Crème catalane

Politikunfähigkeit In und an Katalonien zeigt sich einmal mehr das Scheitern der politischen Klasse in den westlichen Ländern.

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Es war am 12. Juni 2016. Ich saß auf der Terrasse des kleinen Restaurants gleich oberhalb des Grand Hôtel in Molitg-les-Bains in den französischen Pyrenäen. Nach 1200 Höhenmetern auf dem Reiserad im Vorgebirge und einem Teller voller Tapas und kleiner Steaks hatte ich noch Appetit auf eine Crème brûlée. Molitg liegt eine Autostunde von der spanischen Grenze entfernt und die Speisekarte war auf Französisch verfasst. Gleichwohl gab es hier statt der Crème brûlée eine Crème catalane. Als sie kam, war sie mit einem gelb-rot gestreiften Band verziert. Das konnte eigentlich nur als eine politische Demonstration verstanden werden.

Auf dem Verdauungsspaziergang fiel mir dann auf, was ich zuvor übersehen hatte. Viele der Autos mit den lokalen französischen Kennzeichen hatten ein gelb-rot gestreiftes Wappen am Heck und nicht wenige zusätzlich ein „Länderkennzeichen“ CT. Seit jenem Abend weiß ich, dass ein nicht unbeträchtlicher Streifen Kataloniens in Frankreich liegt.

Entlang der Pyrenäen fuhr ich in den nächsten Tagen zumeist auf französischen Straßen, aber ich übernachtete auch einmal in Bossòst auf der spanischen Seite, ohne den Hauptkamm gekreuzt zu haben. Den letzten Fahrtag begann ich in St. Jean Pied de Port im französischen Baskenland, passierte auf dem Col d'Ispéguy die Grenze zu Spanien ohne das Baskenland zu verlassen und 30 Kilometer und einen Pass später in Dancharia wieder diejenige nach Frankreich, auch das, ohne das Baskenland zu verlassen. Am Ruhetag zum Abschluss in Bayonne erfuhr ich im Geschichtsmuseum, wie die Grenzziehung in den Pyrenäen 1659 zustande kam, nach einem 24jährigen Krieg zwischen Frankreich und Spanien, in dem sich die Katalanen erst von der spanischen Krone abgewandt und nach Erfahrungen mit den französischen Besatzern dieser wieder zugewandt hatten. Ob diejenigen, welche damals die Grenzziehung verhandelten, etwas von der Topographie der Gegend verstanden, entzieht sich meiner Kenntnis – wenn man von Frankreich nach Bossòst fährt, zweifelt man daran. Sicher ist allerdings, dass die Belange der Katalanen und Basken keine Rolle spielten.

Derartige Verwicklungen gibt es in Europa viele. Nachdem die Serben 1389 auf dem Amselfeld (Kosovu) nahe Priština das osmanische Heer geschlagen hatten, waren die Albaner auf Jahrhunderte getrennt. Nach Eintritt des Waffenstillstands am Ende des 1. Weltkrieges überrannte das italienische Heer die österreichischen Gebirgsstellungen, die es während des ganzen Krieges nicht hatte überwinden können, und besetzte Südtirol bis zum Alpenhauptkamm. Elsass-Lothringen gehörte seit 870 zum Ostfränkischen Reich und später zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, wurde 1552 von protestantischen Landesfürsten zum Zwecke der Bündnisbildung an Frankreich verkauft und verblieb dort bis zur Deutschen Reichsgründung 1871, nachdem Frankreich einen Krieg gegen Preußen verloren hatte. Frankreich nahm es 1918 wieder an sich.

Manche dieser Probleme, wie etwa dasjenige des Kosovo, wurden später durch Gewalt nach dem Recht des Stärkeren „gelöst“. Das war regelmäßig mit hohen menschlichen Verlusten verbunden und es war nie eine Lösung, weil die unterlegene Seite nur auf den Tag wartet, an dem sie die stärkere sein wird. Gegenwärtig wartet man in Kiew auf die Schwächung der Separatisten im Donbass. Nicht wenige der Probleme wurden durch das Wunder gelöst, das wir heute EU nennen und das auf der Erkenntnis hochintelligenter französischer Politiker nach dem 2. Weltkrieg beruht, dass die Schwächung Deutschlands nicht ewig dauern werde und auf dem Interesse der Westalliierten, den größeren Teil Deutschlands in ihr Bündnis einzubeziehen. Was immer die politischen Beweggründe der Anfangsjahre waren, die Aussöhnung Frankreichs mit Deutschland und die später von Brandt betriebene Aussöhnung der Bundesrepublik mit Polen wirkten beispielhaft und führten zu einer langen Periode des Friedens in Europa. Abgesehen von begrenzten sowjetischen Militäraktionen in Ungarn 1956 und in der Tschechoslowakei 1968 wurde diese Periode erst beendet, als Slowenien und Kroatien unter Bruch der Verfassung Jugoslawiens ihre Unabhängigkeit erklärten und am Zerfall Jugoslawiens interessierte Länder, allen voran Deutschland, diese eilig anerkannten. Inzwischen sieht es so aus, als ob die EU selbst die Kraft haben könnte, die Wunden des Jugoslawienkrieges zu heilen, so wie sie zur Beruhigung der Lage in Nordirland beigetragen hat.

