Innerhalb von weniger als einer Woche hat die Bundesregierung – wie wir sehen werden unter Missachtung des Völkerrechts und der Verfassung – ein deutsches militärisches Eingreifen in Syrien beschlossen und durch den Bundestag absegnen lassen. Selbst die Journalisten öffentlich-rechtlicher Sender waren sichtlich ungehalten. Der Aktion liegt offensichtlich keine Lageanalyse, keine strategische Planung und kein politisches Konzept zugrunde. Dieser Artikel analysiert, warum die Bundesregierung diese Dummheit begeht und wohin das vermutlich führen wird. Dazu müssen wir als erstes rekapitulieren, wie die gegenwärtige Situation in Syrien entstanden ist.
Kurze Geschichte des syrischen Bürgerkriegs
In den vier Jahrzehnten bis 2011 war in vielen arabischen Ländern die Bevölkerung viel schneller gewachsen als die Wirtschaftskraft und Infrastruktur, in Syrien in besonderem Maße. Die resultierenden sozialen Spannungen führten zur Unzufriedenheit mit den Regierungen jedweder Couleur und entluden sich schließlich im Arabischen Frühling. Der Westen, die Türkei und die Golfstaaten erkannten ihre Chance, eine syrische Regierung loszuwerden, die nicht ihr Verbündeter war, sondern derjenige des Iran, Russlands und der Hisbollah-Milizen im Libanon. Sie riefen sofort zum Regimewechsel auf. Das führte wunschgemäß zu einer schnellen Eskalation des Konflikts. Einheiten der syrischen Armee desertierten, bezeichneten sich als Freie Syrische Armee (FSA) und griffen andere Einheiten der syrischen Armee an. Die Gegner al-Assads im Ausland unterstützten die FSA propagandistisch und materiell. Bis Ende 2012 entwickelte sich die militärische Lage zugunsten dieser Gegner.
Nach zähen Verhandlungen mit der zerstrittenen Opposition gegen al-Assad (und vermutlich auch untereinander) gelang es dem Westen, der Türkei und den Golfstaaten im November 2012 den Anschein einer Exilregierung zu installieren. Diese Regierung war formell als säkular angelegt und sollte Vertreter aller Religionen und Volksgruppen enthalten, wobei sich allerdings kein kurdischer Politiker bereitgefunden hatte, an dem Projekt teilzunehmen. Diese säkulare und inklusive Anlage kann weder im Interesse der Golfstaaten noch in demjenigen der Türkei gewesen sein, war aber für die US-Regierung unabdingbar, weil nur so Mittel freigemacht werden konnten, mit denen die CIA FSA-Kämpfer trainieren und der FSA „nichttödliche“ Ausrüstung bereitstellen konnte. Zu diesem Zweck wurde die FSA auch kurzerhand als Armee der Exilregierung deklariert. Auch Israel hat die FSA mit Waffen und durch medizinische Behandlung ihrer Kämpfer unterstützt, wie im August 2014 bekannt wurde.
Die ausländischen Regierungen gingen zu diesem Zeitpunkt davon aus, das die al-Assad-Regierung innerhalb weniger Monate fallen würde oder ließen diese Ansicht doch zumindest durch ihre Propagandaapparate verbreiten. Bis zum 13. Dezember 2012 gelang es, 88 Staaten dazu zu bringen, diese Regierung als „legitime“ oder „einzig legitime“ Vertretung des syrischen Volkes anzuerkennen (die UNO hatte zu diesem Zeitpunkt etwa 190 Mitglieder). Im März 2013 kam noch Malta dazu, das mit der Anerkennung der Regierung wenigstens gewartet hatte, bis auch ein Premierminister ernannt wurde.
Wir wissen bis heute nicht, ob die Geheimdienste damals die Situation schön färbten, ob die Regierungen unangenehme Warnungen in den Wind schlugen, oder ob sie die Öffentlichkeit und andere Staaten gezielt desinformierten. Sicher ist hingegen, dass die FSA nie als Armee mit einer zentralen Kommandostruktur existierte. Die regionalen und lokalen oppositionellen Einheiten kämpften unter diesem Markennamen, um materielle Unterstützung zu erhalten, legten aber ihre Taktik und politische Ausrichtung selbst fest. Die wenigsten erkannten die Exilregierung an und vor allem agierten sie alle kurzfristig, taktisch und regional statt langfristig, strategisch und national. Zudem konnten sie in den von ihnen beherrschten Territorien die öffentliche Ordnung nicht aufrechterhalten und keine sozialen Dienste bereitstellen. Diese wurden alsbald von islamischen und islamistischen Gruppen organisiert. Dagegen neigten FAS-Kämpfer zur Repression der Bevölkerung.
Im April 2013 wendete sich das Blatt. Der erste Präsident der Exilregierung trat bereits am 24. März 2013 zurück und nachdem die Koalition den Rücktritt abgelehnt hatte, bekräftigte er diesen noch einmal am 21. April. Die Regierungstruppen traten mit Unterstützung von Hisbollah-Einheiten zu einer Gegenoffensive an, die angesichts der Zersplitterung der FSA und ihres fehlenden Rückhalts in der Bevölkerung erfolgreich war. Im Juni 2013 zeichnete sich ab, dass ein Regimewechsel nicht mehr zu erwarten war, wenn die militärische Situation nicht grundlegend verändert werden konnte.
Den Falken in den Sicherheitsstrukturen der USA gelang es zunächst, eine solche Veränderung vorzubereiten. Obama hatte zuvor gesagt, ein Einsatz von Chemiewaffen gegen die eigene Bevölkerung durch al-Assad sei eine „rote Linie“. Am 21. August 2013 kam es zu einem Chemiewaffenangriff auf einen Vorort von Damaskus, der von Oppositionskräften gehalten wurde. Obama willigte schließlich in Luftschläge gegen die syrischen Regierungstruppen ein, gab aber bekannt, er werde zuvor den Kongress konsultieren. Wir wissen auch nicht, wer die Washington Post dazu brachte, im Vorfeld der bereits angesetzten Abstimmungen die Abgeordneten zu befragen und praktisch täglich eine Projektion des Abstimmungsergebnisses zu veröffentlichen. Wir wissen, was diese Projektion aussagte. Je näher die Abstimmung kam, desto stärker zeichnete sich eine deutliche Ablehnung durch das Repräsentantenhaus ab und desto wahrscheinlicher wurde eine Ablehnung auch durch den Senat. Das britische Parlament hatte eine Beteiligung bereits abgelehnt. In dieser Situation waren Obama und sein Außenminister Kerry gezwungen, auf einen halbwegs gesichtswahrenden Vermittlungsvorschlag Russlands zur Vernichtung der syrischen Chemiewaffen einzugehen.
