrheit für die Grundgesetzänderung nicht zustande gekommen. Dieses Problem haben die USA, Großbritannien und Frankreich nicht, Deutschland aber eben schon.

Was wird geschehen?

Die westliche Koalition hat keine koordinierten Bodentruppen, die eine Frontlinie in offenem Gelände bilden könnten, an der man IS-Truppen wirksam aus der Luft angreifen könnte. Auf solche Schlachten würde der IS sich auch nicht einlassen. Selbst die Koalition von al-Assad mit Russland, die Bodentruppen und eine moderne Luftwaffe koordiniert einsetzen kann, hat allem Anschein nach damit nur mäßigen Erfolg.

Die meiste Zeit sind die IS-Kämpfer in Städten disloziert. Auch hier sind Russland und al-Assad relativ gesehen „im Vorteil“, weil sie nie behauptet haben, man könne einen Bürgerkrieg gewinnen, ohne zivile Opfer zu akzeptieren. Der Westen, der lieber von Kollateralschäden redet, hat das aber sehr wohl behauptet und zivile Opfer sind sein Hauptargument gegen eine politische Zukunft al-Assads. Der Westen kann demnach Luftschläge in Städten nicht in gleichem Maße ausführen, wie das Russland und al-Assad tun, obwohl wir uns wohl auch auf Propagandameldungen und Kollateralschäden à la Kosovo-Krieg einstellen müssen. Die Dimension ist aber eine ganz andere als im Kosovo-Krieg. Westliche Luftschläge in Städten wird es nicht in einem Ausmaß geben, das den IS militärisch in Bedrängnis bringen könnte.

Demzufolge werden sich die Angriffe gegen kleine Truppenteile richten, was punktuell eine Schlacht entscheiden kann, aber strategisch völlig ineffektiv ist, wie die USA seit einem Jahr hinlänglich demonstrieren. Und sie werden sich gegen Infrastruktur richten, insbesondere gegen Öl- und Gasförderanlagen und gegen Öl- und Gastransporte. Das aber ist zivile Infrastruktur und die Öl- und Gasarbeiter sowie die Lastkraftwagenfahrer sind Zivilisten. Die westliche Propaganda wird große Volten schlagen, um zu verhindern, dass die breite Öffentlichkeit zu dieser simplen Einsicht kommt, aber wir wissen aus den letzten Monaten auch, dass das Vertrauen der breiten Öffentlichkeit in die Medien nicht eben weit geht.

Wie schon oben angedeutet, sind solche Angriffe darüber hinaus geeignet, den Hass gegen den Westen in Syrien und den Hass von Muslimen auf den Westen weltweit zu vertiefen. Der IS hat im Nahen Osten noch ein großes Potential, Kämpfer gegen den Westen unter den unterbeschäftigten oder arbeitslosen jungen Männern anzuwerben. Die Luftangriffe werden es dem IS leichter machen, dieses Potential auszuschöpfen.

Dummheit oder Verschwörung?

Nach all dem stellt sich die Frage, ob die deutsche Bundesregierung einfach nur inkompetent ist, oder irgendwelche dunklen Ziele verfolgt, die wir nicht kennen. Inkompetenz ist üblicherweise die richtige Erklärung, aber Verschwörungen kommen ja durchaus auch vor.

Abgesehen von dem Umstand, dass der tiefere Grund für das Eingreifen nicht in den Terroranschlägen in Paris, sondern im vorherigen Eingreifen Russlands liegt, glaube ich nicht an eine Täuschung der Öffentlichkeit über eine weiter gehende intelligente Strategie. Das handelnde Personal hat in der Vergangenheit keine derartige Intelligenz bewiesen und auch nicht die erheblichen schauspielerischen Fähigkeiten, derer es bedarf, um als intelligenter Mensch glaubhaft tiefe Dummheit zu simulieren.

Dennoch stellt sich natürlich die beängstigende Frage, ob die Entscheider wirklich derart dumm oder konfus sein können und wenn schon, warum sie dann initiativ handeln. Dummheit allein wäre ja in dieser Frage noch kein Problem, wenn sie mit Nichtstun kombiniert wäre.

Ich fürchte leider, dass die führenden Politiker tatsächlich so dumm sind und das ist eben viel gefährlicher, als wenn sie intelligente Verschwörer wären. Schon einmal dachte ich, dass eine Riege führender Politiker unmöglich so vernagelt und realitätsverlassen sein könne, wie ihre öffentlichen Äußerungen es nahelegten. Der Herbst und Winter 1989/90 zeigten dann aber, dass genau das zutraf. Wir müssen uns wohl damit abfinden, dass wir von Leuten regiert werden, deren Verhältnis zur Realität nicht weniger problematisch ist als dasjenige von Erich Honecker, Günter Mittag und Erich Mielke im Sommer 1989.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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