Die Beispiele Nordirlands und Südtirols zeigen aber auch, dass die heilende Kraft der EU erst wirken kann, wenn die Zentralregierung ihr Teil getan hat. Nachdem die IRA nicht in den Griff zu bekommen war und nachdem in Südtirol immer wieder Sprengladungen Strommasten fällten, erkannten einige Politiker, dass es nicht ausreicht, Gewalttäter zu verfolgen, man muss auch die Ursachen beseitigen, derentwegen sich die Gewalttäter einer gewissen Unterstützung durch die Bevölkerung sicher sein dürfen. Spanien selbst hat das im Baskenland erkannt. Und man muss eine gewisse Gelassenheit an den Tag legen. Auf meiner diesjährigen Radtour kam ich im Passeiertal auf dem Weg zum Timmelsjoch an dem Haus vorbei, an dem schon seit Jahren in riesigen Lettern steht: „Südtirol ist nicht Italien“. In dunkleren Jahren hätte der Hausbesitzer großen Ärger bekommen und die Inschrift wäre übertüncht worden. Aber eine Inschrift ist kein gesprengter Strommast und die italienische Regierung hat das begriffen. Italiener machen gern Ferien in dem Teil ihres Landes, in dem es Pizza Würstel und Pizza Speck gibt und wo die Ravioli Schlutzkrapfen heißen. Es geht schon, aber Südtirol ist eben auch mit steuerlichen Vorteilen gekauft worden. Katalonien hat solche nicht.

Der Fall Kataloniens zeigt, dass die heutige politische Klasse nicht mehr das Veranwortungsgefühl derjenigen vorheriger Generationen hat. Natürlich lässt sich einwenden, dass in Spanien unter Franco alles viel schlimmer war. Aber ich will hier von dem reden, was die Politiker westlicher Länder nach dem 2. Weltkrieg gelernt hatten und in Spanien Ende der 1970er Jahre und was sie seit 1989 zu verlernen scheinen. Ich war im Falle Jugoslawiens gegen eine Unabhängigkeitserklärung unter Verfassungsbruch und ich bin auch im Falle Kataloniens dagegen. Wenn man sich schon trennen muss, dann bitte nach Gesprächen und in gegenseitigem Einvernehmen über die Bedingungen, so wie es die Tschechen und Slowaken getan haben. Wobei ich nicht denke, dass sie sich hätten trennen sollen oder dass sich die Katalanen und Spanier trennen sollten. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille.

Sich nämlich hinter dem Buchstaben der Verfassung zu verschanzen und zu sagen: „Wir ändern gar nichts, weil Ihr sowieso nichts machen dürft und wenn Ihr doch was macht, dann schlagen wir Euch halt zusammen.“ ist auch nicht besser als Verfassungsbruch. Wir wissen seit einer Woche, dass mindestens 37,85% der wahlberechtigten Katalanen bereit sind, in einem Referendum für eine Unabhängigkeitserklärung zu stimmen (42% Wahlbeteiligung und 90% Zustimmung). Die Zahl tatsächlicher Unabhängigkeitsanhänger könnte noch höher liegen, weil die äußeren Umstände der Abstimmung treffend als eine Einschüchterung durch die Zentralregierung beschrieben werden können. Wenn die Dinge sich so weit entwickelt haben, kann man nicht weitermachen wie bisher und jeder Politiker mit Restverstand sollte das begreifen können.

Nun ist ein Referendum über eine Frage, die laut Verfassung nicht steht, mehr als eine Inschrift an einer Hauswand. Zugleich aber ist es weniger als ein gesprengter Strommast, zumal die Regierung in Madrid sicher sein kann, dass kein EU-Land die Unabhängigkeit Kataloniens anerkennen wird und die katalanische Regierung gar keine Mittel hat, diese in praktische Politik umzusetzen. Auf eine Symbolhandlung ist mit realer Gewalt geantwortet worden, was die Situation nur verschärfen und den Unabhängigkeitswillen stärken konnte. Der spanische König, der die Lage hätte beruhigen können, hat sie durch eine einseitige Rede noch weiter verschärft. Offenbar sind Madrid und Barcelona allein nicht in der Lage, das Problem zu lösen.