An diesem Punkt löste sich der westliche Einfluss auf die Vorgänge in Syrien praktisch in Luft auf. Die Exilregierung wurde irrelevant, die FSA verlor große Mengen ihrer Kämpfer an die sunnitisch-islamischen und islamistischen Verbände, die nun das Mittel der Wahl der Golfstaaten und wohl teilweise auch der Türkei waren. Innerhalb weniger Monate bildeten sie sich zum militärischen Hauptgegner der syrischen Regierungstruppen heraus. Sowohl zwischen der FSA und diesen Gruppen als auch unter diesen Gruppen gab es immer wieder interoppositionelle Kämpfe. Koalitionen wechselten schnell und nach lokal taktischen Gesichtspunkten.
Bereits im April 2013, als die syrische Armee und die FSA- Einheiten in schwere Kämpfe verwickelt waren, begann sich der IS (oder Da-esh) herauszubilden und zunächst Gebiete zu besetzen, um die sich die anderen Kräfte aus logistischen oder strategischen Gründen nicht kümmern konnten. Bekannt ist, dass hochrangige IS-Vertreter zumindest in der Anfangsphase Kontakt mit türkischen Offiziellen hatten. Im Sommer 2014 beherrschte der IS bereits ein Drittel des syrischen Territoriums und fast die gesamte syrische Öl- und Gasproduktion. An diesem Punkt fiel den USA, vor allem auch wegen spektakulärer militärischer Erfolge des IS im Irak auf, dass hier ein Gegner des Westens entstand, der gefährlicher werden konnte, als es al-Assad je gewesen war. Am 23. Oktober 2014 begann die US Air Force, den IS auch in Syrien aus der Luft anzugreifen. Im Oktober 2014 bis Februar 2015 besiegte eine Koalition der islamistischen al-Nusra-Front mit IS-Unterstützung im Norden sowohl die Regierungstruppen als auch die dortigen Truppen der FSA. Trotz der Luftschläge der USA führte der IS auch allein im Mai bis September 2015 eine erfolgreiche Offensive in Syrien durch, welche durch die Einnahme von Palmyra auch im Westen bekannt wurde. Nach einem Jahr von US-Luftschlägen beherrscht der IS inzwischen nicht mehr etwa ein Drittel sondern etwa 60% des syrischen Territoriums.
Ab August 2015 begann Russland, seine Präsenz in Syrien auszubauen und ab dem 30. Oktober 2015 führte Russland auf Bitten al-Assads Luftschläge gegen verschiedene Gegner seiner Regierung aus, darunter den IS und die FSA. Damit verringerte sich der potentielle Einfluss des Westens auf die Lage in Syrien noch einmal drastisch. Hätten die USA das Problem mit dem IS und der al-Nusra-Front irgendwie in den Griff bekommen, so hätten sie in der Folge ihre schon in Syrien eingesetzten Luftstreitkräfte doch noch gegen al-Assads Truppen und zur Unterstützung der restlichen FSA-Verbände einsetzen können. Mit der Präsenz der russischen Luftwaffe in Syrien schied diese Option aus. Angesichts der Kräfteverhältnisse und des russischen strategischen Vorteils einer eigenen Basis mit Marinehafen in Syrien, muss sich der Westen in irgendeiner Form mit Russland arrangieren. Der Preis dieses Arrangements wird stark durch das militärische Kräfteverhältnis zwischen Russland und dem Westen auf dem Kriegsschauplatz bestimmt. Hier und nicht in den Anschlägen von Paris ist der Grund für das französische, britische und deutsche Eingreifen in Syrien zu suchen.
So was kommt von so was
Das Eingreifen gegen den IS wird wieder einmal als „Krieg gegen den Terror“ bezeichnet. Gegen den Terror kann man aber keinen Krieg führen, er ist nur eine gegnerische Taktik. Wie wahrscheinlich ist es, dass ein Luftkrieg gegen den IS in Syrien die Terrorgefahr verringern wird?
Zunächst einmal waren die bekannten Attentäter von Paris EU-Bürger mit französischen oder belgischen Pässen. Die Verbindung zum IS ist nach allem, was wir sicher wissen, keine organisatorische, sondern wieder nur ein Frage des Markennamens, so wie wir das von vielen Al-Kaida-Anschlägen kennen. Für islamistisch geprägte Attentäter ist derzeit die Assoziation mit dem IS attraktiv, für den IS ist jedes Attentat, das er sich auf seine Fahnen schreiben kann, eine gelungene Machtdemonstration, die seine Marke und deren Attraktivität unter anderen Islamisten stärkt. Wir nützen dem IS, wenn wir diese Propaganda selbst verbreiten.
Nachdem ein mittlerweile einjähriger Einsatz der stärksten Luftwaffe der Welt eine weitere Ausbreitung des IS in Syrien nicht hat verhindern können, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit dass ein zusätzlicher Beitrag Frankreichs und Großbritanniens, unterstützt durch eine Fregatte und einige Aufklärungs-Tornados aus Deutschland den IS vernichtet? Wenn sie ihn aber nicht vernichtet, wird er durch diese Angriffe eher mehr oder eher weniger Anhänger gewinnen? Werden sich eher mehr oder eher weniger Islamisten in Westeuropa und den USA zu Anschlägen animiert fühlen? Ich denke, diese Fragen sind rein rhetorischer Natur. Niemand, der noch bei klarem Verstand ist, kann annehmen, dass derartige Luftschläge geeignet sind, die Terrorgefahr in Europa und den USA zu verringern. Seltsamerweise begreifen das sogar deutsche Journalisten und sprechen es aus – wenn es um die russischen Luftschläge in Syrien und die daraus resultierende Terrorgefahr in Russland geht.
Ich will hier trotzdem eine Geschichte erzählen, die mit Bildern beginnt, die gestern in der ARD-Tagesschau liefen. Bei einem ihrer ersten Einsätze in Syrien hatte die britische Royal Air Force (RAF) einen Konvoi von Tanklastwagen in Flammen aufgehen lassen, der nach ARD-Angaben wahrscheinlich, aber nicht sicher ein Öltransport des IS war. Nach den Bildern kann der Fahrer des getroffenen Tanklastwagens diesen Angriff schwerlich überlebt haben. War er ein Terrorist? Waren die Arbeiter Terroristen, die das Öl gefördert haben, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen?
Stellen Sie sich nun vor, Sie seien der 19-jährige, also noch etwas heißblütige jüngere Bruder dieses Lastwagenfahrers. Nicht nur Ihr Bruder ist tot. Das Familienunternehmen, in dem auch Sie gearbeitet haben, gibt es nicht mehr, denn alle Tanklastwagen wurden bei dem Angriff vernichtet und die Ersparnisse reichen nicht für neue. Andere Arbeit gibt es in ihrem Ort auch nicht, so mitten im Bürgerkrieg, außer dass Da-esh (der IS) bereit ist, Ihnen eine Waffe in die Hand zu drücken und Sie für’s Kämpfen zu bezahlen. Von irgendetwas muss die Familie schließlich leben.
Was ist die Alternative? Sie könnten mit dem größten Teil der Ersparnisse versuchen, nach Europa zu kommen und dann die Familie nachzuholen. Wenn das mit dem Nachzug nicht klappt, finden Sie vielleicht eine Arbeit und können Geld nach Hause schicken, auf die Dauer mehr, als ihre Reise nach Europa gekostet hat und vielleicht genug, um irgendwann wieder einen Lastwagen zu kaufen. Wenn auch das nicht klappt, sind Sie immerhin in dem Europa, aus dem die Bomber kamen, die Ihren Bruder getötet und die Existenz Ihrer Familie vernichtet haben.
Ohnmachtdemonstration
Wenn sich jemand unakzeptabel verhält, deute ich zunächst an, dass ich auch ganz anders könnte. Verfängt das nicht, so zeige ich die Instrumente. Wenn auch das nicht reicht, so muss ich wohl ein Exempel statuieren. Jeder, der einmal Macht ausgeübt hat, aus eigenem Antrieb oder weil eine Position ihn dazu zwang, kennt diese Eskalationsstufen. Führung erzeugt mitunter Widerstand und wenn man mit dieser Führung das richtige Ziel verfolgt, ist es mitunter angebracht, diesen Widerstand durch eine angemessene Machtdemonstration zu brechen (mitunter kann man den Widerstand auch ignorieren und das Ziel trotzdem erreichen, aber eben nicht immer). Mit einer gelungenen Machtdemonstration festigt man grundsätzlich seine Führungsposition.
Leider funktioniert das Ganze aber auch andersherum. Wenn man glaubt, Macht demonstrieren zu können und dabei scheitert, so schwächt man seine Führungsposition oder verliert diese sogar. Deshalb wird man die Machtprobe vermeiden, wenn es wahrscheinlich ist, dass man scheitert. Oder, um den alten chinesischen Strategen Sun Tsu zu paraphrasieren: Man nimmt Schlachten nur dann an, wenn man sie ziemlich sicher gewinnen wird.
Aus diesem einfachen strategischen Kalkül heraus ist völlig unverständlich, was nun genau die Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands mit ihrem Eingreifen in Syrien bezwecken. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie damit nur ihre Ohnmacht gegen den IS demonstrieren, möglicherweise sogar diejenige gegen Russland. Merke: Es gibt durchaus Fälle, in denen es günstiger ist, eine Niederlage zu akzeptieren und weiter nichts zu tun. Das sind die Fälle, in denen weitere Aktionen die Niederlage nur verschlimmern werden.
Völkerrecht und deutsches Recht
Das deutsche Eingreifen verstößt gegen Völkerrecht, das militärischen Aktionen enge Grenzen setzt. Ein UNO-Mandat, das zu einem solchen Vorgehen ermächtigt, gibt es nicht, denn nur der Sicherheitsrat hätte ein solches erteilen können. Deutschland wurde offensichtlich nicht angegriffen, kann sich also auch nicht auf sein Recht auf Selbstverteidigung berufen. Auch kollektive Selbstverteidigung kommt nicht in Betracht und das aus gleich zwei Gründen. Erstens wurde auch Frankreich im völkerrechtlichen Sinne nicht angegriffen und in keinem Sinne aus Syrien heraus. Zweitens gehört Deutschland genau einem Militärbündnis an, nämlich der NATO, und diese hat den Verteidigungsfall nicht ausgerufen. Die Möglichkeit, sich auf einen obskuren Satz in den EU-Verträgen zu beziehen, besteht nicht. Die EU ist kein Verteidigungsbündnis und hat demzufolge auch keinen Mechanismus, um den Verteidigungsfall auszurufen. Der kann ja rechtlich nicht einfach dadurch eintreten, dass sich ein Mitglied von irgendwem angegriffen fühlt und das offen mitteilt.
Wenn Sie glauben, ich sei kein Spezialist für Völkerrecht, dann schauen Sie sich mal an, was Martin Schäfer, Sprecher des Auswärtigen Amts, zu diesem Punkt zu sagen hatte (schon nach 1 Minute im Video): [Wenn es einen Beschluss der Bundesregierung geben wird, ] „dann wird das einer sein, bei dem die Bundesregierung zutiefst davon überzeugt ist, dass er im Einklang mit dem Völkerrecht und dem deutschen Verfassungsrecht steht.“ (an dieser Stelle entgleisen Martin Schäfer kurz die Mundwinkel). Ein Sprecher eines Ministeriums, noch dazu einer, der die diplomatische Ausdrucksweise beherrscht, kann sich kaum deutlicher von der Meinung seiner Regierung distanzieren, als es in diesem Satz geschehen ist. Behauptet wird hier nicht die objektive Übereinstimmung mit dem Recht sondern nur eine subjektive Überzeugung, dass es solch eine Übereinstimmung gäbe. Ersteres wäre auch schwer haltbar gewesen, wie Schäfer offensichtlich wusste. Ein Journalist hat dennoch nachgefragt: „Wie kommen Sie darauf? Es gibt kein UN-Mandat, also wie soll das völkerrechtlich in Ordnung sein.“ An dieser Stelle entgleisen Schäfer die Gesichtszüge stärker und anhaltender. Dann antwortet er, mit nach unten gerichtetem Blick: „Ich glaube, wir lassen es einfach dabei bewenden, was ich gesagt habe.“.
Wenn Sie genau gelesen haben, wissen Sie, dass Schäfer auch Folgendes bewusst war: Der Beschluss bricht das Grundgesetz. Dieses verbietet nämlich die Vorbereitung von Angriffskriegen. Gibt es kein UN-Mandat und keinen Verteidigungsfall, so findet aber genau das gerade statt und laut Strafgesetz wird es mit einer Mindeststrafe von zehn Jahren Freiheitsentzug sanktioniert. Deshalb die offizielle Sprachregelung, nach der es gar kein Krieg ist. Man kann aber wohl schwerlich aus Solidarität mit Frankreich an etwas teilnehmen, das der französische Präsident selbst einen Krieg nennt und dann behaupten, es sei keiner.
Der Bundestagsbeschluss übrigens entlastet die Regierung nicht von einer möglichen strafrechtlichen Verfolgung wenn all das zuerst eskalieren und dann schiefgehen sollte. Vielmehr setzt er potentiell auch diejenigen einer solchen Verfolgung aus, die sich öffentlich für die Annahme der Vorlage eingesetzt haben. Den meisten dürfte das gar nicht bewusst sein.
Freilich hätte der Bundestag eine solche strafrechtliche Verfolgung ausschließen können, aber dazu hätte er zuerst mit Zweidrittelmehrheit den entsprechenden Passus im Grundgesetz ändern und hinterher den Paragraphen aus dem Strafgesetz entfernen müssen, wofür dann eine einfache Mehrheit genügt hätte. Hat er aber nicht, denn erstens wäre es ein Skandal gewesen und zweitens wäre die Zweidrittelmehrheit für die Grundgesetzänderung nicht zustande gekommen. Dieses Problem haben die USA, Großbritannien und Frankreich nicht, Deutschland aber eben schon.
Was wird geschehen?
Die westliche Koalition hat keine koordinierten Bodentruppen, die eine Frontlinie in offenem Gelände bilden könnten, an der man IS-Truppen wirksam aus der Luft angreifen könnte. Auf solche Schlachten würde der IS sich auch nicht einlassen. Selbst die Koalition von al-Assad mit Russland, die Bodentruppen und eine moderne Luftwaffe koordiniert einsetzen kann, hat allem Anschein nach damit nur mäßigen Erfolg.