Was machen die EU-Institutionen in dieser Situation, die für den inneren Zusammenhalt der EU und ihre wirtschaftliche Stabilität kritisch ist? Nichts. Wenn EU-Vertreter sich überhaupt positionieren, dann einseitig zugunsten Madrids, was einer Problemlösung sicher nicht förderlich ist. Man beruft sich auf die Rechtsstaatlichkeit. Das überrascht, denn die Einhaltung von Regeln haben wir in den letzten Jahren in der EU gerade nicht beobachten können. Das geht so weit, dass zwei Staaten offen Beschlüsse der EU boykottieren und dabei bleiben, nachdem sie einen Rechtsstreit vor dem Europäischen Gerichtshof verloren haben, ohne dass es irgendwelche Sanktionen gibt. Dort und bei Haushalts- und Bankregeln geht politische Opportunität vor Rechtlichkeit. Im Falle Spaniens und Kataloniens, wo es einen Mittelweg gäbe, der das Problem ohne Rechtsbruch entschärft, wollen die EU-Institutionen nicht einmal vermitteln.

Nein Freunde in Brüssel, es ist eben kein innerspanisches Problem mehr. Wenn Ihr das wirklich glauben solltet, seid Ihr in Euren Ämtern so fehl am Platze, wie Frau Özoğuz in dem ihren. Frau Özoğuz darf natürlich die unhaltbare Behauptung aufstellen, es gäbe jenseits der Sprache keine identifizierbare deutsche Kultur. Sie darf das auch öffentlich. Es ist von der Meinungsfreiheit gedeckt und Herr Gauland überschreitet die Grenzen intelligenter Polemik, wenn er sie deshalb nach Anatolien verfrachten will. Nur ist diese Meinung eben mit dem Amt einer Integrationsbeauftragten der Bundesregierung absolut unvereinbar und ich verstehe nicht, dass sie es immer noch ausüben kann. Falls es demnächst doch zu einer Regierungsneubildung kommt, wird sich das Problem allerdings von allein lösen, da sie ja SPD-Mitglied ist. Entschuldigen Sie bitte die Abschweifung, oder ist es vielleicht gar keine?

Was die politische Klasse nicht begreift, ist Folgendes. Jenseits der rationalen Vorteile von Internationalität, von großen Staaten und multikulturellen Umgebungen gibt es eine gefühlsmäßige Verankerung von Menschen in der Kultur, in der sie aufgewachsen sind. Diese Verankerung lässt sich durch keinerlei Volkserziehung durch Staatsmedien (aber ja doch) und durch keinerlei rationale Argumente lösen und es wäre auch gar nicht gut, sie zu lösen. Mit dem Spannungsfeld zwischen nationalen und lokalpatriotischen Gefühlen einerseits und dem globalen Dorf andererseits muss man leben, und wenn Ihr das nicht könnt in Brüssel, dann habt Ihr nichts an der Spitze unserer EU zu suchen. Ach, Ihr glaubt, es sei Eure EU? Das sehe ich und genau das ist das Problem. Wenn es Eure ist, ist es nämlich nicht unsere und wenn es nicht unsere ist, wird sie früher oder später zerfallen. Das wollen wir nicht und das könnt auch Ihr nicht wollen. Ihr müsst wieder lernen, in Brüssel wie in Berlin, in Madrid wie in Barcelona, dass Ihr für uns da seid, nicht wir für Euch. Sonst wählt Euch doch andere Völker.

Das heißt übrigens nicht, dass Ihr uns nach dem Munde reden sollt. Das tut Ihr eher schon zu viel. Es heißt aber, dass Ihr uns zuhören und unsere Argumente abwägen sollt, ehe Ihr entscheidet. Es heißt, dass Ihr unser Wohl und unsere Zukunft im Auge haben solltet, statt Eure Ideologie, Eure kurzfristigen Wahlaussichten und die Interessen Eurer Freunde in den oberen Etagen der Gesellschaft, die nur eine kleine Schicht sind. Wenn wir das sehen, werden wir Euch auch wieder wählen- vorher nicht. Wenn Ihr glaubt, Ihr wisst und könnt schon alles, solltet Ihr Eure Ämter an diejenigen abgeben, die noch etwas lernen wollen. Nicht wahr, Frau Merkel?

Gibt es nun eigentlich einen Unterschied zwischen Crème brûlée und Crema catalana, jenseits des gelb-roten Bandes? Aber ja doch. In eine Crema catalana gehört etwas Zitronenschale und etwas Zimt, in eine echte Crème brûlée nur Vanilleextrakt. Die Crema catalana hat eine lange Tradition, die Crème brûlée ist eher kein Klassiker der französischen Küche, sondern hat sich erst in den 1980er Jahren weiter verbreitet. Und ja, eine traditionelle Crema catalana hat gar keine karamelisierte Zuckerschicht. Die hat sie erst später erworben, vermutlich per grenzüberschreitender Kreuzbefruchtung durch die französische Crème brûlée, einfach weil die Karamelschicht das Tüpfelchen auf dem i ist. Damit ein kleiner Unterschied bleibt, wird die Crema catalana mit einer anderen Technik karamelisiert. Auch aus dieser Geschichte kann man etwas lernen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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