Die meiste Zeit sind die IS-Kämpfer in Städten disloziert. Auch hier sind Russland und al-Assad relativ gesehen „im Vorteil“, weil sie nie behauptet haben, man könne einen Bürgerkrieg gewinnen, ohne zivile Opfer zu akzeptieren. Der Westen, der lieber von Kollateralschäden redet, hat das aber sehr wohl behauptet und zivile Opfer sind sein Hauptargument gegen eine politische Zukunft al-Assads. Der Westen kann demnach Luftschläge in Städten nicht in gleichem Maße ausführen, wie das Russland und al-Assad tun, obwohl wir uns wohl auch auf Propagandameldungen und Kollateralschäden à la Kosovo-Krieg einstellen müssen. Die Dimension ist aber eine ganz andere als im Kosovo-Krieg. Westliche Luftschläge in Städten wird es nicht in einem Ausmaß geben, das den IS militärisch in Bedrängnis bringen könnte.
Demzufolge werden sich die Angriffe gegen kleine Truppenteile richten, was punktuell eine Schlacht entscheiden kann, aber strategisch völlig ineffektiv ist, wie die USA seit einem Jahr hinlänglich demonstrieren. Und sie werden sich gegen Infrastruktur richten, insbesondere gegen Öl- und Gasförderanlagen und gegen Öl- und Gastransporte. Das aber ist zivile Infrastruktur und die Öl- und Gasarbeiter sowie die Lastkraftwagenfahrer sind Zivilisten. Die westliche Propaganda wird große Volten schlagen, um zu verhindern, dass die breite Öffentlichkeit zu dieser simplen Einsicht kommt, aber wir wissen aus den letzten Monaten auch, dass das Vertrauen der breiten Öffentlichkeit in die Medien nicht eben weit geht.
Wie schon oben angedeutet, sind solche Angriffe darüber hinaus geeignet, den Hass gegen den Westen in Syrien und den Hass von Muslimen auf den Westen weltweit zu vertiefen. Der IS hat im Nahen Osten noch ein großes Potential, Kämpfer gegen den Westen unter den unterbeschäftigten oder arbeitslosen jungen Männern anzuwerben. Die Luftangriffe werden es dem IS leichter machen, dieses Potential auszuschöpfen.
Dummheit oder Verschwörung?
Nach all dem stellt sich die Frage, ob die deutsche Bundesregierung einfach nur inkompetent ist, oder irgendwelche dunklen Ziele verfolgt, die wir nicht kennen. Inkompetenz ist üblicherweise die richtige Erklärung, aber Verschwörungen kommen ja durchaus auch vor.
Abgesehen von dem Umstand, dass der tiefere Grund für das Eingreifen nicht in den Terroranschlägen in Paris, sondern im vorherigen Eingreifen Russlands liegt, glaube ich nicht an eine Täuschung der Öffentlichkeit über eine weiter gehende intelligente Strategie. Das handelnde Personal hat in der Vergangenheit keine derartige Intelligenz bewiesen und auch nicht die erheblichen schauspielerischen Fähigkeiten, derer es bedarf, um als intelligenter Mensch glaubhaft tiefe Dummheit zu simulieren.
Dennoch stellt sich natürlich die beängstigende Frage, ob die Entscheider wirklich derart dumm oder konfus sein können und wenn schon, warum sie dann initiativ handeln. Dummheit allein wäre ja in dieser Frage noch kein Problem, wenn sie mit Nichtstun kombiniert wäre.
Ich fürchte leider, dass die führenden Politiker tatsächlich so dumm sind und das ist eben viel gefährlicher, als wenn sie intelligente Verschwörer wären. Schon einmal dachte ich, dass eine Riege führender Politiker unmöglich so vernagelt und realitätsverlassen sein könne, wie ihre öffentlichen Äußerungen es nahelegten. Der Herbst und Winter 1989/90 zeigten dann aber, dass genau das zutraf. Wir müssen uns wohl damit abfinden, dass wir von Leuten regiert werden, deren Verhältnis zur Realität nicht weniger problematisch ist als dasjenige von Erich Honecker, Günter Mittag und Erich Mielke im Sommer 1989.
Kommentare 24
Ich lese ihre Artikel sehr gerne.
Es ist schon schade das man solche Artikel nicht in den "Mainstreammedien" findet, sondern im 31.Stock (Kamikaze, Rm Fassbinder).
Danke.
Sehr interessante Analyse.
In der Begschreibung der Vergangenheit fehlt m.E. die Vereinbarung ueber Syrien, die waehrend Iran Verhandlung in Genf getroffen wurde.
Die heutigen Akteure im Iran waren alle daran beteiligt. Nur die Tuerken und die Saudis nicht. Und die machen derzeit Schwierigkeiten und wollen die Genf-vereinbarung torpedieren.
Wie die Vereinbarung damals im Einzelnen aussah, kann man von aussen nicht im Einzelnen erkennen. Syrien soll jedenfalls befriedet werden.
Nimmt man diesen Aspekt hinzu wird verstaendlich, warum die europaeischen Staaten sich jetzt auch einklinken muessen. Natuerlich ist der Aufmarsch bescheuert und die Luftangriffe sind wirkungslos. Darum geht's ja auch nicht.
In Genf war ja auch Steinmeier dabei, darum muss sich auch D beteiligen und schickt die schrottreifen Tornados, die in Syrien wirklich niemand braucht.
Und wenn das Verfassungsgericht sagt "geht nicht", dann haben die Ds zumindest ihren guten Willen gezeigt.
Nur Erdogan und die Saudis zicken noch rum und werden derzeit (medial) kleingemacht.
Der Zeitplan sieht wohl vor, dass im Januar der Buergerkrieg in Syrien zu Ende ist.
Ueber Weihnachten tagt das Verfassungsgericht nicht, darum koennen die Tornados noch etwas rumfliegen.
Und am Ende kann sich Frau Merkel als nachweihnachtlicher Friedensengel feiern lassen und die Fluechtlinge koennen zurueckgeschickt werden.
Ich denke, das ist der Plan.
Naja, mach Du nur einen Plan .....
Ich halte in dem Zusammenhang für wichtig und auch die vermeintliche oder theoretische Berliner "Hilflosigkeit" widerlegend, was Florian Rötzer auf Telepolis am 2.12.15 zur jüngsten NATO-Tagung schrieb: "... Statt den Konflikt zwischen Russland und der Türkei zu deeskalieren, macht Stoltenberg deutlich, dass die Verlegung von Truppen und Gerät in die Türkei und in das Mittelmeer, angeblich begründet durch die Bekämpfung des IS, eigentlich vor allem zur Unterstützung der Türkei dient, gegenüber dessen Regierung kein mahnendes Wort fällt, obwohl sie provokativ Eigenwege geht, ihr Verhältnis zum IS, den sie nicht bekämpft, zumindest alles andere als klar ist, sie die syrischen Kurden und die PKK bekämpft und innenpolitisch auf dem Weg in ein autoritäre Gesellschaft mit einer gelenkten Demokratie ist. Man habe, so Stoltenberg, die Türkei schon immer unterstützt, so dass die Verstärkung der Luftabwehr und die Stationierung von Kampfflugzeugen in der Türkei diese schützen soll.
Auch die Entsendung von Kriegsschiffen aus Dänemark und Deutschland, in Deutschland verkauft als Beitrag zum Kampf gegen den IS, scheint vor allem dazu zu dienen, die Nato-Präsenz im Mittelmeer gegen Russland und zur Unterstützung der Türkei zu verstärken: "Das ist alles wichtig für die Türkei. Es ist Teil der Unterstützungsmaßnahmen für die Türkei", so Stoltenberg ..." (Telepolis, 2.12.15)
Der IS ist ein Mittel für ganz andere Ziel, bzw. wird als solches genutzt und gesehen. Das ist ja schon so alt, bloß die Gegner, gegen die die islamistischen Extremisten in ihren wechslnden und verschiedenen Formationen antreten und unterstützt werden, sind andere, aber doch ähnlich, erst die Kommunisten, nun Russland, dessen Kampfflugzeuge ja immer noch den roten Stern trage:
„Präsident Eisenhower erklärte, er wolle die Idee eines islamischen Dschihad gegen den gottlosen Kommunismus voranbringen. „Wir sollten alles nur Denkbare tun, um diesen Aspekt des ‚Heiligen Krieges‘ hervorzuheben“ äußerte er im September 1957 bei einem Treffen im Weißen Haus, bei dem auch Frank Wisner, Allen Dulles, William Rountree, der Stellvertretende Staatsekretär für den Nahen Osten, und Mitglieder des Vereinigten Oberkommandos anwesend waren.“
Quelle: Tim Weiner "CIA - Die ganze Geschichte" (dt. Ausgabe) Fischer Verlag, Frankfurt/Main, 2008; S. 192
Das, die jetzige Situation gut beschreibende, Zitat der auch von mir geschätzten und leider zu früh verstorbenen Irmtraud Morgner:
"Dumm und mit Initiative – diese Dilettantenvariante ist die gefährlichste für militante Unternehmungen."
beschreibt m.M.n. eine Spielart des Dunning-Kruger Effekts:
"Als Dunning-Kruger-Effekt bezeichnet man eine Spielart der kognitiven Verzerrung, nämlich die Tendenz inkompetenter Menschen, das eigene Können zu überschätzen und die Kompetenz anderer zu unterschätzen. Der populärwissenschaftliche Begriff geht auf eine Publikation von David Dunning und Justin Kruger aus dem Jahr 1999 zurück. In der psychologischen Fachliteratur selbst spielt er bislang kaum eine Rolle, wohl aber in akademischen Publikationen außerhalb der Psychologie sowie in Blogs und Diskussionsforen des Internets.
„Wenn jemand inkompetent ist, dann kann er nicht wissen, dass er inkompetent ist. […] Die Fähigkeiten, die man braucht, um eine richtige Lösung zu finden, [sind] genau jene Fähigkeiten, die man braucht, um eine Lösung als richtig zu erkennen.“ – David Dunning
An der Cornell University erforschten die beiden Wissenschaftler diesen Effekt in weiteren Experimenten und kamen 1999 zum Resultat, dass weniger kompetente Personen
- dazu neigen, ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen,
- überlegene Fähigkeiten bei anderen nicht erkennen,
- das Ausmaß ihrer Inkompetenz nicht zu erkennen vermögen,.
Wikipedia (gekürzt)
... und kamen 1999 zum Resultat, dass weniger kompetente Personen
- dazu neigen, ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen,
- überlegene Fähigkeiten bei anderen nicht erkennen,
- das Ausmaß ihrer Inkompetenz nicht zu erkennen vermögen...
Zutreffend. Und wie ist ihnen beizukommen? Den Selbstherrlichen, den Arroganten, den Inkompetenten, die sich selbst für kompetent halten?! Jegliche Kritik, jeglicher Protest prallen ab, können nur abprallen, weil sie so fern der Realität leben.
Bei uns ist es die Mittelschicht, (gehobener) Beamtenstatus, Haus, Hof, Hund, 3 Kinder, und sie blicken weder rechts noch links, sie blicken auf sich selbst. Und nur das. Weil sie sich mehr eh nicht trauen. Weil alles, was über deren Horizont hinausgeht, für sie ein nogo ist. Und wenn doch, kommt Arroganz ins Spiel. Weil sie ihrenHorizont für den Horizont halten. Da gibt es keine Reflexion, da gibt es evtl Therapie, derer sie sich entziehen werden... denn... sie sind stur. Verbohrt. Nicht entwicklungsfähig.
Dumm.
Und? Wenn der Klügere immer nachgibt, ... sind die Dummen am Steuer? Effekt? Bei diesen keiner. Es gilt, sie auszuhebeln.
Und es dauert noch x Tage plus 3, dass es in der Allgemeinheit ankommt, mindestens.
Das Volk? Kann nicht aus sich heraus... Braucht einen Führer. Klingt ätzend, ist so. Und ich mag das so überhaupt nicht(!), aber das Volk ist so dumpf! Das Volk ist dumm. Wie die Mittelklasse, die den eigenen Profit sucht. Und findet, weil das Volk sich dumm verhält... immer am eigenen Vorteil entlanghangelnd, schiebt die Mittelklasse die Verantwortung nach 'unten'. Hat sie so gelernt, machen alle so. Legitim ist, was die meisten tun. Nix Nächstenliebe, Egotrip gehört in die Schmuckschatulle. Kotzen ist eine Reaktion, ändern des status quo ist effektiver als kotzen. Sie kotzen nicht (mehr), sie ändern nichts. Sie werden jammern! Jammern nonplusultra, das können sie. Wenn sie sonst nichts können, werden sie jammern. Auf sog. hohem Niveau. Und sie werden Niveau nicht als Creme bezeichnen, sie stehen drüber. ??? Sie sind elitär. Und wenn das die Elite ist, dann gnade uns Allah oder seine Schwester.
Deutschland anno 2015 ist ein Disaster. Nur blinde, taube und empathielose Menschen, weit und breit. Die sich auf Aktionen/Reaktionen ein Ei braten. Eins der Eier, die es braucht. Aber das haben sie nicht, niemals. Sie haben keine Eier, nur Ego, das gepusht werden will. Kotz! Ihre Langeweile könnte sie glatt umbringen, aber sie haben twitter und facebook, um sich auszutoben... sie sind leer, sie sind leer, sie sind leer, ohne Sinn.
Wenn man das so liest, dann erhält man den Eindruck, dass Willy Wimmer mit seiner schon vor einer Weile geäußerten Einschätzung recht hat. Wenn dem so wäre, dann wäre das Ziel, mittels Nadelstichen (jederzeit mögliche und in Abständen wahrgenommene Eskalationen in der Ukraine, Flugzeugabschuss in Syrien, Luftangriff auf die Truppen der syrischen Regierung) Russland zu einer Reaktion zu verleiten, die dann wieder ein Zurückschießen rechtfertigt.
Aber das ist Spekulation. Ich mich noch daran erinnern, dass Ronald Reagen davon sprach, das "Reich des Bösen" zu vernichten, aber das war wohl eher Rhetorik, wenn auch sehr gefährliche für den Fall, dass ihn wider Erwarten jemand ernst nahm. Wollen wir also hoffen, dass das martialische Auftreten der NATO-Vertreter gegenüber Russland auch nur Rhetorik ist. Allerdings versperrt sie wohl den Weg für Diplomatie, und da ist die Vermutung von Aussie42, dass Diplomatie was für Hinterzimmer ist, in denen tatsächlich nach konstruktieven Lösungen gesucht wird, eben leider auch nur eine Spekulation.
Das gegenwärtige Verhältnis zwischen der NATO und der Türkei, insbesondere in der Syrien-Frage, schätze ich anders ein. Stoltenberg ist der Grüss-August, der für die Oeffentlichkeit den schönen Schein aufrecht erhalten soll.
Tatsächlich gibt es tiefe Differenzen. Deutschland kann es nicht Recht sein, dass die Türkei militärisch auf kurdisches Gebiet im Irak vordringt, wo die Bundeswehr in Absprache mit den USA kurdische Kämpfer ausbildet und die irakische Regierung, die man in der Region unbedingt braucht, damit zum Feind macht.
Natürlich kann der Westen nicht offen zugeben, dass sich seine Machtprojektion nach Syrien auch gegen den NATO-Partner Türkei richtet, beziehungsweise dazu gedacht ist, dessen Spielraum zu begrenzen.
Vielen Dank für diese gute Analyse und den Hinweis auf den bemerkenswerten Auftritt des Regierungssprechers.
An einem Punkt möchte ich allerdings widersprechen: die Unterstellung von Dummheit erscheint mir genauso abwegig wie die Unterstellung einer Verschwörung. Das würde ja bedeuten, dass die Entscheider nicht in Kategorien von Ursache und (wahrscheinlicher) Wirkung denken könnten bzw. nicht einmal Zugang zu Beratern hätten, die das könnten. Man darf, denke ich, bei politischen Entscheidungen schon unterstellen, dass ein Teil der Auswirkungen beabsichtigt ist, in der Regel sogar der überwiegende Teil.
Wenn z.B. der US-Regierung unterstellt wird, keinen Plan für die Zeit nach dem Überfall auf den Irak gehabt und dann "alles falsch gemacht" zu haben (M. Lüders), dann geht diese Einschätzung davon aus, dass die US-Regierung Ziele verfolgt, die man selber für erstrebenswert hält. Wenn aber das Ziel auch Regime-Changes in Syrien und im Iran waren (die von der Bush-Regierung propagierte "Domino-Theorie"), dann kann eine Destabilisierung der Region dafür durchaus hilfreich sein. Und wie das Beispiel Nigeria zeigt, ist ein "failed state" nicht unbedingt zum Nachteil rohstoffabhängiger Industrieländer.
Als viel einfachere Erklärung als Dummheit liegt nahe, dass die Entscheider eben nicht das globale Leid zu minimieren suchen, sondern ein lokales Minimum, dass sie selber am vermeintlich risikolosesten an ihrem Platz belässt.
Dass die Entscheider das globale Leid zu minimieren suchen, würde ich sicher nicht annehmen. Auch Michael Lüders geht wohl kaum davon aus.
Die US-Politik in Afghanistan und im Irak ist aber aus eigener enger Sicht fehlgeschlagen, das heisst, sie hat den Interessen der USA geschadet. Man kann natürlich behaupten, dass ein paar Firmen aus dem Umkreis von Bush und Cheney gut verdient haben, aber die meisten Machtpolitiker sind schon eitel genug, um in den Geschichtsbüchern als erfolgreich gelten zu wollen. Das war die Bush-Cheney-Politik aber aus Sicht keines Beobachters.
Ich glaube desweiteren nicht, dass sich die gegenwärtige Bundesregierung mit dieser Politik einen Gefallen tut (auch Hollande hat sich ja offenbar keinen getan).
Die Entscheider sind schlecht informiert und entweder haben sie schlechte Berater oder sie hören ihren guten Beratern nicht zu.
Zu diesem Punkt eine kleine Anekdote. Steinmeier lief vor einigen Wochen auf einer Syrien-Konferenz mit Russland mit einer gestreiften Krawatte in den Farben des Georgs-Bandes herum (und gab damit ein Fernseh-Interview), nach anderthalb Jahren Symbolkraft des Georgs-Bandes in der Ukraine-Krise.
Die Ukraine ist eines seiner grossen Dossiers (wie man das in der Schweiz nennen würde). Was weiss er von diesem Dossier? Wer berät ihn in Fragen der Symbolkraft von Kleidung und Gesten? In der Diplomatie sind solche Dinge nicht unbedeutend. Die Russen werden unter sich herzlich über Steinmeier gelacht haben. Respekt erwirbt man sich so nicht.
Am Ende gebe ich noch zu bedenken, dass sich der Westen in einer Phase des Machtverlusts befindet, objektiv und unabhängig vom Handeln der Politiker (sie haben allerdings einen Einfluss darauf, wie schnell der Machtverlust stattfindet). In einer solchen Phase gibt es nur die Wahl zwischen verschiedenen schlechten Optionen. Die Sache ist also tatsächlich nicht einfach, aber so daneben hauen, wie mit einem politisch wie militärisch undurchdachten, unpopulären und rechtswidrigen Luftwaffeneinsatz muss man dann eben doch nicht.
Hinterzimmerdiplomatie gibt es mit Sicherheit auch und tatsächlich wird es da weniger schrill zugehen als in der Oeffentlichkeit. Aber die Interessengegensätze verschwinden da ja auch nicht.
Braucht Hinterzimmerdiplomatie nicht notwendig den Glauben daran, dass die Gegenseite Abmachungen auch einhält? Darin sehe ich die vielleicht größte Gefahr der Entwicklung in den letzten zwei Jahren: die westlichen Regierungen und Medien tönen ständig, dass man der russischen Seite nicht trauen könne, und die russische Seite sollte spätestens beim Regime Change in der Ukraine gelernt haben, dass die westliche Seite Abmachungen macht in der Absicht sie zu brechen (da hat das nur wenige Tage gedauert, was schon bemerkenswert war). Die Minsker Verhandlungen und der türkische Flugzeugabschuss werden diesen Eidnruck noch verstärkt haben.
Wenn aber Konsens ist, dass Vereinbarungen nicht eingehalten werden, dann sind Vereinbarungen kaum noch möglich, und schon gar nicht geheim, d.h. wenn ein Bruch der Vereinbarung nicht einmal nachweisbar ist.
es stehen übergeordnete interessen des us-geführten westens im nahen osten, die achse russland-iran-syrien ist eine blockierende mauer und die türken haben wohl eigene ideen, wie der raum geordnet sein soll. nicht nur kurdistan ist ein schreckensbild.
die hinterzimmerdiplomatie sind wohl nur kurzfristige "waffenstillstände" und theater für die massen(medien). denn diese mauer zw. türkei/eu und dem süden (riad und co.) ist strategisch nicht hinnehmbar, dies wäre der worst case auf jahre und bedenkt, dass es nur noch 10-20 restjahre für den ölrausch gibt. danach gibts 100% alternativen.
mal wieder teile und hersche - ob der irak ernst macht und sich der "pösen" achse anschliesst? wäre wohl eine disaster für die usa, aber in jeder firma wird der chef auch mal ausgetauscht, nimmts sportlich, amis!
mir ist noch in den sinn gekommen, dass der abschuss des russ. bombers bewies, dass die russen keine AWACS-ähnliche gebietsüberwachung haben, auch deren Sat-Aufklärung ist wohl rückständig - ob sie nun dies ändern? in harpers magazine hat ein analyst aus den flugdaten der f-16 einen gezielten hinterhalt gedeutet, flogen niedrig, was ungewöhnlich für eine patroulie sei, daher zwei mal auftanken müssen, blieben aber dadurch nicht sichtbar für das radar in latakia. sie wurden höchstwahrscheinlich zum abschusswinkel beim zweiten loop der russen gelotst und tauchten wieder weg.
ich könnte kotzen, dass dieses great game nur dem öl und gas geschuldet sei.
Ich denke auch, dass in den letzten Jahren immer mehr Vertrauen verlorengegangen ist, in den internationalen Beziehungen wie auf anderen Gebieten. In den internationalen Beziehungen kann man das wohl weitgehend auf das Verhalten der USA nach ihrem Sieh im Kalten Krieg zurückführen. Man sah sich auf absehbare Zeit als die einzige Supermacht und glaubte, keine Rücksichten mehr nehmen zu müssen.
Nach dem westlichen Kesseltreiben gegen Russland im Herbst/Winter 2013/2014 und dem Putsch in Kiew hat Putin offenbar grundsätzlich entschieden, dass man dem Westen in keiner Weise trauen könne und dass nur eigene Stärke und knallharte Einflussphärenpolitik geeignet sind, Russlands Interessen zu sichern. So weit ich sehe, waren sowohl die Analyse als auch die daraus abgeleitete Strategie aus russischer Sicht richtig.
Das Problem besteht auf westlicher Seite aber nicht nur in der Aussenpolitik. Man kann sich ja auch innenpolitisch nicht darauf verlassen, dass Grundsatzentscheidungen oder gemachte Versprechen (z.B. bei der Vorratsdatenspeicherung) über längere Zeit gültig bleiben, sie gelten nach Monaten oder sogar schon nach Wochen nicht mehr.
Diese Art, aus kurzfristigen Erwägungen heraus weit reichende Entscheidungen zu treffen, die Kehrtwendungen in Bezug auf den vorherigen Konsens sind, zerstört auf die Dauer jegliches Vertrauen der politisch interessierten Teile der Bevölkerung in die Politik. Das überträgt sich dann durch die allgemeine Stimmung auch auf die nicht interessierten Teile.
Auf Marine Le Pen und Frauke Petry könnte eine grosse Zukunft warten.
mir ist noch in den sinn gekommen, dass der abschuss des russ. bombers bewies, dass die russen keine AWACS-ähnliche gebietsüberwachung haben, auch deren Sat-Aufklärung ist wohl rückständig
Dass die Russen kein AWACS-ähnliches System haben und auch ein schlechteres Satellitensystem als die USA, ist bekannt. Wie Sie das allerdings aus dem Abschuss schliessen, ist mir nicht ganz klar.
Die Türken haben bezüglich des Radars in Latakia Versteck gespielt, denn von dort aus wäre der Pilot der Su-24M vermutlich wirklich gewarnt worden. Aber im umgekehrten Fall wäre ein Pilot eines US-Flugzeugs wohl nicht auf der Basis von Satellitendaten gewarnt worden und selbst bei AWACS wäre ich in diesem Fall nicht sicher. Dazu hätten die Einsatzleitungen für die Satelliten- und AWACS-Ueberwachung schon einen Verdacht haben müssen, dass jemand die Su-24M angreifen könnte.
Für den Syrien-Einsatz bräuchte Russland wegen des kleinen Einsatzgebietes auch kein AWACS-System. Aufklärungsmaschinen mit Seitensichtradar würden wohl ausreichen und darüber verfügt Russland. Es gibt sogar eine entsprechende Variante der Su-24 (Su-24MR). Man wird so etwas aus Kostengründen nicht eingesetzt haben, weil man es nicht für nötig hielt.
Dass die Russen kein AWACS-ähnliches System haben
Das ziehe ich zurück. Die Berijew A-50 ist natürlich ein AWACS-System und das Nachfolgesystem Berijew A-100 ist in Entwicklung.
sollte heissen, die radarüberwachnung nicht im einsatz war zum zeitpunkt des abschusses, das die russen grundsätzlich eins haben ist klar. gut, eine aktive berijew a-50 hätte auch jeder dort merken können...
der rückgriff und einsatz von S400-SAMS - würde dies nicht zwingend eine AWACS-maschine voraussetzen? denn auch dieser radar ist am boden und kann kaum über den bergkamm blicken, sowohl im osten als auch im norden.
Auch wenn Sie es vielleicht schon kennen, erlaub ich mir den Hinweis auf dieses Lied, das die Ereignisse der "Ukraine-Krise" im Sinne Ihres Kommentars in antikem Pathos beschreibt.
Was die "nationalen Interessen" angeht, da gibt es ja schon eine lange Tradition auf Seiten der USA, damit alles mögliche zu begründen, insbesondere Aktivitäten in ihrem "Hinterhof". Allerdings scheint mir, dass es da einen Unterschied gibt: in den USA verstehen die Regierenden "nationale Interessen" unzweideutig als die Interessen der wirtschaftlichen Elite und vertsehen sich als deren politischer und militärischer Arm. In Russland habe ich dagegen den Eindruck, dass die Oligarchen nur still halten und die Regierung nicht Eins-zu-Eins deren Interessen wahrnimmt. Der dysfunktionale Staat unter Jelzin war für die Oligarchen, anders als für den Rest der Bevölkerung, keineswegs der worst-case. Das würde die Situation in Russland labiler machen als in den USA. Mal schauen, ob die neue Putin-Biographie von Seipel dieses Verhältnis beleuchtet (ist noch auf meiner Lese-Liste).
Nun, die S400-SAMS hätten dann einen begrenzten Wirkbereich, aber sie wären ja nicht völlig wirkungslos. Würde die NATO weiter russische Flugzeuge über Syrien abschiessen, wären damit die NATO-Flugzeuge über Syrien verwundbar. Das S400-System sperrt effektiv den syrischen Luftraum für türkische Flugzeuge, weil gerade die Türkei mit einem Vergeltungsabschuss rechnen muss.
Bezüglich eines AWACS-Einsatzes ist Russland in einer geografisch schlechteren Lage als die NATO. Die kann ihre AWACS über eigenem Territorium fliegen lassen und handhabt das normalerweise auch so. Die Radarreichweite der Berijew A-50 (1 MW Leistung, S-band, 2-4 GHz) beträgt 320 km, die Boeing E3-Sentry bringt es für tieffliegende Ziele auf 400 km, in mittleren Höhen auf 650 km. Wenn Russland über Syrien und der Türkei ein AWACS-System haben will, kann sie es nur in Latakia stationieren und über Syrien fliegen lassen. Das würde mir etwas riskant erscheinen.
es gibt genügend stimmen in der usa, die das laufen in die gleiche richtung, eben die koordination der aussenpolitik ermöglichen, sogar erzwingen. thinktanks, industrie(verbände) und politische ämter, hier wird hin und her gewechselt.
und nicht zu vergessen, die vielen unternehmen, auch NGOs, finanziert durch den us-staat oder der geheimdienste.
hab allerdings das gefühl, dass viele der durchsetzungspunkte der usa als verschwörungstheorien kursieren und von medien eher verschwiegen werden.
putin dagegen, als one-man-show, hat es deutlich schwerer gegen so einen riesen anzugehen. das grösste manko ist dann seine unersetzbarkeit.
paar gute geschichten liefert die vergangenheit z.b die bananenkriege und ein buch darüber eines dran beteligten militärs - https://en.wikipedia.org/wiki/War_Is_a_Racket.
ein blick auf die hinterhöfe dieser beiden länder offenbart eine gewisse ironie, die meisten nachbarn des russlands sind korrupte, in manchen teilen gefallene staaten...dies gibt aber auch für mexico und paar andere mehr entfernte usa-nachbarn oder deren proteges.
frieden ist schlecht für politik oder indusrie einer "grossmacht"
riskant - fürs politische oder militärische geschehen?
die Awacs nicht einzusetzen ist auch riskant. auch wenn es für eine eskalation sprechen spricht.
lt nachrichten haben die russen die bombardierung intensiviert, wohl um ein schnellen abschluss zu erreichen. bevor alle nato-staaten auch im syrischen topf landen.
ob putin zu weihnachten "habe fertig" verkündet?
Ich sehe eher ein militärisches Risiko als ein politisches, nämlich dasjenige eines "versehentlichen" Abschusses der AWACS-Maschine. In der Folge wäre das dann natürlich auch ein politisches Risiko, denn wie wollte Russland reagieren, ohne einen begrenzten Luftkrieg mit der NATO anzufangen, den es als begrenzten Luftkrieg nicht gewinnen könnte?
Bezüglich des politischen Risikos, den Westen zu stark zu reizen, denke ich, dass Putin Anfang März 2014 eine Grundsatzentscheidung getroffen hat, sich dem Westen gegenüber bis auf Weiteres nicht mehr auf Abmachungen zu verlassen, sondern nur noch auf knallharte Machtpolitik. Diese Entscheidung ist aus russischer Sicht unter strategischen Gesichtspunkten auch richtig gewesen. Auf Abmachungen mit dem Westen konnte Russland sich ganz offensichtlich nicht verlassen und die Machtoptionen des Westens hatten sich verengt, gerade in der Ukraine-Krise, und es war zu erwarten, dass sie sich angesichts der desolaten innenpolitischen Lage in den USA (fast vollständige gegenseitige Blockade der Demokraten und Republikaner und unversöhnliche Gegensätze innerhalb der republikanischen Mehrheitsfraktion) weiter verengen würden.
Das ist im Wesentlichen auch so eingetreten und deshalb müssen jetzt die "Germans to the front" (und natürlich die Franzosen und Briten).
Ich denke, Russland kann auch ohne die AWACS hinreichend Macht projizieren, um Verhandlungen zu erzwingen, welche die russische Position im Nahen Osten und insgesamt verbessern werden. Dafür gibt es ja starke Anzeichen.
In Syrien wird es keinen Sieg der Russen oder des Westens geben. Hier wird gegenwärtig um Gewicht in der Anti-IS-Koalition gekämpft und damit um Einfluss in demjenigen Teil Syriens, den der IS nicht beherrscht und aller Voraussicht nach auch nicht wird erobern können.
bemerkenswerte einsicht, ein russ. awacs würde eine eskalationspiralle auslösen, daher verzichten die russen bewusst drauf. das ist doch eines irren iwans nicht würdig ;)
übrigens haben die türken ihre KORALs (HX77 KORAL Electronic warfare) aufgestellt, was ich als antwort auf die s400 deute. als quelle twitter via http://offiziere.ch/?p=24993
türkei ist ja kein einheitsblock, es gibt wohl mehrere stimmen um erdogan. herum.. daher meine überlegung, basierend auf putins interview der ledtzten tage. es gab vor dem abschuss des su-24 gespräche zw. russen und türken, die sehr sensible interessen betrafen. nun putin war ganz der "gentleman" und verriet keine details... seis drum.
ich hab immer noch bauchschmerzen, was für eine "interessengeleitete" überlegung für einen abschuss der russ. maschine in frage käme....es ist in der jüngsten geschichte einzigartig...
kann es sein dass erdogan sein eigenes militär mit dem abschuss der russischen maschine isolieren wollte? das türkische militär
war ja lange zeit die stimme der "vernunft" im ego/islam-wahn der jeweiligen regierung. nun sind die isoliert, ist meine schlussforgerung....ich freu mich auf Eure antworten :)
Um das verstehen, muss man wohl die Vorgeschichte mit dem Abschuss einer türkischen Phantom F-4 am 22. Juni 2012 durch Syrien kennen. Die Aufklärungsmaschine war einige Minuten durch den syrischen Luftraum geflogen und wurde danach, wohl über internationalem Luftraum, abgeschossen. Ein türkischer Politiker hat damals versucht, den Abschuss Russland zuzuschreiben und die syrische Opposition hat am 22. September 2012 angebliche Geheimdokumente an den Sender Al Aarabiya weitergegeben, nach denen der Abschuss in Koordination mit der russischen Marinebasis in Tartus erfolgt sein soll. Die Piloten hätten den Abschuss überlebt, die russische Führung habe aber geraten, sie zu eliminieren und danach wieder an die Absturzstelle in internationalen Gewässern zu verbringen. Der Abschuss der russischen Su-24M einschliesslich der Schüsse auf einen Piloten am Fallschirm (das ist völkerrechtlich verbotener Mord, Artikel 42 des Protokolls 1 von 1977 zur Genfer Konvention) durch mit der Türkei verbundene turkmenische Rebellen ist dem von der syrischen Opposition über den F-4-Abschuss verbreiteten Szenario derart ähnlich, dass man mit Sicherheit darauf schliessen kann, dass das türkische Militär diesen Abschuss als Retourkutsche geplant hat. Das gilt unabhängig davon, ob russisches Militär am 22. Juni 2012 tatsächlich in irgendeiner Weise in den F-4-Abschuss involviert war.